IMI-Analyse 2009/003
Kriegsführung aus der Provinz
Münster ist Stabssitz des „Deutsch-Niederländischen Korps“ und wichtiges Zahnrad in der NATO-Kriegspolitik
Michael Schulze von Glaßer (23.01.2009)
Dieser Text erscheint demnächst in der von der Informationsstelle Militarisierung und der DFG-VK herausgegebenen Broschüre „Kein Frieden mit der NATO“. Vorbestellung der Broschüre mit 72 Seiten für 2 Euro zzgl. Versand an: imi@imi-online.de
Unter der Adresse „Hindenburgplatz 71“ findet sich im westfälischen Münster ein großes weißes Gebäude mit schwarzem Dach. Davor wehen an zahlreichen Masten die Nationalflaggen verschiedener Staaten – die deutsche und niederländische Fahne stehen im Vordergrund gleich neben denen der Europäischen Union und der „North Atlantic Treaty Organization“. Das unscheinbare Gebäude in unmittelbarer Nähe zum historischen Schloss ist Stabssitz des „1. Deutsch-Niederländischen Korps“[1] und zugleich ein wichtiges Hauptquartier der NATO.
Chronologie eines Kriegsquartiers
1991 entstand die Idee einer binationalen Militäreinheit. Die Einweihungsfeier für die neu gebildete Militäreinheit aus „1. Deutschem Korps“ und „1. Niederländischem Korps“ fand am 30. August 1995 unter Anwesenheit des damaligen Bundeskanzlers Helmut Kohl und des niederländischen Premierministers Wim Kok statt.[2] Von Anfang an war die Verteidigung des NATO-Territoriums die Hauptaufgabe des „1. Deutsch-Niederländischen Korps“, das schon nach kurzer Zeit zur NATO Hauptverteidigungseinheit gehörte. 1999 wurde die Einheit auserkoren, ein „NATO High Readiness Force Headquarter“ (HRF) zu werden. Mit dem Erreichen der vollen Einsatzbereitschaft – „Full Operational Capability“ (FOC) – im November 2002 wurde das „1. Deutsch-Niederländische Korps“ eine Einheit der „NATO Combined Joint Task Force“ (CJTF) und ist somit in der Lage, innerhalb von 20 – 30 Tagen für NATO-Militärmissionen einsatzbereit zu sein. Ab Februar 2003 koordinierte das Münsteraner Korps als Hauptquartier für sechs Monate den ISAF-Militäreinsatz in Afghanistan. Als nächsten Schritt strebten die deutschen und niederländischen Militärs an, ein „Land Component Command Headquarter“ (LCC) innerhalb der „NATO Response Force“ (NRF) zu werden. Spätestens mit diesem Schritt wurde die territoriale Verteidigung Nebensache und das Münsteraner Hauptquartier zur Führung von Angriffskriegen umstrukturiert. Dazu wurde das Korps ab 2004 für ein Jahr dem „NATO Joint Forces Command“ in Neapel (Italien) unterstellt. Im Januar 2005 nahm die Militäreinheit die Rolle als „NATO Response Force Land Component Command“ ein. Die Führung der schnellen Eingreiftruppe der NATO rotiert halbjährlich zwischen sechs NATO-Standorten. Das Hauptquartier bekam die Bezeichnung NRF-4 – ist also seit Bestehen der schnellen NATO-Eingreiftruppe das vierte Hauptquartier. Das Jahr 2006 verbrachte das „Deutsch-Niederländische Korps“ mit einigen kleineren Militärübungen. 2007 bereitete sich die Armee-Einheit mit weiteren sechs Übungseinsätzen auf die nochmalige Übernahme der „NATO-Response Force“ vor, die im ersten Halbjahr 2008 stattfand (NRF-10). Am 2. Juli 2008 gab das Münsteraner Korps die Aufgabe des NATO-Hauptquartiers an Frankreich weiter. Bei der bisherigen Rotation dürfte das „1. Deutsch-Niederländische Korps“ im Jahr 2011 das nächste Kommando über die „NATO Response Force“ haben. Im Januar 2009 gab der Kommandeur des Korps bekannt, dass 400 Soldatinnen und Soldaten ab August für ein halbes Jahr nach Afghanistan verlegt werden, um dort den ISAF-Einsatz zu unterstützen. 170 Korps-Mitglieder werden in Kabul das Hauptquartier der ISAF verstärken und das „Deutsch-Niederländische Korps“ somit wieder eine Führungsrolle im Afghanistankrieg einnehmen. Unter dem Dach des Münsteraner Korps finden sich mittlerweile zwölf Nationen: Deutschland, Niederlande, Belgien, Dänemark, Frankreich, Griechenland, Italien, Norwegen, Spanien, Türkei, Großbritannien und die USA.
Kriegsquartier für weltweite Kriege
Dem „1. Deutsch Niederländischen Korps“ unterstehen dauerhaft das „Staff Support Batallion“ in Münster und das „Communications and Information Systems Bataillon“ im niederländischen Eibergen und Garderen. Das Korps selbst ist also relativ klein – die ihm unterstellten NATO-Einheiten während der Führung der „Response Force“ sind dafür umso zahlreicher.
Die Truppenstärke des NRF-4 betrug etwa 8.500 Soldatinnen und Soldaten aus Deutschland, den Niederlanden, Spanien, Frankreich, der Türkei, Dänemark und Norwegen. Mit der NATO-Übung IRON SWORD stellte das „1. Deutsch-Niederländische Korps“ im Mai und Juni 2005 erstmals seine Einsatzfähigkeit für die „NATO Response Force“ unter Beweis: Aus fünf Nationen wurden mehr als 6.000 Soldatinnen und Soldaten und 2.500 Fahrzeuge von Zentraleuropa auf einen militärischen Übungsplatz in Norwegen verbracht.[3] Das Szenario sah einen Konflikt zwischen drei fiktiven Nationen vor – kriminelle und terroristische Gruppen in den fiktiven Staaten wurden ebenfalls simuliert. Die NATO-Truppen sollten einmarschieren, um den Frieden zu erzwingen. Hauptziel der Übung war die schnelle Verlegung der NATO-Streitkräfte. Trotz zweier kleinerer Unfälle auf den über 300 Kilometern Landweg zum Übungsplatz Nordöstlich von Oslo wurde das Invasions-Szenario planmäßig durchgeführt.
Die zeitweise aus Münster kommandierte „NATO Response Force“ soll innerhalb von nur fünf Tagen an jedem Ort der Welt einsetzbar sein.[4] Im Ernstfall kann das Münsteraner Hauptquartier nach Eigenaussagen bis zu 60.000 Soldatinnen und Soldaten befehligen[5] – eine enorme Kapazität.
Kriegsführung aus der Provinz
Dass der ISAF-Militäreinsatz am Hindukusch zeitweise aus Münster geleitet wurde, ist nur einem kleinen Teil der Bevölkerung bekannt. Auch die Bedeutung des Hauptquartiers für die NATO ist relativ unbekannt. In der (lokalen) Öffentlichkeit geben sich die Militärs friedlich – pflanzen beispielsweise neue Bäume an der Münsteraner Promenade, die zuvor vom Sturm „Kyrill“ verwüstet wurde.[6] Ihr wahres Gesicht zeigten die Militärs aus der Provinz bei der NATO-Invasions-Übung IRON SWORD. Unter deutsch-niederländischer-Führung zeigte sich die offensive Kriegsausrichtung des Militärbündnisses. Das „1. Deutsch-Niederländische Korps“ im westfälischen Münster ist als ein Hauptquartier der „NATO Response Force“ in die weltweite Angriffsstrategie der NATO eingebunden – weltweite Militäroperationen können von Münster aus binnen fünf Tagen in Gang gesetzt werden. Dabei scheint schon allein die IRON SWORD-Militärübung mit dem deutschen Grundgesetz unvereinbar.[7]
Durch die Förderung der schnellen NATO Eingreiftruppe drängt das Militär zudem dauerhaft auf eine Entmachtung der Parlamente zugunsten des Nordatlantikrats[8] – die Einsätze können heute oft schneller durchgeführt werden, als über sie von Parlamenten diskutiert und entschieden werden kann.
Der „1. Deutsch-Niederländische Korps“ ist ein wichtiges, aber in der Öffentlichkeit kaum bekanntes Zahnrad in der NATO-Kriegspolitik.
Anmerkungen
[1] www.1gnc.de
[2] Fact-Sheet des „1. Deutsch-Niederländischen Korps“
[3] www.1gnc.de
[4] IMI Standpunkt 2003/111 – Claudia Haydt „NATO Response Force – die ultimative Koalition der Willigen“ – www.imi-online.de
[5] Broschüre des „1. Deutsch-Niederländischen Korps“ zum IRON SWORD-Einsatz
[6] www.1gnc.de
[7] Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland, Artikel 26 [Friedenssicherung] (1): „Handlungen, die geeignet sind und in der Absicht vorgenommen werden, das friedliche Zusammenleben der Völker zu stören, insbesondere die Führung eines Angriffskrieges vorzubereiten, sind verfassungswidrig. Sie sind unter Strafe zu stellen.“
[8] Im Nordatlantikrat sitzen Vertreter aller NATO-Mitgliedsstaaten