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IMI-Analyse 2012/008 - in: AUSDRUCK (Juni 2012)

Weder „Smart“ noch „Defense“, sondern ein Wunschkonzert als Strategie

Zur Erklärung des NATO-Gipfels in Chicago

Christoph Marischka (23.05.2012)

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Zu den konkretesten Forderungen der Zehntausenden, die in Chicago gegen den NATO-Gipfel protestierten, gehörte der Abzug der NATO aus Afghanistan. Dieser Krieg war 2001 von den USA mit unklarer Zielsetzung begonnen worden und unter dem Eindruck der Anschläge vom 11. September folgten ihnen die NATO-Verbündeten in diesen Krieg. Nach über zehn Jahren Krieg sind die strategischen Ziele und Aussichten der NATO in Afghanistan unklarer denn je und immer mehr Mitgliedsstaaten ziehen sich bereits zurück oder kündigen dies an. Nach der Wahl Hollandes zum französischen Präsidenten wird sich dieser Prozess absehbar beschleunigen. In diesem Kontext hatte die NATO im vergangenen Jahr auf britische und französische Initiative gegen Libyen einen weiteren Krieg begonnen, der von Anfang an nicht auf der Zustimmung aller Mitgliedsstaaten fußte. Deutschland hatte der zugrunde liegenden UN-Resolution sogar seine Zustimmung verweigert, später aber doch Soldaten in die NATO-Führungsstäbe entsandt. Das Ergebnis dieses Krieges ist ein weiterer „gescheiterter Staat“ und eine Destabilisierung der gesamten Großregion. Die Niederlage in Afghanistan und der Scheinerfolg in Libyen hätten ein Anlass sein können, auf dem NATO-Gipfel klare strategische Prioritäten festzulegen und sich über zukünftige Entscheidungsprozesse Gedanken zu machen. Dazu aber scheint die NATO nicht in der Lage und heraus kam das genaue Gegenteil.

Strategische Unbestimmtheit
Die zu behandelnden Themen und zu verhandelnden Positionen waren bereits lange bekannt und trotzdem lässt das gemeinsame Abschlussdokument zum Treffen des Nortatlantikrates die sonst für Strategiedokumente und Gipfelerklärungen charakteristische klare Struktur vermissen. Stattdessen ließt es sich eher wie ein Wunschkonzert, in dem man alle Bedürfnisse befriedigen und auf nichts verzichten will.
Tatsächlich will die NATO alles: Sie begrüßt die Ausweitung der NATO-Operation Ocean Shield zur Bekämpfung der Piraterie, will ihre logistische Unterstützung für die AMISOM in Somalia ausweiten und neue Optionen für die Anti-Terror-Mission Active Endeavour prüfen. Sie betont die sicherheitspolitische Relevanz der Ressourcenknappheit, der Gesundheit und des Klimawandels und will mehr Gewicht auf die Energiesicherheit und Cyber-Security legen. Sie will am Krieg gegen den Terror festhalten und ihre Zusammenarbeit mit der UNO ausbauen. Sie will sparen und trotzdem ihre Kapazitäten ausbauen, aus Afghanistan abziehen und trotzdem vor Ort bleiben, eine bessere Zusammenarbeit mit Russland und trotzdem an ihrer Erweiterungspolitik und dem Ausbau des Raketenschildes festhalten. Sie will ein Bündnis der Demokratien sein und ihre Zusammenarbeit mit den Monarchien am Golf und Libyen ausbauen. Besonders widersprüchlich wird es beim Thema Atomwaffen: Bezieht sich das Abschlussdokument gegenüber dem Iran und Korea noch auf die Vision einer „Welt ohne Atomwaffen“,(1) heißt es nur wenige Absätze später, dass man zur Verteidigung und Abschreckung an einem „angemessenen Mix aus nuklearen und konventionellen Kapazitäten und der Raketenabwehr“ festhalten wolle. An anderer Stelle wird noch einmal unterstrichen: „Raketenabwehr kann die Rolle nuklearer Waffen bei der Abschreckung ergänzen, sie aber nicht ersetzen“. Wer hingegen deutliche Ansagen dazu erwartet, auf welche Entwicklungen im Iran, in Syrien und Korea die NATO mit welchen Mittel zu reagieren erwägt, bleibt enttäuscht. Zu Syrien findet sich ein einziger Satz in der Erklärung, wonach die NATO die Bemühungen der UN und der Arabischen Liga sowie die vollständige Umsetzung des Annan-Plans unterstützt. Eine Evaluation der Entscheidungsfindung vor und der Folgen des Libyen-Krieges bleibt aus, über das Dokument verteilt finden sich lediglich vereinzelte Schlussfolgerungen, die man aus dieser „erfolgreichen Operation“ lernen könne, bei der „die Allianz eine entscheidende Rolle dabei gespielt hat, die Zivilbevölkerung zu schützen und tausende von Leben zu retten“: Insbesondere hätte sich die enge Zusammenarbeit mit der UN und die „flexible“ Kooperation mit regionalen Partnern bewährt.

Flexible Partnerschaften
Überhaupt erscheint „Flexibilität“ als einer der zentralen Begriffe des Dokuments. Besonders gilt das für die Partnerschaften. Mehrfach wird betont, wie viele Nicht-Nato Staaten am Gipfel teilgenommen hätten und sich an gemeinsamen Operationen beteiligten. Begrüßt wurde auch die im April 2011 in Berlin beschlossene „effizientere und flexiblere Partnerschaftspolitik“. Dabei wird an der Beitrittsperspektive für Mazedonien, Montenegro, Bosnien und Herzegowina und – strategisch am bedeutendsten und gefährlichsten – Georgiens festgehalten, während weiteren „europäischen Demokratien, welche die Werte der Allianz teilen“ ebenfalls eine Mitgliedschaft angeboten wird. Begrüßt wird auch die bessere Zusammenarbeit der Ukraine und Serbiens mit der NATO sowie die Partnerschaft mit Russland und den zentralasiatischen Staaten in Bezug auf Afghanistan. Daneben sollen insbesondere der Mittelmeerdialog (MD) mit den nordafrikanischen Staaten, Mauretanien, Jordanien und Israel und die Istanbuler Kooperationsinitiative (ICI) in ihrer Scharnierfunktion zum Golfkooperationsrat gestärkt werden. Bei beiden handelt es sich um hochgradig „flexible“ Mechanismen, die keinerlei Sicherheitsgarantien oder ähnliches umfassen, in deren Rahmen jedoch die Gipfelerklärung vor dem Hintergrund des gemeinsamen Vorgehens in Libyen und des „präzendenzlosen Wandels“ in der Region „individualisierte Programme“ etwa zur Modernisierung der Streitkräfte und beim Aufbau neuer militärischer Fähigkeiten anbietet. Entsprechende Angebote werden darin auch Libyen unterbreitet, dessen „Interesse an einer Vertiefung der Beziehungen zur Allianz“ ausdrücklich begrüßt wird.

Kosovo und Afghanistan
Mehr Flexibilität wünscht sich die NATO auch gegenüber den „Partnern“, die sie bislang noch durch die Präsenz von Bodentruppen „unterstützt“, den Kosovo und Afghanistan. So hält die Erklärung fest, dass man im Kosovo das Ziel einer „kleineren und flexibleren abschreckende Präsenz“ verfolgt, unterstreicht jedoch zugleich, dass die augenblickliche Sicherheitssituation dies noch nicht erlaube. Vor diesem Hintergrund erscheint die im Dokument mehrfach aufgestellte und vor dem Hintergrund seiner sonstigen Unbestimmtheit auffallende Behauptung, wonach es sich beim (westlichen) Balkan um eine „strategisch wichtige“ Region handle, eher wie eine Durchhalteparole.
Wo es um Afghanistan geht, zeigt sich die NATO v.a. begrifflich flexibel. Die ISAF ist sowohl vom Namen, als auch vom Mandat des UN-Sicherheitsrates her formal eine Mission zur „Sicherheitsunterstützung“ und wurde etwa vor zwei Jahren noch in der Abschlusserklärung des NATO-Gipfels in Lissabon(2) und in dem dort unterzeichneten Abkommen zwischen der NATO und Afghanistan lediglich als solche bezeichnet. Von einem Kampfeinsatz war in beiden Dokumenten keine Rede. Ganz anders verhält es sich in der Erklärung von Chicago: Dort wird in Aussicht gestellt, dass die ISAF ab Mitte 2013, wenn die Sicherheitsverantwortung in den letzten Provinzen formal an die afghanischen Sicherheitskräfte übergeben wird, „vom primären Fokus auf den Kampfeinsatz zunehmend zur Bereitstellung von Training, Beratung und Unterstützung übergehen wird“. 2014 dann soll der „NATO-geführte Kampfeinsatz enden“ und durch einen neuen NATO-Einsatz abgelöst werden, dessen Planung das Abschlussdokument von Chicago gleich in Auftrag gibt. Dabei soll es sich jedoch um eine „Mission anderer Natur“ handeln, „um die ANSF [Afghanischen Sicherheitskräfte], einschließlich der Afghanischen Spezialkräfte, zu trainieren, zu beraten und zu unterstützen. Dies wird kein Kampfeinsatz sein.“ Wie gesagt: Bevor die USA und den anderen NATO-Staaten u.a. von den protestierenden und auch wählenden Massen dazu gezwungen wurden, den ISAF-Einsatz zu beenden und sie stattdessen einen Einsatz „anderer Natur“ propagieren mussten, hat es sich auch bei ISAF nie um einen Kampfeinsatz, sondern um eine Mission zur Sicherheitsunterstützung gehandelt.
Und dennoch wird sich etwas ändern: die großen Kontingente werden abgezogen, die Präsenz der Besatzungssoldaten in der Fläche wird reduziert. Das internationale „Engagement“ in Afghanistan wird sich weg von parlamentarisch halbwegs kontrollierten großen Truppenstationierungen weiter in den eher geheimdienstlichen Bereich der Drohnenangriffe, Kommandoaktionen und dubioser Haushaltsposten verlagern. Die Präsenz in der Fläche soll durch die von der NATO und ihren Partnern ausgebildeten und ausgerüsteten Sicherheitskräfte gewährleistet werden, die zwar nicht die Verantwortung im Sinne der Entscheidungsfindung, wohl aber den Unmut der Bevölkerung auf sich ziehen sollen. Gründe für diesen Strategiewechsel sind nicht nur der Druck der Straße und der Wähler, sondern auch die Kosten. Gegenüber der Stuttgarter Zeitung räumte NATO-Generalsekretär Rasmussen in diesem Kontext unverblümt ein: „Natürlich ist es billiger, afghanische Kräfte zu finanzieren, als eigene Truppen zu entsenden.“(3) 350.000 afghanische Soldaten und Polizisten sollen 2014 die Aufgaben der ISAF übernehmen. Umsonst ist das auch nicht, die Kosten für ihren Unterhalt übersteigen den afghanischen Gesamthaushalt. Deshalb enthält das Abschlussdokument von Chicago auch die eindringliche Aufforderung an die „internationale Gemeinschaft, sich dem langfristigen Unterhalt der ANSF zu verpflichten“.

Weder „Smart“ noch „Defense“
Das rüstungspolitische Pendant zu solchen „Sparanstrengungen“ ist die so genannte „Smart Defense“, die in der Berichterstattung über den NATO-Gipfel viel Raum einnimmt, im Abschlussdokument jedoch eine bemerkenswert kleine Rolle spielt. Das ist durchaus nachvollziehbar, denn tatsächlich handelt es sich bei der Smart Defense (ebenso wie beim Raketenschild) um ein gewaltiges Aufrüstungsprogramm in Zeiten knapper Kassen. Als konkretes Beispiel wird im Abschlussdokument lediglich die NATO-Mission zur Luftraumüberwachung im Baltikum genannt, die es den Staaten dort ermöglicht, auf eigene Abfangjäger zu verzichten und stattdessen in andere Kapazitäten zu investieren, welche in gemeinsamen NATO-Einsätzen gebraucht werden. Bernd Riegert von der Deutschen Welle zitiert in diesem Zusammenhang einen Staatssekretär des lettischen Verteidigungsministerium, der vorrechnet, „dass der Verzicht auf die eigenen Jäger das Geld für Spezialkräfte freisetzt“: „Wir erhöhen unsere Kooperationsfähigkeit und haben gleichzeitig Kräfte frei, die wir für die NATO-Operationen einsetzen können…“.(4) Neben der Luftraumüberwachung taucht der Begriff „Smart Defense“ lediglich im Kontext der euro-atlantischen Partnerschaft auf. Demnach sei er komplementär zum EU-Konzept des „Pooling & Sharing“. Entsprechend heißt es dazu in der Erklärung: „wir begrüßen die Anstrengungen der EU, besonders in den Bereichen der Luftbetankung, der medizinischen Unterstützung [im Einsatz], der Seeraumüberwachung und der Ausbildung“. Der Presse ist zu jedoch zu entnehmen, dass insgesamt über 20 Rüstungsprojekte im Rahmen der „Smart Defense“ abgesegnet wurden.(5) Um welche Projekte es sich dabei handelt, hat die NATO bislang nicht veröffentlicht, Abgeordneten des Bundestages wurde auf Nachfrage eine entsprechende Liste vorgelegt, diese jedoch als Verschlussache deklariert. Neben den genannten EU-Projekten konzentriert sich die Berichterstattung auf das Projekt „Alliance Ground Surveillance“ (AGS) „zur Überwachung von Truppenbewegungen auf feindlichem Gebiet“, wie Bernd Riegert berichtet und ergänzt: „Die Kosten von fünf Milliarden Euro [die sicherlich noch steigen werden] kann sich kein NATO-Staat alleine leisten.“(6) Worum es sich bei den übrigen beschlossenen Projekten handelt, ist wie gesagt noch nicht vollständig bekannt, Bernd Riegert jedoch berichtet u.a., die NATO wolle „[f]erngesteuerte Roboter zur Bekämpfung von Sprengfallen und Bomben … gemeinsam kaufen“,(7) an anderer Stelle ist auch von Marschflugkörpern die Rede.
Dass die NATO in ihrer offiziellen Erklärung die Anschaffung so genannter „Wirkmittel“ eher unterschlägt und stattdessen Aufklärung, Luftbetankung und medizinische Unterstützung thematisiert, ist nicht ungewöhnlich, täuscht jedoch nur vordergründig über die offensive Ausrichtung dieser Kapazitäten hinweg. So ist etwa die Luftbetankung eine Fähigkeit, auf die eine defensiv ausgerichtete Armee getrost verzichten kann, da sie v.a. bei out-of-area-Einsätzen von Relevanz ist, bei denen nicht einmal in der unmittelbaren Nachbarschaft des Einsatzgebietes Verbündete ausreichende Luftwaffenstützpunkte zur Verfügung stellen (etwa im Falle eines israelischen Angriffs auf den Iran). Ähnliches gilt bei genauerer Betrachtung für die genannten Projekte zur maritimen Aufklärung, die AGS und die medizinische Einsatzunterstützung. Es ist keineswegs zufällig, dass das „Pooling & Sharing“ der EU bislang mit dem strategischen Lufttransport (Europäisches Lufttransportkommando)(8) am weitesten entwickelt und sich auch die „Smart Defense“ der NATO auf offensive Kapazitäten konzentriert. Militärische Kapazitäten, die für die „nationale Verteidigung“ als notwendig erachtet werden, werden auf absehbare Zeit weiterhin unter nationaler Verantwortung und – soweit möglich – mit der nationalen Rüstungsindustrie verwirklicht werden. Das Beispiel der baltischen Staaten ist dabei irreführend: Mit ihren Einwohnerzahlen zwischen einer und drei Millionen Menschen und einem Bruttoinlandsprodukt von jeweils deutlich unter 50 Mrd. US$ wäre keiner dieser Staaten im Stande, eine eigene nennenswerte Luftwaffe oder Offensivkapazitäten zu unterhalten. Auf der anderen Seite zeugt die Reform der deutschen Streitkräfte mit ihrem Ziel der „konsequenten Ausrichtung auf den [Auslands-]Einsatz“(9) davon, wie wenig heute noch mit einer tatsächlichen militärischen Bedrohung gerechnet wird. Daraus ergeben sich theoretisch beträchtliche Einsparungspotentiale bis hin zur vollständigen Abrüstung. Die langfristig und offensiv ausgerichteten Projekte im Rahmen des „Pooling & Sharing“ bzw. der „Smart Defense“ zielen gerade darauf ab, selbst unter wachsendem Druck der unter Sozialabbau leidenden Bevölkerungen diese Einsparpotentiale nicht zu realisieren, sondern in die (gemeinsame) Entwicklung von Offensivkapazitäten umzulenken. In der Rede des EU-Ratspräsidenten van Rompuy zum NATO-Gipfel formulierte er das so: „Europa gibt nach wie vor 200 Mrd. Euro jährlich für Verteidigung aus. Das ist eine bemerkenswerte Summe, aber sie muss effektiver eingesetzt werden und bessere Ergebnisse erzielen“.(10)

Demokratieabbau
So, wie im Zuge der „Pooling & Sharing“-Debatte innerhalb der EU die Idee einer EUropäischen Armee eine neue Konjunktur erlebt, wird auch in der Abschlusserklärung von Chicago das „Ziel einer NATO Force 2020“ erneut unterstrichen. Bei beiden soll es sich um flexibel kombinierbare Interventionstruppen handeln, in deren strategischer Ausrichtung die „Verteidigung“ keine nennenswerte Rolle spielt. Doch wie funktioniert eine Armee, deren Einsatz an 28 (NATO) bzw. 27 (EU) Parlamenten scheitern kann? Eine solche Armee funktioniert gar nicht und erst recht nicht so, wie es sich die NATO vorstellt: schnell, effektiv und komplex. Die flexiblen Partnerschaften (gerade mit weniger demokratischen Staaten), die neue Strategie in Afghanistan und die Modelle Libyen und Somalia stellen eine Reaktion auf dieses Problem dar: Natürlich ist es nicht nur „billiger, afghanische Kräfte zu finanzieren, als eigene Truppen zu entsenden“ (Rasmussen, s.o.), man kann somit auch die parlamentarische Kontrolle umgehen und vermeidet (offizielle) Opfer auf der eigenen Seite. Neben der Unterstützung für die Rebellen (unter denen sich Kindersoldaten befanden) in Libyen ist hierfür die angestrebte Ausweitung des strategischen Luft- und Seetransportes für die AMISOM in Verbindung mit der Ankündigung, „weitere Anfragen der AU [Afrikanischen Union] zur Ausbildungsunterstützung der NATO zu erörtern“ in der Abschlusserklärung von Chicago von Belang.
Um aber zumindest Ansatzweise eine Kontrolle über solche Konfliktszenarien zu behalten, in denen die Masse an Soldaten von „Partnern“ verschiedenster Art gestellt werden, sind mehrere Voraussetzungen zu schaffen. Das betrifft v.a. Spezialkräfte und operative geheimdienstliche Fähigkeiten (wie etwa gezielte Tötungen durch von der CIA gesteuerte Drohnen) und entsprechende dubiose Haushaltsposten (in Deutschland etwa: „Leistungen im Rahmen des Stabilitätspaktes Afghanistan und Südosteuropa“ und „Allgemeine Finanzverwaltung“). Insbesondere betrifft dies aber kostenintensive Kapazitäten zur Führung, Aufklärung und Logistik, wie sie im Rahmen des „Pooling & Sharing“ (EU) bzw. der „Smart Defense“ entwickelt werden sollen. Der personelle Beitrag einzelner Staaten hierzu ist oft gering. Ein altes Vorbild etwa für diese Modelle sind die in Gailenkirchen stationierten Aufklärungsflugzeuge AWACS, die eine zentrale Rolle bei der vernetzten Operationsführung und allen Luftkriegen der NATO spielten. Die Flugzeuge selbst gehören dem Bündnis, ihre Besatzung ist multinational. Gerade deshalb wurde die Beteiligung deutscher Soldaten an AWACS-Einsätzen bereits mehrfach vor dem Bundesverfassungsgericht verhandelt und letztlich beruht die heutige Fassung und Anwendungen des Parlamentsbeteiligungsgesetzes, das die Befugnisse des Parlaments in Fragen der Auslandseinsätze der Bundeswehr regelt, im Wesentlichen auf den entsprechenden Urteilen und Gutachten. Das führte u.a. dazu, dass Deutschland während des Libyen-Krieges seine Beteiligung an den AWACS-Überwachungsflügen über dem Mittelmeer einstellte und stattdessen seine Partner, die das übernahmen, anbot, sie durch einen AWACS-Einsatz in Afghanistan zu „entlasten“.
Solche Taschenspielertricks dürfen und können jedoch keine Grundlage einer funktionierenden EU-Interventionsarmee oder einer „Global NATO“ sein. Der deutsche Verteidigungsminister etwa durfte das Abkommen zur AGS nur unter Vorbehalt unterzeichnen.(11) Die wachsenden Kosten und undurchsichtigen Vertragsbestimmungen hatten dazu geführt, dass der Haushaltsausschuss seine Zustimmung zu dem Projekt vertagte. Angela Merkel reagierte darauf mit einer Regierungserklärung, in der sie ankündigte, dass „wir … noch intensiv diskutieren“ müssen, wie „[wir] die Erwartungen auch an deutsche Beiträge zu gemeinsam bereitgestellten NATO-Fähigkeiten für den Fall eines Einsatzes mit den Bestimmungen des Parlamentsbeteiligungsgesetzes in Einklang bringen können“.(12)
Diese Forderung war keineswegs neu. Bereits in der Sommerausgabe der Europe’s World forderte der deutsche Diplomat und Leiter der NATO-Sicherheitskonferenz eine „Reform parlamentarischer Veto-Praxis hinsichtlich [deutscher] militärischer Beiträge im Rahmen multinationaler Militärmissionen“. Nationale Beiträge sollten, „so sie von der NATO oder der EU angefragt werden, von nationalen Vetos ausgenommen sein“.(13) Seit dem zwitschert es die „Strategische Gemeinschaft“ von allen Dächern und Kommandohügeln, jede relevante Stiftung lädt ein zur Debatte um das „Spannungsverhältnis zwischen Souveränität und ‚Smart Defense’“ – mit dem einen Ergebnis, die parlamentarische Kontrolle zur Disposition zu stellen. Christian Mölling etwa von der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) warnte im November 2011 vor einem „Europa …, das nicht imstande ist, seine strategischen Interessen außerhalb seiner Grenzen zu verteidigen“, weil „[d]ie Staaten … nach wie vor darauf [bestehen], selbst über Ausrüstung und Aufbau von Streitkräften zu entscheiden.“ Stattdessen seien die Mitgliedsstaaten gezwungen, „das Wechselverhältnis zwischen politischer Souveränität, militärischer Effektivität und ökonomischer Effizienz radikal neu zu bewerten“.(14)

Unbestimmt, unkontrolliert und aggressiv
Sowohl Ischinger, als auch Mölling nehmen den Libyenkrieg zum Ausgangspunkt ihrer Vorstöße. Während Ischinger v.a. die Enthaltung der Bundesregierung zur Libyen-Resolution 1973 im Sicherheitsrat kritisiert, mit der Deutschland aus dem „strategischen Mainstream“(15) ausgetreten sei, bezieht sich Mölling v.a. auf die Tatsache, dass Italien aus Kostengründen einen Flugzeugträger aus dem laufenden Einsatz zurückzog – angeblich „das erste Mal, dass ein Staat Kriegsgerät wegen Geldmangels aus einer laufenden Operation abzog“.(16) Anstatt jedoch zu fragen, warum ein Krieg geführt wurde, obwohl weder politische Einigkeit bestand, noch ausreichende Kapazitäten vorhanden waren und die Ziele der beiden Haupttriebkräfte – Frankreich und Großbritannien – unklar blieben, steht die Frage im Mittelpunkt, wie solche Kriege künftig besser führbar werden und nationale Vetos und eine parlamentarische Kontrolle weiter eingeschränkt werden können. Damit wächst die Gefahr, dass die NATO noch mehr zu einer militärischen Infrastruktur wird, die es einzelnen Mitgliedern erlaubt, etwa aus wahltaktischen Gründen Kriege zu beginnen und auch die auf der eigenen Seite enstehenden Kosten auf die Gesellschaften der „Partnerstaaten“ abzuwälzen. Die strategische Unbestimmtheit, die im Abschlussdokument von Chicago zum Ausdruck kommt, öffnet hierfür Tür und Tor. Die wenigen Uneindeutigkeiten hingegen offenbaren einen aggressiven Charakter und sind gegen Russland gerichtet: Es wird an der territorialen Integrität Georgiens festgehalten wie an derjenigen des Kosovo. Von der Ukraine wird Souveränität und Unabhängigkeit erwartet, von Serbien auch, zum Kosovo sucht man diese Begriffe vergeblich. Kritisiert wird auch der (angeblich) geplante russische Truppenaufmarsch „nahe den Grenzen der Allianz“, während der Raketenschild nicht nur eine Aufklärung bis tief in den russischen Raum hinein beinhaltet, sondern auch eine dauerhafte Marine-Präsenz vor den europäischen Küsten. Während die atomar gestützte Abschreckungspolitik geeignet ist, die Frontlinien des Kalten Krieges wieder zu vertiefen, hat die NATO jede ansatzweise Beschränkung auf die Bündnisverteidigung oder definierte Einflusszonen aufgegeben und beansprucht eine globale Interventionsfähigkeit. Zugleich verzichtet sie auf jegliche Kriterien für eine Intervention und versuchen ihre Protagonisten sich jeglicher Kontrolle und Einhegung zu entledigen.

Anmerkungen

(1) Alle nicht näher gekennzeichneten Zitate entstammen: Chicago Summit Declaration, Issued by the Heads of State and Government participating in the meeting of the North Atlantic Council in Chicago on 20 May 2012, Presseerklärung 062 (2012) vom 20.5.2012.

(2) Lisbon Summit Declaration, Issued by the Heads of State and Government participating in the meeting of the North Atlantic Council in Lisbon, Pressemitteilung 155 (2010) vom 20.5.2010, sowie: Declaration by the North Atlantic Treaty Organisation (NATO) and the Government of the Islamic Republic of Afghanistan on an Enduring Partnership signed at the NATO Summit in Lisbon, Portugal, vom 20.5.2010, www.nato.int.

(3) „Russland wird nicht vom Westen bedroht“ – Interview mit Anders Fogh Rasmussen, in: Stuttgarter Zeitung, 12.05.2012.

(4) Bernd Riegert: Wie schlau ist Rasmussens „Smart Defense“?, www.tagesschau.de vom 20.5.2012.

(5) Bernd Riegert: Weniger Geld, aber große Projekte, www.tagesschau.de vom 21.5.2012.

(6) s. Anm. 4.

(7) s. Anm. 5.

(8) Mehr hierzu: Claudia Haydt: Das kriegerische Kerneuropa verleiht sich Flügel – Zur Rolle des „Europäischen strategischen Lufttransportkommandos“, IMI-Standpunkt 2012/014 – in: AUSDRUCK (April 2012).

(9) BMVg (2010): Leitlinien zur Ausplanung der neuen Bundeswehr, 30.6.2010.

(10) „Statement of the President of the European Council, Herman Van Rompuy, at the Chicago NATO Summit“, 20.5.2012, http://www.consilium.europa.eu/
.

(11) Ausführlich hierzu: Michael Haid: Das Überwachungsprojekt »Alliance Ground Surveillance« der NATO – Abschied von der Verantwortlichkeit des Bundestages für militärische Angelegenheiten?, IMI-Analyse 2012/007.

(12) Bundesregierung: Regierungserklärung von Bundeskanzlerin Merkel zum G 8-Gipfel am 18./19. Mai 2012 in Camp David und NATO-Gipfel am 20./21. Mai 2012 in Chicago, www.bundesregierung.de.

(13) Wolfgang Ischinger / Timo Noetzel: Libya could be a catalyst for Europe’s security policy, Europe’s World, Summer 2011.

(14) Christian Mölling: Europa ohne Verteidigung – Die Staaten Europas müssen das Wechselverhältnis zwischen politischer Souveränität, militärischer Effektivität und ökonomischer Effizienz neu bewerten, SWP-Aktuell 2011/A 56, November 2011.

(15) Ischinger, a.a.O.

(16) Mölling, a.a.O.

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Quelle: Informationsstelle Militarisierung (IMI) e.V. - www.imi-online.de