Quelle: Informationsstelle Militarisierung (IMI) e.V. - www.imi-online.de

Dokumentation: Ha'aretz-Online, 28.12.2008

Klein-Bagdad in Gaza – Bomben, Furcht und Wut

(28.12.2008)

https://www.imi-online.de/2008.php3?id=1864

Es gibt viele Tote und Verwundete, die Liste der Todesopfer wird jeden Moment um einen neuen Name ergänzt und in der Leichenhalle ist kein Platz mehr.
Verwandte suchen zwischen Toten und Verwundeten um die Leichen schnell zum Begräbnis zu bringen. Eine Mutter deren drei Kinder im schulpflichtigen Alter getötet wurden und im Leichenhaus übereinander gestapelt liegen, schreit und schreit und ist dann still.
Mustapha Ibrahim beobachte all dies am Samstagnachmittag um ein Uhr im Shifa-Krankenhaus in Gaza. Als Vor-Ort-Mitarbeiter einer Menschenrechtsorganisation, ist er an vieles gewöhnt, aber nichts hatte ihn auf das vorbereitet, was er hier sah. Verwundete, deren Zustand weniger schwerwiegend war, wurden darum gebeten, Shifa zu verlassen um Betten frei zu machen.
Dr. Haidar Eid ist Dozent für Kulturwissenschaft an der Al-Aqsa Universität. Auch er sah am Samstag Leichen und Verwundete; ebenso Kinder deren Gliedmaßen amputiert worden waren.
„Eine Zeit wie diese, 11:30 Uhr, auszuwählen, um das Herz der Stadt zu bombardieren, das ist schrecklich. Diese Entscheidung verursachte ein größtmögliches Massaker“, erläuterte er.
Abu Muhammad war 200 Meter vom Krankenhaus entfernt, als ein schrecklicher Lärm zu hören war: Drei große Polizeistationen die zerbombt wurden, liegen in der Nähe des Krankenhauses. „Innerhalb von Sekunden, war dies Klein-Bagdad, überall Bomben, Rauch, Feuer und Menschen die nicht wissen, wo sie sich verstecken sollen. Überall Furcht und Wut und Hass“, sagte er.
Er selbst rannte zur Schule seiner Tochter, wie zehntausende anderer Eltern im Gazastreifen. Während von 11:25 bis 11:30 Uhr, etwa 50 Kriegsflugzeuge ihre Ziele zerbombten, waren Hunderttausende von Kindern auf der Straße. Einige kamen von der Schulfrühschicht (wegen des Mangels an Schulraum wird in Gaza in mehreren Schichten unterrichtet. C.H.) andere waren auf dem Weg zur nächsten Schicht. „Im Schulhof sah ich 500 weinende verängstigte Mädchen. Sie kannten mich nicht, aber klammerten sich an mich“, berichtete Abu Muhammed.
Allein im Scheich-Radwan Viertel gab es 43 Todesopfer. Für alle gemeinsam wurde ein Trauerzelt aufgestellt. Die meisten waren junge Polizisten, die sich der zivilen Polizei angeschlossen hatten und während der Abschlussfeier ihrer Ausbildung getötet wurden.
Die Trainingslager der Izz-Al Din al-Qassam Brigaden und die Verhör- und Gefangenenlager waren während der Bombardierung menschenleer. Aber die Polizeistationen im Gazastreifen, deren Dienstleistungen von der Bevölkerung in Anspruch genommen werden, waren wimmelten von Menschen. Niemand glaubte, dass sie bombardiert würden.

Am Nachmittag suchten sie immer noch nach Leichen in den Trümmern. Kalil Shahin eilte zur Polizeistation im Zentrum des Gazastreifens. „Ein großes Gebäude, dem Erdboden gleichgemacht“, sagte er. Etwa 30 Menschen wurden dort getötet. Er wusste, dass sein Neffe, ein Zivilist, getötet wurde während er versuchte eine Angelegenheit in der Polizeistation zu regeln.
Die Lehrerin Umm Salah dachte zuerst bei der Explosion handle es sich um eine Schallbombe. Das ganze Gebäude bebte, das Glas zersplitterte, aber der Rauch, die Staubwolken, das Geheul der Sirenen verdeutlichten, dass etwas Furchtbares geschehen war. Das Glas verletzte eine Reihe von Schülern. Manche weinten, manche blieben stumm.

Sie fand ihren Sohn inmitten der Menschenmassen auf der Straße. Er war mitten in einem Mathematiktest als das Bombardement begann. Sie gingen zusammen nach Hause wo sie den jüngeren Bruder bei seiner 70jährigen Großmutter fanden. Die Großmutter versuchte ihre Angst zu verbergen als sie sich um ihre Enkelkinder kümmerte.

„Fast während der ganzen letzten Woche gab es keinen elektrischen Strom, kein Gas, kein Mehl und Brot“, sagte Umm Salah. „Und plötzlich gab es wieder Elektrizität. Ich schaltete den Fernseher an, ich sah die Bilder, ich stellte ihn wieder aus zu und lies die Kinder ihre Hausaufgaben machen.“

Amira Hass ist Korrespondentin der israelischen Tageszeitung Haaretz
(Übersetzung Claudia Haydt)

------------

Quelle: Informationsstelle Militarisierung (IMI) e.V. - www.imi-online.de