IMI-Studie 2011/15 in: AUSDRUCK (Oktober 2011)
Die Geostrategie Europäischer Macht
‚Grand Area‘ - ein imperiales Raumkonzept als Rezept fürs Desaster
Jürgen Wagner (12.10.2011)
Die komplette Studie ist nur im pdf verfügbar: https://www.imi-online.de/download/JW-Gran_Europe_AusdruckOkt11
Geostrategie vereint den Einfluss der Geografie auf die Politik (Geopolitik) sowie die Androhung und Anwendung militärischer Mittel zur Erreichung bestimmter Ziele (Strategie). Anders als etwa in den Vereinigten Staaten wurde mit derartigen Begriffen auf EU-Ebene lange allenfalls hinter verschlossenen Türen hantiert.[1] Sie stehen für Machtpolitik und das Denken in Einflusssphären und waren deshalb unvereinbar mit dem sorgsam gepflegten Mythos von der ‚Zivilmacht Europa‘: „Die Gründungsphilosophie der EWG, aus der die EG und dann die EU wurden, richtete sich nach innen und entwickelte ein Gegenkonzept zu Geopolitik und zu geostrategischen Dimensionen: Befriedung, Aussöhnung und politische Kooperation durch wirtschaftliche Verflechtung als Antithesen zur Geopolitik und zum Imperialismus.“[2]
Diese ‚geostrategische Abstinenzphase‘ war jedoch nicht einer Aversion gegenüber harter Machtpolitik, sondern der spezifischen Konstellation des Kalten Krieges geschuldet. Gemeint ist hier die – zumindest so empfundene – existenzielle Bedrohung durch die Sowjetunion, der die EU-Staaten allein wenig entgegenzusetzen hatten. Dies machte die Vereinigten Staaten zwangsläufig zur unbestrittenen Hegemonialmacht im westlichen Bündnis. Ohnehin galt darüber hinaus der ‚deutschen Frage‘, der Einbindung des deutschen Machtstrebens, in den Anfangsjahrzehnten der Europäischen Union die Hauptaufmerksamkeit, weshalb die ‚innere Integration‘ im Vordergrund stand. Diese „Strukturdeterminanten“ hatten zur Folge, dass (militär-)strategische Fragen auf EU-Ebene lange kaum eine Rolle spielten, sie waren Sache der NATO – und damit vor allem der USA: „Unter den Bedingungen der US-Hegemonie und der Systemkonkurrenz konnte in den Nachkriegsjahrzehnten von einer eigenständigen europäischen Strategie keine Rede sein.“[3] Mit dem Untergang der Sowjetunion, dem – schrittweisen – Machtverlust der Vereinigten Staaten sowie der offensiven Ausrichtung der deutschen Militärpolitik veränderten sich alle bisherigen Rahmenbedingungen ab Anfang der 1990er Jahre grundlegend. Die Gelegenheit für eine dramatische Militarisierung der Europäischen Union war günstig – und sie wurde zielstrebig genutzt.
Allerdings fand diese Entwicklung in einem konzeptionell-strategischen Vakuum statt: die Frage, welcher Globalstrategie (Grand Strategy) die Europäische Union folgt, also welchem Zweck das außen- und vor allem militärpolitische Agieren dient und welche Mittel hierfür in welcher Form zur Anwendung gebracht werden sollen, ist nicht ansatzweise kohärent beantwortet – zumindest nicht in der Öffentlichkeit. Diesbezügliche Versuche, wie die Europäische Sicherheitsstrategie, blieben entweder extrem schwammig oder sie verliefen, wie der Entwurf eines EU-Weißbuchs, im Sande.[4] Insofern verwundert es nicht, dass der Formulierung einer EU-Globalstrategie im akademischen und politischen Diskurs in den letzten Jahren verstärkte Aufmerksamkeit geschenkt wurde und Artikel zum Thema wie Pilze aus dem Boden schossen.[5]
Besonders lautstark greift dabei seit einiger Zeit die ‚Group on Grand Strategy‘ (GoGS) in diese Debatte ein.[6] Der GoGS-Beirat besteht aus Vertretern verschiedener einflussreicher EU-Denkfabriken, wobei im Folgenden in einem ersten Schritt zunächst vor allem die Publikationen der beiden Direktoren, James Rogers und Luis Simón, näher betrachtet werden, die aber stellvertretend für die Positionen der gesamten Gruppe gelten können.[7] Ihr Ziel ist es, eine grundlegende Neuausrichtung der europäischen Außenpolitik einzuleiten. Das Gerede von der ‚Zivilmacht Europa‘ sei Schnee von gestern, „diese alte Vision spricht die Herzen der jungen Europäer nicht mehr an.“ Aus diesem Grund sei es dringend erforderlich, diese „ideologische Leere“ aufzufüllen, indem das Zusammenspiel von Geografie und Macht in Form einer in sich kohärenten Geostrategie ins Zentrum gerückt wird.[8] James Rogers macht keinen Hehl daraus, worin er die Hauptaufgabe einer Geostrategie sieht – in militärgestützter Machtakkumulation: „Das ultimative Ziel einer Geostrategie ist es, Geografie und Politik miteinander zu verknüpfen, um die Macht und die Einflusssphäre des heimischen Territoriums zu maximieren. […] Ein solches Konzept muss von einem subtilen, aber hervorragend aufgestellten Militär unterstützt werden, das darauf abzielt, das Auftauchen möglicher Rivalen zu vereiteln.“[9]
Aus einer Reihe von Befunden leitet die GoGS ein umfangreiches Anforderungsprofil für eine ‚Weltmacht Europa‘ ab. Die Kernforderungen bestehen in der umfangreichen Militarisierung der Europäischen Union, der Etablierung eines imperialen Großraums sowie der Schaffung eines EU-Superstaats, die als Voraussetzungen für eine effiziente Geostrategie deklariert werden (Kapitel 1). Diese Forderungen finden sich in der ein oder anderen Form auch bei zahlreichen weiteren Vertretern des ‚Strategieestablishments‘, weshalb sie für sich genommen keine ausführliche Analyse rechtfertigen würden. Was aber insbesondere James Rogers so ‚interessant‘ macht ist, dass er die verschiedenen Einzelelemente zu einer – zumindest aus seiner Sicht – in sich kohärenten Geostrategie zusammengeknotet und in ein imperiales EU-Raumkonzept überführt hat. Dieser ‚Grand Area‘ genannte imperiale europäische Großraum – schon der Name lässt im Übrigen Böses ahnen (siehe Kasten) – steckt ab, welche Regionen aus geostrategischem Blickwinkel künftig militärisch kontrolliert werden müssen, damit die Europäische Union den anvisierten Aufstieg zur Weltmacht bewerkstelligen kann (Kapitel 2).
Aufgrund von Widerständen weicht die Praxis naturgemäß immer von derartigen idealtypischen Konzepten ab: unterzieht man die GoGS-Geostrategie einem Realitätscheck, so zeigt sich, dass sie keineswegs als Blaupause fungiert, die von der Politik eins zu eins umgesetzt würde. Sie liefert dennoch wichtige Einblicke in den Stand der gegenwärtigen europäischen Strategiedebatte, da die GoGS eine Art ‚Wunschliste‘ und ‚Zielvorstellung‘ formuliert, mit der nach Eigenangaben eine ‚offene‘ Debatte über die Zukunft der EU-Globalstrategie angestoßen werden soll.[10] Tatsächlich will die Gruppe jedoch einen zunehmend selbstreferentiellen, hermetisch abgeschlossenen ‚Expertenzirkel‘ etablieren, um diesen Diskurs in zunehmendem Maße zu dominieren – und sie ist damit bereits recht ‚erfolgreich‘.
Gleichzeitig wird über diesen Diskurs mit alarmistischen Prognosen ein Handlungsdruck erzeugt, um die Politik zu ‚ermuntern‘, möglichst viele der geostrategisch motivierten Maximalforderungen umzusetzen. Somit eignet sich die GoGS-Geostrategie auch als Folie, die mit der praktischen EU-Militärpolitik abgeglichen werden kann. Dies ermöglicht Rückschlüsse, inwieweit geostrategische Prämissen das europäische Agieren maßgeblich beeinflussen, aber vor allem auch darauf, worin die Widersprüche und Hindernisse auf dem Weg zur imperialen ‚Weltmacht Europa‘ liegen.
Dabei zeigt sich, dass einige wesentliche Forderungen der GoGS bereits umgesetzt wurden, insbesondere was die Militarisierung der Europäischen Union sowie die Etablierung eines imperialen Großraums anbelangt. Dies lässt darauf schließen, dass die europäische Militärpolitik keineswegs so ad hoc und strategielos agiert, wie ihr dies viele Kritiker immer wieder vorwerfen, sondern geostrategische Motive eine wichtige Rolle spielen. Dabei zeigt sich bei genauerer Betrachtung aber auch, dass diese ‚geostrategische Militarisierung‘ bislang bei weitem noch nicht in dem Ausmaß erfolgte, wie dies die GoGS (und viele andere) für erforderlich halten. Ursächlich hierfür ist die Forderung zur Komplettaufgabe der einzelstaatlichen Souveränität und zur Gründung eines EU-Superstaates. Denn es sind weiterhin Staaten, aus denen sich die Europäische Union zusammensetzt, und diese Staaten (bzw. ihre Konzerne) haben teils sehr gegensätzliche Interessen, was die Bereitschaft für Souveränitätsabtritte an Brüssel extrem verringert – und damit auch eine weitere Militarisierung und die Etablierung eines EU-Großraums erheblich erschwert (Kapitel 3).
Ob diese Interessensgegensätze ohne schwere innereuropäische Konflikte eingeebnet werden können, ist äußerst fraglich. Doch auch wenn dies gelänge: hierdurch würde sich der aggressiv-militaristische Kurs der Europäischen Union lediglich weiter verschärfen und der ohnehin bereits vollzogene Abschied von der ‚Zivilmacht Europa‘ gewissermaßen offiziell amtlich bestätigt: „Über eine europäische Geostrategie nachzudenken bedeutet, Neuland zu betreten. Offen ist, ob es der EU gelingen kann, genuin europäische Interessen zu formulieren. Dies stößt auf zwei Hindernisse: Zum einem muss die EU vermeintlich ‚nationale‘ Interessen überwinden und diese europäisch definieren. Zum anderen muss die EU bereit sein, interessenpolitisch zu denken und gemeinsame außenpolitische Interessen durchzusetzen. Damit verließe die EU endgültig ihre Nische als ‚Zivilmacht‘, um zum machtpolitisch bewussten Akteur mit internationaler Verantwortung zu werden.“[11] Je zielstrebiger die Europäische Union jedoch dazu übergehen wird, eine auf Machtmaximierung setzende Geostrategie umzusetzen, desto mehr wird sie zur Verschärfung zahlreicher Konflikte beitragen (Kapitel 4).
Hier zeigt sich das wesentliche Defizit des geostrategischen Denkens: wer das staatliche Ringen um Einflusssphären als unumstößliche Realität postuliert und zur Grundlage für eigene machtmaximierende Strategien macht, ist ursächlich dafür verantwortlich, diese ‚Wirklichkeit‘ immer neu zu reproduzieren.[12] Die hinter solchen ‚Strategien‘ stehenden (kapitalistischen) Mechanismen und Interessen aufzudecken ist deshalb dringend erforderlich, um geostrategischen Raumkonzepten etwas entgegensetzen zu können, die vor allem eins zeigen: eine extrem verengte Weltsicht.
ANMERKUNGEN
[1] Geostrategie und Geopolitik spielten zwar nicht auf EU-Ebene, durchaus aber in einigen Einzelstaaten – insbesondere in Frankreich und Großbritannien – auch während des Kalten Krieges eine wichtige Rolle. In Deutschland waren sie jedoch insbesondere aufgrund der von Karl Haushofer 1924 gegründeten ‚Zeitschrift für Geopolitik‘, die zu einem Propagandaorgan der nationalsozialistischen Ideologie wurde, diskreditiert. Vgl. Wikipedia: Geopolitik.
[2] Guérot, Ulrike/Witt, Andrea: Europas neue Geostrategie, in: Aus Politik und Zeitgeschichte (B 17/2004), S. 6-12, S. 6f.
[3] Vgl. Bieling, Hans-Jürgen: Die Globalisierungs- und Weltordnungspolitik der Europäischen Union, Wiesbaden 2010, S. 53.
[4] Europäische Sicherheitsstrategie: Ein sicheres Europa in einer besseren Welt, Dezember 2003; Institute for Security Studies (Hg.): European Defence – A Proposal for a White Paper, Report of an independent Task Force, Paris, Mai 2004.
[5] Vgl. Balogh, István: Crafting a ‘grand design’: Are Europeans reviving the concept of ‘grand strategy’?, Group on Grand Strategy, Strategic Snapshot Nr. 1/Juli 2011.
[6] Die Gruppe hat sich erst im Sommer 2011 offiziell gegründet, ihr Publikationsorgan ‚European Geostrategy‘ (EUGeo: http://europeangeostrategy.ideasoneurope.eu/) existiert aber bereits seit Längerem, die ersten Veröffentlichungen stammen dort aus dem August 2009.
[7] So stellt etwa das „Manifest“ (http://www.grandstrategy.eu/manifesto.html) der Gruppe, dem die einzelnen Beiratsmitglieder augenscheinlich zustimmen, eine Zusammenfassung der Positionen der beiden Protagonisten Rogers und Simón dar.
[8] Rogers, James/Simón, Luis: The new ‘long telegram’: Why we must re-found European integration, Group on Grand Strategy, Long Telegram No. 1/Sommer 2011, S. 4.
[9] Rogers: James: A New Geography of European Power?, Egmont Paper Nr. 42, Januar 2011, S. 12.
[10] Group on Grand Strategy: Manifesto: http://www.grandstrategy.eu/manifesto.html
[11] Guérot/Witt: Europas neue Geostrategie, S. 6.
[12] „Je mehr geopolitische Auseinandersetzungen in den Medien weltweit und fast zeitgleich präsent sind, desto bedeutender werden geopolitische Bilder, Karten und Diskurse mit ihrer vergröbernden, komplexitätsreduzierenden Wirkung für die Herstellung von Bündnissen und Massenloyalitäten in den jeweiligen Bevölkerungen.“ (Reuber, Paul/Wolkersdorfer, Günter: Macht, Politik und Raum: http://www.politische-geographie.de/Docs/PolGeoForschungsjournal.pdf)