Quelle: Informationsstelle Militarisierung (IMI) e.V. - www.imi-online.de

IMI-Analyse 2011/019 - in: AUSDRUCK (Juni 2011)

Osama bin Laden – werden völkerrechtswidrige Tötungen hoffähig?

Michael Haid (05.05.2011)

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Am Morgen des 2. Mai 2011 wurde die Welt von der Nachricht überrascht, dass Osama bin Laden von einem Kommando der US-Navy Seals in der Nacht zuvor in seinem Haus in der Stadt Abbottabad im Nordosten Pakistans getötet wurde. Die meisten Umstände und die Ausführung der Tat, vor allem der an die Navy Seals zugewiesene Auftrag, sind unklar, da sich die US-Offiziellen gegenwärtig mit detaillierten Angaben sehr bedeckt halten.[1] Für eine rechtliche Bewertung dieser Aktion wäre aber eine voll umfängliche Information unabdingbar. Nach der offiziellen Erklärung von John Brennan, dem Anti-Terror-Beauftragten von US-Präsident Barack Obama, handelte es sich nicht um eine reine „kill mission“, sondern um eine „kill-or-capture mission“ (töten oder gefangen nehmen). Diese Darstellung wird wohl deshalb verbreitet, weil sich die US-Regierung sehr wohl bewusst sein dürfte, dass eine rechtliche Grundlage für gezielte Tötungen gelinde gesagt schwierig ist.[2]

Um eines klarzustellen: Kriege lassen sich ebenso wenig wie gezielte Tötungen dadurch rechtfertigen, wenn sie nach allgemeiner Auffassung rechtskonform wären. Allerdings zeigt sich im speziellen Fall der gezielten Liquidierungen, dass nicht einmal dies der Fall ist, wie im Folgenden ausgeführt werden soll. Dennoch wird derzeit der Versuch unternommen, das bisher vorherrschende Rechtsverständnis so zu verschieben, dass künftig Hinrichtungen völkerrechtlich als akzeptabel gelten sollen.

Freude über die Tötung, nicht Besorgnis über verletztes Recht?

Ungeachtet der von bin Laden begangenen schlimmen Verbrechen gebieten die Anforderungen eines jeden Rechtsstaats sowie der allgemein gültigen Menschenrechte, eine solche Person festzunehmen und durch ein rechtsstaatliches Verfahren vor Gericht zu stellen. Es ist explizit untersagt, ihn durch eine extralegale Hinrichtung zu beseitigen. Unter anderen werden diese Rechte durch Art. 6 Abs. 1 des Internationalen Paktes über bürgerliche und politische Rechte vom 16. Dezember 1966 gewährleistet.[3] Zumal das Weiße Haus bestätigte, dass bin Laden unbewaffnet war, kann eine mögliche Rechtfertigung schwerlich auf Notwehr bei einem (polizeilichen) Festnahmeversuch gestützt werden (abgesehen davon, dass Navy Seals keine Polizei darstellen). Aufgrund der rechtsstaatlichen und menschenrechtlichen Gebote sind die Äußerungen von Repräsentanten der EU und Deutschlands, die das Vorgehen der USA ausdrücklich begrüßten, in höchstem Maße besorgniserregend. Die Äußerung von Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) rief teilweise deutliche (sogar parteiinterne) Kritik hervor: “Ich freue mich, dass es gelungen ist, bin Laden zu töten.“[4] In ihrer Presseerklärung gab sie an, dass die Kräfte des Friedens einen Erfolg errungen hätten.[5] In einer gemeinsamen Erklärung von Herman Van Rompuy (Präsident des Europäischen Rates) und Jose Manuel Barroso (Präsident der Europäischen Kommission) zum Tod von bin Laden heißt es, dass die Tötung die Welt zu einem sichereren Platz mache und zeige, dass solche Verbrechen nicht unbestraft blieben.[6]

Die Politik gezielter Tötungen

Eine wichtige Bedeutung der Tötung bin Ladens liegt darin, als Beispiel einer seit rund zehn Jahren verfolgten Politik der gezielten Tötungen dienen zu können, kann aber aufgrund seiner Prominenz sicherlich als „gefährlichen Präzedenzfall“[7] angesehen werden. Solche extralegalen Exekutionen gab es zwar auch schon zu allen Zeiten in der Geschichte,[8] aber seit einigen Jahren haben sie einen völlig neuen Stellenwert erhalten. Illegale Liquidierungen sind längst Teil einer Politik der US-Regierung (und nicht nur dieser) geworden, Personen unter der angeblichen Rechtfertigung des so genannten „Krieges gegen den Terrorismus“ oder mit Verweis auf „asymmetrische Bedrohungen“ auf fremdem Staatsgebiet ohne Rechtsverfahren oder Nachweis eines Verbrechens zu eliminieren. An dieser Stelle ist darauf hinzuweisen, dass der Begriff „Krieg gegen den Terror“ keine völkerrechtliche Kategorie darstellt, sondern ein „Sprachkonstrukt“ ist, welches „nicht den materiell-rechtlichen Anforderungen der Genfer Konvention entspricht.“[9] In die Schlagzeilen geriet diese Praxis insbesondere wegen des Drohnenkrieges der USA in Pakistan, der viele zivile Opfer hervorruft.[10] Nach „Pakistan Body Count“ wurden bei 217 (170 davon während der Präsidentschaft von Barack Obama) mit Quellen-,Orts- und Zeitangaben dokumentierten Drohnenangriffen im Zeitraum von Juni 2004 bis einschließlich April 2011 insgesamt zwischen 1170 und 2289 Menschen getötet (15 % davon seien Frauen und Kinder gewesen) und zwischen 263 und 936 verletzt. Von den Getöteten sei der überwiegende Anteil Zivilisten (zwischen 1134 und 1729) gewesen. Nur zwischen gar keiner und 33 Personen werden verdächtigt, Al-Quaida angehört zu haben und zwischen 9 und 259 Personen werden den Taliban zugerechnet.[11] Selbst im Falle der Zugehörigkeit zu Al-Quaida und den Taliban, sind Liquidierung nicht rechtlich gerechtfertigt.

Nicht zuletzt aufgrund dieses Ausmaßes, aber auch wegen der höchst problematischen Wirkung auf die Menschenrechte und das Völkerrecht insgesamt, kam es zu einem die gezielten Tötungen scharf kritisierenden Bericht der Vereinten Nationen, dessen Auszüge die einschlägigen Problematiken prägnant wiedergibt: „In den letzten Jahren haben einige Staaten [hervorgehoben werden die USA, Israel und Russland, Anm. M.H.] den Einsatz gezielter Tötungen, auch im Hoheitsgebiet anderer Staaten, entweder offen oder implizit zur Politik gemacht. Ein solches Vorgehen wird verschiedentlich als rechtmäßige Antwort auf ‚terroristische‘ Bedrohungen oder als notwendige Reaktion auf die Herausforderung der ‚asymmetrischen Kriegsführung‘ gerechtfertigt. (…) All dies führt zu dem höchst problematischen Ergebnis, dass die Grenzen des jeweils anzuwendenden Rechts – des Rechts der Menschenrechte, des Kriegsvölkerrechts und der für die Anwendung von Gewalt zwischen Staaten geltenden Regeln – verwischt und ausgeweitet wurden. (…) Am beunruhigendsten ist jedoch die Tatsache, dass sie [die den Tötungsauftrag gebenden Regierungen, Anm. M.H.] sich geweigert haben offen zu legen, wer getötet wurde, aus welchem Grund dies geschah und zu welchen Nebenfolgen es gekommen ist. Als Ergebnis dieser Entwicklungen wurden klare Rechtsnormen durch eine vage umschriebene ‚Lizenz zum Töten‘ ersetzt und ein enormes Rechenschaftsvakuum geschaffen.“[12]

Die Rechtsauffassung der US-Administration

Demgegenüber sieht der „Council on Foreign Relations“ der USA, der die Rechtsauffassung der US-Regierung wiedergibt, die Tötung bin Ladens nach nationalem US-Recht wie nach internationalem Recht als gesetzmäßig an. Die US-Regierung führte dieselbe Begründung wie in der Rechtfertigung ihrer Drohnenangriffe in Pakistan an, wonach der US-Präsident durch die Verordnung über den Einsatz der Streitkräfte vom 18. September 2001 ermächtigt sei, alle notwendigen Maßnahmen gegen die an 9/11 beteiligten Personen zu autorisieren. Die Tötung sei auch nicht durch die „Executive Order 12333“ aus der Zeit des US-Präsidenten Gerald Ford verboten, welche es Regierungsangehörigen untersage, Attentate in Auftrag zu geben und durchführen zu lassen, da sich die USA in einem bewaffneten Konflikt mit Al-Quaida befinde und die Tötung darüber hinaus durch das Recht auf Selbstverteidigung legitimiert sei.[13] Diese Argumentation ist allerdings aus völkerrechtlicher Sicht unhaltbar.

Völkerrechtler wie Claus Kreß und Kai Ambos weisen ausdrücklich darauf hin, dass es zweifelhaft sei, dass sich die USA in einem bewaffneten Konflikt mit Al-Quaida befinde. Das dann einschlägige Kriegsrecht gelte primär nur für zwischenstaatliche Konflikte. Um eine Terrororganisation (nicht-staatliche oder substaatliche Konfliktpartei) einer staatlichen gleichzustellen, müsse eine quasi-militärische Kommandostruktur (Militärorganisation) mit zentralen Befehlshabern, Stützpunkten und Ausbildungslagern sowie einer gewissen Kontrolle über ein Gebiet vorhanden sein. Dies sei im Fall von Al-Quaida nicht nachweisbar, da diese Organisation heute in kleinen, weitgehend voneinander unabhängigen Einheiten in verschiedenen Ländern agiere. Deshalb sei ein kriegsrechtlicher Rechtfertigungsgrund nicht vorhanden.[14] Da ein bewaffneter Konflikt also nicht vorliegt, ein solcher aber zwingende Voraussetzung für eine Rechtfertigung der Tötung bin Ladens nach Kriegsrecht wie nach dem Selbstverteidigungsrecht des Artikels 51 der UN-Charta ist, dürfte eine diesbezügliche Rechtfertigung ausgeschlossen sein. Zudem hat der Internationale Gerichtshof (IGH) die Anwendbarkeit des Selbstverteidigungsrechts auf nicht-staatliche Akteure verneint.[15] Die Resolutionen des UN-Sicherheitsrates 1368 und 1373 aus dem Jahr 2001 erkennen ein Selbstverteidigungsrecht der USA zwar an und betrachten internationale terroristische Handlungen als Bedrohung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit, haben es aber unterlassen, internationale terroristische Akte als einen bewaffneten Angriff festzustellen. Dafür spricht auch die Formulierung in der Nummer 2 e und f der letzteren Resolution, die solche Terrorakte als schwere Straftaten nach innerstaatlichen Recht umschreibt und sie damit nicht in einen militärischen Kontext verweist.

Verstoß gegen das humanitäre Völkerrecht?

Genau genommen wirkt sich das Selbstverteidigungsrecht nur auf das Gewaltverbot in den zwischenstaatlichen Beziehungen aus (Art. 2 Abs. 4 der UN-Charta). Für die Rechtmäßigkeit der Tötung einer Person ist im Kriegsfalle das humanitäre Völkerrecht (ius in bello, im Wesentlichen das Genfer Abkommen von 1949 und seine Zusatzprotokolle von 1977) zuständig,[16] das zwischen internationalen und nicht-internationalen bewaffneten Konflikten unterscheidet. Bei Vorliegen eines internationalen bewaffneten Konflikts (Krieg zwischen Staaten) dürfen Personen straflos getötet werden, wenn sie zu den Kombattanten einer Konfliktpartei zählen. Im Falle von bin Laden ist dieser Gedanke abwegig, da ein solcher Konflikt nicht vorliegt (die USA führen keinen Krieg gegen Pakistan; zudem können nicht-staatliche bewaffnete Akteure nach dem Wortlaut der Genfer Abkommen nicht Parteien eines internationalen bewaffneten Konflikts sein). Zwar können bei einem nicht-internationalen bewaffneten Konflikt Kampfhandlungen auch gegen nicht-staatliche Gruppen geführt werden, die jedoch eine bestimmte Militärstruktur aufweisen müssten, um als Konfliktpartei eingestuft zu werden. Mit Verweis auf die obigen Ausführungen zum Nichtvorliegen eines bewaffneten Konflikts und mit Blick auf die wohl mangelnde Intensität der Kampfhandlungen und das Fehlen eines Konfliktgebiets um Abbottabad dürfte auch dies mit guten Gründen zu verneinen sein.[17] Folglich ist im Ergebnis festzuhalten, dass die Tötung bin Ladens ein Verstoß gegen das humanitäre Völkerrecht darstellt und nicht durch kriegsrechtliche Normen gedeckt war.

Bedauerlich an der Tötung bin Ladens ist, dass dadurch die Praxis gezielter Tötungen hoffähig werden könnte. Denn denkbar ist zumindest ein gewisses Maß an Verständnis von Seiten der internationalen Öffentlichkeit angesichts seiner verachtenswerten Taten. Eine gewaltige Fehlentwicklung im Rechtsverständnis wäre es aber, illegale Liquidierungen als legitim erscheinen zu lassen, da sie, wie in diesem Beitrag aufgezeigt wurde, beachtliche Regeln des Völkerrechts und der Menschenrechte, in Frage stellen.

Anmerkungen:

[1] Vgl. The White House, Office of the Press Secretary: Press Briefing by Senior Administration Officials on the Killing of Osama bin Laden, May 2, 2011.

[2] Vgl. Fischer, Sebastian/ Korge, Johannes/ Wittrock, Philipp: US Kommandoaktion gegen bin Laden. Ein toter Top-Terrorist und viele offene Fragen, in: Spiegel Online, 4. Mai 2011.

[3] Vgl. Basak, Denis: Osama bin Laden getötet. Vom Problem der staatlichen „Licence to kill“, in: Legal Tribune Online, 3. Mai 2011; Zumach, Andreas: Der Tod ist immer eingeplant. Tötung Osama bin Ladens und Völkerrecht, in: taz online, 3. Mai 2011.

[4] Merkel, Angela, zitiert nach: Tod des Quaida-Chefs. Merkels Freude empört Kritiker, in: Spiegel Online, 4. Mai 2011.

[5] Vgl. Presse- und Informationsamt der Bundesregierung: Bundeskanzlerin Angela Merkel zum Tod von Osama bin Laden, Pressemitteilung Nr. 153, 2. Mai 2011.

[6] Vgl. Joint statement by the President of the European Council, Herman Van Rompuy and the President of the

European Commission, Jose Manuel Barroso on the death of Osama bin Laden, PCE 102/11, Brussels, 2 May 2011.

[7] Ulrich, Stefan: US-Einsatz gegen Osama bin Laden. Darf man Terroristen einfach töten?, in: Süddeutsche Zeitung Online, 4. Mai 2011.

[8] Eine kurze Zusammenfassung staatlicher Tötungen findet sich bei Keating, Joshua E.: Kill Teams. A short history of the most memorable state-ordered hits in foreign lands, in: Foreign Policy, May 3, 2011.

[9] Steiger, Dominik: „Krieg“ gegen den Terror? – Über die Anwendbarkeit des Kriegsvölkerrechts auf den Kampf gegen den Terrorismus, Humboldt Forum Recht, 14/2009, S. 1.

[10] Zu den völkerrechtlichen und politischen Aspekten des Drohnenkriegs und der Praxis gezielter Tötungen vgl. Haid, Michael: Ferngesteuerte Killer. Drohnen als neue Instrumente der Kriegsführung, in: Ausdruck, Dezember 2010, S. 19-21.

[11] Vgl. http://www.pakistanbodycount.org/dattacks.php (abgerufen am 4. Mai 2011).

[12] Alston, Philipp: Studie über gezielte Tötungen, Bericht des Sonderberichterstatters über außergerichtliche, summarische oder willkürliche Hinrichtungen, Menschenrechtsrat, Generalversammlung der Vereinten Nationen, A/HRC/14/24/Add.6, 28. Mai 2010, S. 3.

[13] Vgl. Bellinger, John B. III: Bin Laden Killing: the Legal Basis, Council on Foreign Relations, May 2, 2011.

[14] Vgl. Ulrich, Stefan: US-Einsatz gegen Osama bin Laden. Darf man Terroristen einfach töten?, in: Süddeutsche Zeitung Online, 4. Mai 2011.

[15] Vgl. Roguski, Przemyslaw: Tötung von Osama bin Laden. Der Al-Quaida-Chef als Kriegsopfer, in: Legal Tribune Online, 5. Mai 2011.

[16] Vgl. hierzu vertiefend Scheidle, Christina: Asymmetrische Konflikte – Kapituliert das humanitäre Völkerrecht vor neuen Formen der Gewalt?, Humboldt Forum Recht, 15/2009, S. 5 ff..

[17] Die Ausführungen zum humanitären Völkerrecht sind eine Zusammenfassung des Beitrags von Roguski, Przemyslaw: Tötung von Osama bin Laden. Der Al-Quaida-Chef als Kriegsopfer, in: Legal Tribune Online, 5. Mai 2011.

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