Quelle: Informationsstelle Militarisierung (IMI) e.V. - www.imi-online.de

IMI-Analyse 2008/020 - in: AUSDRUCK (Juni 2008)

Humanitäre Heuchelei

Myanmar als Türöffner für Humanitäre Interventionen und die Militarisierung des Katastrophenschutzes

Jürgen Wagner (05.06.2008)

Diese Analyse im AUSDRUCK-Layout als PDF: https://www.imi-online.de/download/JW-Myanmar-juni-08.pdf

Eigentlich ist die humanitäre Nothilfe im Katastrophenfall zu strikter Neutralität verpflichtet, weshalb Forderungen, ihr gegebenenfalls den Weg buchstäblich freizuschießen, einen Widerspruch in sich darstellen. Nachdem das Militärregime in Myanmar (Birma) sich jedoch weigerte, humanitäre Helfer zur Versorgung der zahlreichen Opfer des Zyklons „Nargis“, der Anfang Mai weit über 100.000 Todesopfer gefordert hatte, ins Land zu lassen, wurde nichtsdestotrotz genau so argumentiert: „man“ – also der Westen – sei nun befugt, mit Gewalt Gutes zu tun.

Selbstverständlich ist es schockierend, wie kaltschnäuzig das dortige Militärregime lange Zeit die eigene Bevölkerung sterben ließ, indem humanitären Helfern der Zutritt untersagt wurde. Andererseits wird jedoch geflissentlich ausgeblendet, dass die westliche Politik hieran alles andere als unschuldig war. Denn die Machthaber in Myanmar lehnten keineswegs grundsätzlich jedwede Hilfe ab, sie befürchteten jedoch, dass die militärische Flankierung der Nothilfe ein willkommener Vorwand darstellte, um das Militärregime zu Fall zu bringen.[1] Die Tatsache, dass vor allem aus US-Kreisen offen gefordert wurde, nun die Gelegenheit beim Schopfe zu packen und einen „Regime Change“ herbeizuführen, trug somit maßgeblich zur harten Haltung der dortigen Staatsmacht bei und zeigt zudem, wie wenig es bei der ganzen Auseinandersetzung letztlich darum ging, notleidenden Menschen effektiv zu helfen.

Tatsächlich verfolgt die „westliche Staatengemeinschaft“ vor allem drei Ziele. Erstens haben vor allem die USA geostrategische Interessen in Chinas Hinterhof im Auge. Zweitens wurde versucht die „humanitäre Intervention“ (im Neusprech: Responsibility to Protect – R2P) endgültig als (westliches) Gewohnheitsrecht zu etablieren und so das in der UN-Charta verankerte Nicht-Einmischungsgebot auszuhebeln. Dies soll es künftig ermöglichen, renitente Staaten nahezu beliebig militärisch abstrafen zu können – wohlgemerkt auch ohne Mandat des UN-Sicherheitsrates. Schließlich soll drittens, auf Grundlage der neueren Debatte die ohnehin begonnene Militarisierung des EU-Katastrophenschutzes weiter vorangetrieben werden.

USA: Regime Change am geostrategischen Nadelöhr

Das Militärregime in Myanmar ist seit 1962 an der Macht. Es unterdrückt die Bevölkerung auf brutale Weise und geht äußerst repressiv gegen jegliche Form von Widerstand vor. Dies hat allerdings weder die USA noch Deutschland lange Zeit davon abgehalten, das Regime zu stärken. So belieferte Heckler & Koch die Armee ebenso mit dem Schnellfeuergewehr G3 wie die Firma Rheinmetall, die zusätzlich auch MG42 Maschinengewehre lieferte. Von deutscher Regierungsseite führte lange Zeit keine noch so blutige Aktion des Militärs zu einem Exportverbot: „Weder der eskalierende Guerillakrieg noch die blutige Niederschlagung friedlicher Proteste in Rangun 1974 beeindruckten die Bonner Exportkontrolleure.“[2]

Erst nachdem China, das zuvor auf einen Sturz des Militärregimes hingearbeitet hatte, begann, mit ihm zu kooperieren, kam es zu einem Kurswechsel: „Der umfassenden chinesischen Weichenstellung der 1980er Jahre, die auch andere Politikfelder betraf und erkennbar einen weltpolitischen Aufstieg Beijings zum Ziel hatte, folgte eine außenpolitische Kursänderung im Westen. So werden seit Mitte der 1980er Jahre nicht nur antichinesische Kräfte in der erstarkenden Volksrepublik selbst gefördert (unter anderem Tibet), sondern etwa auch in Myanmar.“[3] Die blutige Niederschlagung von Studentenunruhen im Jahr 1988, bei denen Tausende mithilfe deutscher Waffen niedergemetzelt wurden, diente als Anlass, um nun auch offiziell mit dem Regime zu brechen.

Vor diesem Hintergrund hat vor allem die US-Regierung seit Längerem ein Interesse daran, mit einem Regimewechsel in Myanmar einen wichtigen Verbündeten Pekings in der Region aus dem Spiel zu nehmen. Zudem ist das Land für China auch als Transitgebiet für den Handel mit Indien und als Rohstofflieferant von gewisser Bedeutung.[4] Vor allem liegt es aber an einem der wichtigsten Nadelöhre der Weltschifffahrt, der Straße von Malakka, durch die täglich 80% des chinesischen Ölbedarfs geschleust wird. Da die Etablierung eines freundlich gesinnten Regimes – ganz zu schweigen von der Errichtung von Militärbasen – also für die US-Regierung von einigem Interesse ist, arbeitet sie schon seit einiger Zeit immer offener auf dieses Ziel hin. Wie so häufig setzt sie hierfür auf das „National Endowment for Democracy“ (NED), eine quasi staatliche Institution zur Destabilisierung anti-amerikanischer Regierungen. So schreibt der Journalist William Engdahl: „Das US-Außenministerium hat zentrale Oppositionsführer von zahlreichen Anti-Regierungsorganisationen in Myanmar rekrutiert und trainiert. Seit 2003 haben die USA dem National Endowment for Democracy mehr als $2.5 Mio im Jahr für Aktivitäten zur Förderung eines Regimewechsels in Myanmar bereitgestellt.“[5]

Dass die Befehlshaber in Myanmar sämtlichen westlichen Akteuren extrem misstrauisch gegenüberstehen, ist vor diesem Hintergrund wenigstens halbwegs verständlich. Anstatt eine Militärintervention grundsätzlich auszuschließen, wurde dieses Misstrauen durch die offenen Interventionsdrohungen weiter verstärkt. Dies diente wiederum als Anlass für Forderungen, die „Hilfslieferungen“ militärisch durchzusetzen und hierdurch „der Junta einen schweren politischen Schlag zu versetzen“, wie es der einflussreiche Publizist Robert Kaplan formulierte. Nach der Militärintervention müsse das Land, so Kaplan weiter, von amerikanischen Truppen besetzt werden: „Da eine humanitäre Invasion letztendlich zum Kollaps des Regimes führen könnte, müssten wir anschließend eine weit gehende Verantwortung akzeptieren.“[6] Diese Sichtweise wird offenbar auch in hohen Regierungskreisen geteilt. So wird ein Diplomat aus dem Umfeld des US-Botschafters bei den Vereinten Nationen, Zalmay Khalilzad, mit folgenden Worten zitiert: „Wir versuchen ihren Untergang zu beschleunigen.“[7] Dass die US-Regierung darüber hinaus frühzeitig den mit Marschflugkörpern ausgerüsteten Zerstörer USS Mustin in die Region beorderte und ihn von drei Schiffen der Kampfgruppe Essex flankieren ließ, diente hier sicherlich auch nicht gerade als vertrauensbildende Maßnahme. Zugleich wurden Helikopter der Air Force für eine mögliche Luftbrücke nach Thailand verlegt.[8]

Ganz so hemdsärmelig wie in den USA traut sich in Europa (noch) niemand, militärische Interventionen mit der Notwendigkeit zur Durchsetzung ökonomischer und strategischer Interessen zu begründen – hierfür braucht es ein humanitäres Gewand.

R2P und das Ende des Nicht-Einmischungsgebots

Da die UN-Charta militärische Interventionen eigentlich kategorisch verbietet[9] und nur zwei eng gefasste Ausnahmetatbestände für die Anwendung von Gewalt vorsieht – zur Selbstverteidigung und bei einer Bedrohung des Weltfriedens (zuvor müssen jedoch sämtliche anderen Mittel ausgeschöpft werden) – wird seit mehreren Jahren versucht, dieses Nicht-Einmischungsgebot auszuhöhlen.

Erreicht werden soll dies vor allem, indem mit den so genannten humanitären Interventionen eine weitere Option etabliert wird, um künftig „völkerrechtskonform“ in fremde Länder einfallen zu können. Dies erfordert jedoch eine Neu-Definition des in der UN-Charta verankerten staatlichen Souveränitätsrechts. Erste Überlegungen hierzu wurden bereits Mitte der 90er angestellt.[10] Nach der „humanitären Intervention“ in Form des Angriffskriegs gegen Jugoslawien im Jahr 1999 betonte UN-Generalsekretär Kofi Annan bei zwei Auftritten vor der Generalversammlung (1999 und 2000) die Notwendigkeit, das Nicht-Einmischungsgebot in seiner bisherigen engen Auslegung zu überdenken.

Daraufhin übernahm die kanadische Regierung im September 2000 die Initiative, indem sie die „International Commission on Intervention and State Sovereignty“ (ICISS) ins Leben rief. Der ICISS-Bericht wurde schließlich Ende 2001 unter dem Titel „The Responsibility to Protect“ veröffentlicht. Der Kernpunkt des Berichts besteht in seiner Forderung, das staatliche Souveränitätsrecht – und damit auch der hieraus abgeleitete weit gehende Schutz vor einer Gewaltanwendung anderer Staaten bzw. der „internationalen Gemeinschaft“ – solle nicht mehr uneingeschränkt für alle Mitglieder der Vereinten Nationen gelten. Souveränität solle künftig vielmehr eine Art Lizenz darstellen, die bei Verstoß gegen verschiedene Normen und Werte jederzeit wieder entzogen werden kann. Ein Staat, der nicht fähig oder willens sei, den Schutz seiner Zivilbevölkerung zu gewährleisten, könne nicht als souverän gelten und demzufolge auch nicht in den Genuss des Nicht-Einmischungsgebots kommen. Vielmehr sei in einem solchen Fall die „internationale Gemeinschaft“ verpflichtet, notfalls militärisch für Ordnung zu sorgen.[11]

Der zweite wichtige Aspekt des ICISS-Reports war, dass vorgeschlagen wurde, derartige humanitäre Interventionen von einem Mandat des UN-Sicherheitsrates abzukoppeln: „Aufgrund der früheren Unfähigkeit oder Unwilligkeit des Sicherheitsrates, die an ihn gesetzten Erwartungen zu erfüllen, ist es schwierig zu argumentieren, dass alternative Maßnahmen, der Responsibility to Protect Geltung zu verschaffen, völlig außer acht gelassen werden können, sollte der Sicherheitsrat explizit einen Vorschlag für eine Intervention ablehnen, in der humanitäre oder menschenrechtliche Fragen eine erhebliche Rolle spielen oder in denen der Sicherheitsrat es versäumt, sich mit solch einem Vorschlag in einem vernünftigen Zeitrahmen zu befassen.“[12]

Einer solch weit gehenden Selbstentmachtung wollten die Vereinten Nationen jedoch nicht zustimmen, die Ermächtigung zur Intervention wurde in den Folgeberichten explizit an ein Mandat des Sicherheitsrates gekoppelt. Das Grundkonstrukt der R2P wurde jedoch vollständig übernommen. Es fand sowohl Eingang in den Bericht der eingesetzten Expertengruppe zur Reform der UNO als auch in den Report des damaligen UN-Generalsekretärs Kofi Annan zum selben Thema.[13] Schließlich wurde die R2P im September 2005 auf dem Treffen der UN-Generalversammlung in das Abschlussdokument aufgenommen: „Jeder einzelne Staat hat die Verpflichtung, seine Bevölkerung vor Völkermord, Kriegsverbrechen, ethnischen Säuberungen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu schützen.“[14] Sollte ein Staat dieser Verpflichtung nicht nachkommen, sei der Sicherheitsrat nun auch befugt, militärische Maßnahmen zu ergreifen, um in innerstaatliche Konflikte einzugreifen, auch wenn diese keine Bedrohung des Weltfriedens darstellen. Zwar stellt die Responsibility to Protect damit noch kein geltendes Völkerrecht dar, sollte sie aber in der Praxis Schule machen, könnte sie sich sukzessive als Gewohnheitsrecht etablieren.

Seit dem Beschluss der Generalversammlung werden Militärinterventionen immer häufiger unter Bezugnahme auf die Responsibility to Protect eingefordert.[15] Zuletzt war sie das omnipräsente Legitimationskonstrukt für ein militärisches Eingreifen in Myanmar.

Interventionsgebrüll im humanitären R2P-Gewand

Seit Jahren erweist sich der einstige Mitbegründer von Ärzte ohne Grenzen und heutige französische Außenminister Bernard Kouchner als eifrigster Befürworter von humanitären Interventionen. Auch im Falle Myanmars setzte er sich bereits früh dafür ein, die Katastrophenhilfe notfalls auch militärisch gegen den Widerstand des Regimes zu erzwingen und begründete dies mit Verweis auf die Schutzverantwortung der internationalen Gemeinschaft. Der UN-Sicherheitsrat müsse aktiv werden, er könne „entscheiden einzuschreiten, um das Durchkommen von Hilfe zu erzwingen.“[16]

Da aber China sein Veto gegen eine Militärintervention eingelegt hätte, bot sich zugleich auch noch die Gelegenheit, die ICISS-Forderung aufzugreifen, R2P-Interventionen von einem Mandat des Sicherheitsrates abzukoppeln. Dabei taten sich vor allem deutsche Politiker besonders unangenehm hervor. Hierfür plädierte etwa der SPD-Außenexperte Gert Weisskirchen, der aber wenigstens noch einräumte, seine Forderung sei „völkerrechtlich umstritten.“[17] Von solchen Bedenken ließ sich der CDU-Bundestagsabgeordnete Ruprecht Polenz überhaupt nicht beirren: „Ich glaube, wenn sich jetzt nicht schnell konkret etwas ändert in Birma selbst, dass die Helfer ins Land dürfen, dass man die Katastrophenhilfe annimmt, die praktisch an den Grenzen Birmas wartet, dann kommen wir in eine Situation, wo die Verantwortung zum Schutz der Bevölkerung, also diese sogenannte Rechtsfigur ‚Responsibility to Protect‘ wirken würde – und sie ist zwar zunächst abhängig von einem Handeln des Sicherheitsrates -, aber ich darf daran erinnern: sie ist entwickelt worden nach der Intervention im Kosovo, und damals hat bekanntlich der Sicherheitsrat auch versagt. […] Wenn der Sicherheitsrat in einer solchen schwerwiegenden Situation sich nicht in der Lage sieht zu handeln, weil Länder ihn blockieren, die ein Vetorecht haben, dann ist die internationale Staatengemeinschaft aufgefordert, nicht einfach tatenlos zuzusehen.“[18]

Dass mit Wolfgang Neskovic ausgerechnet ein Bundestagsabgeordneter der LINKEN auf den Interventionszug aufsprang, setzte dem Ganzen schlussendlich die Krone auf: „Das ist eine extraordinäre Situation. Aber es geht hier nicht um eine militärische Intervention, um die Verhältnisse umzudrehen oder das Regime zu beseitigen. Es geht um humanitäre Hilfe, darum, das Überleben der Menschen nach einer Naturkatastrophe sicherzustellen. Es gibt einen übergesetzlichen Notstand, der militärisches Einschreiten rechtfertigen würde. Zur Not auch ohne Sicherheitsratsbeschluss.“[19]

Am 1. September 2008 wird der Zwischenbericht des R2P-Beauftragten der Vereinten Nationen, Edward C. Luck, erscheinen. Die oben zitierten Drohungen dienten deshalb u.a. auch dem Zweck, einen Stimmungsteppich auszubreiten, um die R2P endgültig als verbindliches Völkerrechtsprinzip zu verankern. Ebendies wird bereits im so genannten Kuhne-Bericht des Europäischen Parlaments über die Umsetzung der Europäischen Sicherheitsstrategie gefordert, nämlich dass „die menschliche Sicherheit (‚human security‘) ein Kernbegriff im Rahmen der ESS ist, der für die EU – zusammen mit dem Prinzip der Verantwortung zum Schutz (‚responsibility to protect‘) – eine verbindliche politische Richtschnur darstellt, wenn es darum geht zu entscheiden, ob ein Einsatz stattfinden soll, sowie ein starkes politisches Mandat, das sie in die Lage versetzt, in Krisenfällen wirksam einzugreifen.“[20]

Zumindest mittelfristig soll so ein völlig neues Einfallstor für völkerrechtlich gedeckte Militärinterventionen geschaffen und deren internationale Akzeptanz per UN-Deckmäntelchen erhöht werden. So betont das Weißbuch der Bundeswehr vom Oktober 2006: „Als Reaktion auf die Intervention im Kosovo 1999 ist die völkerrechtliche Lehre [sic!] von der ‚Responsibility to Protect‘ entstanden. Auch wenn die Staaten, die sich diese Lehre zu eigen gemacht haben, wahrscheinlich noch nicht in der Mehrheit sind, prägt die Debatte um diesen Begriff doch zunehmend das Denken westlicher Länder. Dies wird langfristig Auswirkungen auf die Mandatierung internationaler Friedensmissionen durch den Sicherheitsrat der Vereinten Nationen haben. Denn gerade, wenn es zum Einsatz militärischer Gewalt kommt, ist die völkerrechtliche Legitimation entscheidend.“[21]

Da die mit der Ausarbeitung des ICISS-Reports befasste Kommission künftig R2P-Interventionen auch für Fälle von „Aufruhr“ und Ähnlichem befürwortet, sollte man sich keine Illusionen machen, dass sich hier gerade ein Universalinstrument zur militärischen Durchsetzung westlicher Interessen herausbildet. Nach Angaben eines am ICISS-Bericht beteiligten Autoren, „gelangte die Kommission in ihrem Report zu dem Schluss, dass das Gebot der Nicht-Intervention gegenüber der internationalen Verantwortung zum Schutz zurücktritt, wenn eine Bevölkerung aufgrund von Bürgerkrieg, Aufruhr, Repression oder Versagen des Staates schweres Leid erfährt und wenn die betreffende Regierung nicht willens oder fähig ist, dies zu beenden oder abzuwenden.“[22]

Myanmar: Paradebeispiel Humanitärer Heuchelei

Dass letztlich das Militärregime zumindest einer Teilöffnung zustimmte, dürfte wohl primär dem Einfluss der ASEAN-Staaten sowie Chinas geschuldet gewesen sein. Die Strategie des Regime Change per Katastrophenhilfe führte stattdessen zu einer Verhärtung des Militärregimes, was wiederum zum Anlass genommen wurde, der R2P Geltung zu verschaffen: „Jede Regierung eines souveränen Staates wird eine solche Handlungsweise zu recht als feindseligen Akt empfinden und schon im Ansatz zu verhindern suchen. Erst recht Burmas Obristen, die angesichts ihrer internationalen Ächtung jedes Eingreifen von außen als Vorspiel zum Regime Change fürchten und das nicht ohne Grund.“[23]

Letztlich verliert die humanitäre Nothilfe durch die offene Verquickung mit dem Militär, das logischerweise völlig andere Interessen im Auge hat, als leidenden Menschen zu helfen, ihre Neutralität und damit ihre Legitimität. Wie das Beispiel Myanmar zeigt, ist diese Neutralität jedoch eine notwendige Bedingung, um Nothilfe überhaupt effektiv gewährleisten zu können. Selbst der R2P-Beauftragte Edward C. Luck ließ diesbezüglich keine Missverständnisse aufkommen: „Sollen wir uns den Weg ins Katastrophengebiet freikämpfen und so auch noch den Krieg ins Land bringen? Man bekommt doch keine Ärzte und Helfer in die Region, indem man eine humanitäre Tragödie in eine militärische Konfrontation verwandelt.“[24] Trotzdem wird die Militarisierung der humanitären Nothilfe gerade im Rahmen der Europäischen Union derzeit massiv vorangetrieben.

Die Militarisierung des EU-Katastrophenschutzes

Bereits im Mai 2006 schlug der ehemalige französische Außenminister Michel Barnier in einem im Auftrag der damaligen österreichischen EU-Präsidentschaft erstellten Bericht die Gründung einer europaweiten Katastrophenschutztruppe (europe aid) vor, vorgeblich um durch die Bündelung von Ressourcen Kosten zu sparen.[25] Brisant ist dabei aber, dass europe aid um militärische Komponenten ergänzt und u.a. auch in Bürgerkriegsszenarien zum Einsatz kommen soll. Bereits in der Einleitung heißt es, die Vorschläge bezögen sich auf die „Krisen und Katastrophen, die wir sehr wahrscheinlich werden bewältigen müssen.“[26] Diese Formulierung kehrt mehrmals wieder, während gleichzeitig versteckt in einer Fußnote Krisen derart definiert werden, „dass von mindestens einer Konfliktpartei sporadisch Gewalt eingesetzt wird.“[27] Im Klartext bedeutet diese Definition, dass humanitäre Nothilfe in Bürgerkriegsszenarien künftig integral mit dem Militär zusammenarbeiten soll, was im Report auch deutlich angesprochen wird: „In den Krisenszenarien und Protokollen ist auch die Ergänzung durch militärische Hilfsmittel systematisch zu prüfen, um ein Höchstmaß an Integration zu gewährleisten und die Kosten für ihre Mobilisierung in Notfällen zu begrenzen.“[28]

Hierdurch würde die humanitäre Nothilfe dauerhaft militarisiert. Mittlerweile zog auch die Europäische Kommission nach, die Barniers Vorschläge in einer Miteilung im März 2008 aufgriff. Spätestens bis Mitte 2009 soll ein „integriertes europäisches Konzept zur Verhütung von Naturkatastrophen“ erstellt werden, bei dem u.a. das Militär helfen soll, „größere konfliktbedingte Notsituationen in- und außerhalb der EU“ zu bewältigen. Als Orientierung werden dabei explizit die Vorschläge des Barnier-Berichts benannt.[28] Auch der Europäische Rat betont: „Um Menschenleben zu retten, könnten militärische Mittel zur Ergänzung ziviler Kapazitäten notwendig sein.“[29]

Wie in vielen anderen Bereichen droht nun auch die humanitäre Nothilfe zu einem integralen Bestandteil des westlichen Militärinterventionismus zu verkommen. Die Debatte um Myanmar und die R2P soll hier ein neues Einfallstor schaffen, um künftig noch häufiger militärisch eingreifen zu können. Wie so häufig liefert die allgegenwärtige humanitäre Heuchelei hierfür eine willkommene Steilvorlage, der leider allzu viele Menschen auf den Leim gehen.

Anmerkungen

[1] Humanitäre Hilfe in Birma militärisch erzwingen?, medico, 20.05.2008.
[2] Deckert, Romas: „Stark und Schnell“: Deutsche Waffen in Birma, Kleinwaffen-Newsletter, November 2007.
[3] MYANMAR – Gedanken darüber weshalb die Regierung Hilfe ablehnt, URL: http://politikglobal.blogspot.com/2008/05/0805-22-myanmar-weshalb-lehnt-die.html (04.06.2008).
[4] Richter, Steffen: Junta unter Pekings Schutz, Zeit online, 09.05.2008.
[5] Oresto, Li: The Cyclone Disaster in Myanmar…and the Human Tragedy of Global Capitalism, Global Research, May 20, 2008.
[6] Kaplan, Robert D.: Aid at the point of a gun, International Herald Tribune, 14.05.2008.
[7] Herden, Lutz: Burma und die Kreuzfahrer von heute, Freitag 21/2008.
[8] Ebd.
[9] Artikel 2 (4) unterstreicht unmissverständlich: „Alle Mitglieder unterlassen in ihren internationalen Beziehungen jede gegen die territoriale Unversehrtheit oder die politische Unabhängigkeit eines Staates gerichtete oder sonst mit den Zielen der Vereinten Nationen unvereinbare Androhung oder Anwendung von Gewalt.“
[10] Eine der ersten Publikationen, die in diese Richtung argumentierte kam aus Reihen des Brookings Institute, einer den US-Demokraten nahestehenden Organisation: Deng, Francis u.a.: Sovereignty as Responsibility: Conflict Management in Africa, Washington 1996.
[11] Wörtlich heißt es im ICISS-Bericht: „Sollten Präventivmaßnahmen zur Lösung oder Eindämmung eines Konfliktes fehlschlagen und sollte ein Staat unfähig oder unwillig sein, der Situation zu begegnen, können Interventionsmaßnahmen von anderen Mitgliedern der größeren Staatengemeinschaft erforderlich sein. Diese Zwangsmaßnahmen können politische, ökonomische oder juristische und in extremen Fällen – aber auch nur dort – auch militärische Maßnahmen einschließen.“ Vgl. Report of the International Commission of Intervention and State Sovereignity (ICISS): The Responsibility to Protect, Ottawa, Dezember 2001, URL: http://www.iciss.ca/pdf/Commission-Report.pdf (04.06.2008).
[12] Ebd., S. 53.
[13] Bericht des Generalsekretärs: In größerer Freiheit: Auf dem Weg zu Entwicklung, Sicherheit und Menschenrechten für alle“, Generalversammlung der Vereinten Nationen, 59. Tagung, Tagungsordnungspunkte 45 und 55, A/59/2005, 21. März 2005.
[14] World Summit Outcome Document, G.A. Res. 60/1 139, U.N. Doc. A/60/L.1 (Sept. 20, 2005).
[15] In UN-Sicherheitsratsresolution 1674 (28.4.2006) wurden die diesbezüglichen Passagen aus dem Abschlussdokument der Generalversammlung ausdrücklich bestärkt und am 31. August 2006 wurde die Entsendung (bzw. dessen Versuch) von UN-Truppen nach Darfur explizit mit Verweis auf die Responsibility to Protect begründet.
[16] Raabe, Julia: Kein Zwang zur Hilfe, Der Standard, 20.05.2008.
[17] Militärintervention in Birma: Weisskirchen rudert zurück, ntv, 13.05.2008.
[18] Ruprecht Polenz: UN müssen gegenüber Birma Stellung beziehen, Deutschlandfunk, 13.05.2008.
[19] Politiker drohen Birma mit Militäraktion, Abendzeitung, 13.05.2008.
[20] Kuhne, Helmut: Entwurf eines Berichts über die Umsetzung der Europäischen Sicherheitsstrategie und der ESVP (2008/2003(INI)), 2008/2003(INI) 31.1.2008, S. 7. Allerdings ist bei aller „Verbindlichkeit“ völlig klar, dass der Wirkungsbereich der R2P auch Grenzen hat, nämlich wenn es darum ginge, über dieses Konstrukt in die Belange von Großmächten einzugreifen: „Eine militärische Intervention gegen Großmächte scheidet daher aus.“ Takur, Ramesh: Menschliche Sicherheit, Intervention und die Verantwortung zum Schutz, in: Ulbert, Cornelia/Werthes, Sascha: Menschliche Sicherheit: Globale Herausforderungen und regionale Perspektiven, Baden Baden 2008, S. 110-122, S. 118.
[21] Weißbuch der Bundeswehr, Oktober 2006, S. 46.
[22] Takur 2008, S. 112.
[23] Herden 2008.
[24] Krieg nach der Katastrophe? Burma und die Schutzverantwortung, URL: http://www.espace.ch/artikel_522873.html (04.06.2008).
[25] Barnier, Michel: Für eine europäische Katastrophenschutztruppe: europe aid, Mai 2006.
[26] Ebd., S. 3.
[27] Ebd., S. 33, FN 25.
[28] Ebd., S. 13.
[29] Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament und den Rat: Stärkung der Katastrophenabwehrkapazitäten der Europäischen Union, Brüssel, 05.03.2008 KOM(2008) 130 endgültig.
[30] Joint Statement by the Council and the Representatives of the Governments of the Member States meeting within the Council, the European Parliament and the European Commission , Official Journal C 025 , 30/01/2008.

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