IMI-Analyse 2008/003
„Wenn die NATO sich erweitert, ist die Welt bereichert“
Sachfragen und Runderneuerung - auf der Münchner Sicherheitskonferenz wurde der NATO-Kriegskurs weiter forciert
Jürgen Wagner (11.02.2008)
https://www.imi-online.de/download/IMI-Analyse2008-003.pdf
Es hatte heftig gekracht im Vorfeld der diesjährigen Münchner Sicherheitskonferenz, dem wichtigsten Treffen der NATO-Kriegelite. Auslöser war der Brief von US-Verteidigungsminister Robert Gates, in dem er die Verbündeten, allen voran Deutschland, dazu aufforderte, sich auch mit Truppen im heftig umkämpften Süden Afghanistans zu engagieren. Vor diesem Hintergrund wurde auf der Konferenz, die dafür bekannt ist, dass dort des Öfteren einmal Klartext geredet wird, ein verhältnismäßig moderater Ton angeschlagen. Dies dürfte nicht zuletzt deshalb der Fall gewesen sein, weil die eigentliche Bombe, zumindest aus deutscher Sicht, nicht auf der Konferenz selber platzte, sondern in Form der parallel zur Rede von Verteidigungsminister Franz-Josef Jung eingehenden Tickermeldung, die Bundesregierung plane eine erhebliche Ausweitung ihres Kriegsbeitrags in Afghanistan.
Zwar dominierten auf der Konferenz Sachfragen – Russland, Kosovo und natürlich Afghanistan -, sie bildete aber auch den Auftakt für die Bestrebungen, auf dem nächsten Bündnisgipfel in Bukarest Anfang April die Neufassung des Strategischen Konzeptes der NATO aus dem Jahr 1999 in Auftrag zu geben. Damit soll der Auftakt für die Runderneuerung der Allianz gemacht werden, mit der sie sich fit für künftige Kriege machen will und die pünktlich bis zum 60jährigen Jubiläum des Bündnisses im April 2009 abgeschlossen sein soll.
Afghanistan: Ausweitung des deutschen Kriegsengagements
Die Aufregung war groß, als US-Verteidigungsminister Robert Gates die Bundesregierung mit seinem Brief dazu aufgefordert hatte, endlich auch Truppen in den umkämpften Süden Afghanistans zu entsenden. Als „Unverschämtheit“ bezeichneten Stimmen aus dem Verteidigungsministerium Gates‘ Tonfall[1] und auch Außenminister Frank-Walter Steinmeier vergaß auf der Sicherheitskonferenz nicht zu erwähnen, er habe die „Schärfe befremdlich“ gefunden, mit der die Forderungen vorgebracht worden seien. Genauer besehen war der Brief jedoch keineswegs allzu unwirsch[2], weshalb ersten Auflösungserscheinungen zum Trotz – der ehemalige Leiter des Planungsstabes im Verteidigungsministerium, Ulrich Weisser, hatte bereits verlautbaren lassen, man müsse „auch darüber nachdenken, sich ganz aus Afghanistan zurückzuziehen“[3] – nun auf der Sicherheitskonferenz in dieser Frage demonstrative Einigkeit an den Tag gelegt wurde.
Ein Kernpunkt in seiner Rede auf der Tagung, der eigentlich alles über das derzeitige Schmierentheater sagt, war die Aussage von Verteidigungsminister Franz-Josef Jung, die Verbündeten sollten doch bitte „Verständnis“ für die Probleme der Bundesregierung aufbringen. Man müsse berücksichtigen, so Jung als Begründung, dass gerade in Deutschland aufgrund der „hohen Sensibilität mit unserer Geschichte“ eine große Skepsis gegenüber Bundeswehreinsätzen vorherrsche. US-Verteidigungsminister Robert Gates brachte das Public Relations Problem auf den Punkt: „Während nahezu alle Regierungen der Allianz die Bedeutung der Afghanistan-Mission hoch einschätzen, ist die Unterstützung durch die europäische Öffentlichkeit gering. Viele Europäer stellen die Relevanz unserer Handlungen in Frage oder bezweifeln, ob der Einsatz das Leben ihrer Söhne und Töchter wert ist. Im Ergebnis sprechen sich viele für einen Rückzug der Truppen aus.“ Und in der Tat lehnt die Mehrheit der deutschen Bevölkerung die Beteiligung am NATO-Krieg ab. Zuletzt sprachen sich 55% gegen den gesamten Einsatz und sogar 86% gegen eine Ausweitung in den umkämpften Süden aus.
Jung setzte deshalb, ebenso wie NATO-Generalsekretär Jaap de Hoop Scheffer darauf, dass man künftig der Bevölkerung die „Erfolge“ des Einsatzes besser vermitteln müsse. Gebetsmühlenartig beklagten beide, dass den angeblich erheblichen Fortschritten in den Medien viel zu wenig Beachtung geschenkt werde, eine Einschätzung, die sich allerdings nicht mit der Tatsache deckt, dass sich die bewaffneten Zusammenstöße von 2005 auf 2006 verdreifacht haben und im Jahr 2007 nochmals um ein Drittel angestiegen sind. Darüber hinaus kommen auch die meisten Analysten, wie bspws. der dem Kriegseinsatz keineswegs abgeneigte Senlis Council, zu einer anderen Einschätzung: „Die Sicherheitslage hat mittlerweile die Dimension einer echten Krise angenommen.“[4] Die International Crisis Group kommt zu einem ähnlichen Schluss: „Afghanistan ist noch nicht verloren, aber die Anzeichen sind nicht gut.“[5] Summa summarum: „Die meisten Experten kommen zu dem Ergebnis, dass sich die Sicherheitslage im Jahr 2007 kontinuierlich verschlechtert hat.“[6] Selbst US-Senator Lindsay Graham wollte auf der Sicherheitskonferenz nicht vorbehaltlos in die Jubelarie einstimmen: „Ich bin nicht sicher, ob wir in Afghanistan siegen, aber wenn wir verlieren, wären die Konsequenzen gigantisch.“ Hierin jedenfalls ist man sich auf beiden Seiten des Atlantiks einig: ein Scheitern am Hindukusch kommt nicht in Frage, koste es was es wolle.
Der eigentliche Grund, weshalb der im Vorfeld ausgetragene Streit nicht weiter eskalierte, bestand aber darin, dass sich Deutschland zu einer massiven Ausweitung seiner Kriegsführung in Afghanistan bereit erklärt hat. Schon vor Beginn der Sicherheitskonferenz war klar, dass sich die Bundesregierung dazu entschieden hatte, im Sommer die 200-250 Mann starke Schnelle Eingreiftruppe (Quick Reaction Force, QRF) von den Norwegern zu übernehmen. Ihr Aufgabenspektrum umfasst explizit auch offensive Kampfoperationen, nämlich den „Einsatz gegen militante Kräfte im Einsatzgebiet, die die Sicherheitslage gefährden“ sowie „gewaltbereite Menschenmengen mit nichtletalen Mitteln unter Kontrolle zu bringen.“[7] Der eigentliche Hammer kam aber, wie bereits erwähnt, parallel zur Rede Jungs auf der Sicherheitskonferenz per DPA-Tickermeldung: „Die Bundeswehrmission in Afghanistan soll nach Plänen im Verteidigungsministerium deutlich ausgeweitet werden. Nach dpa-Informationen in München sollte aus militärischer Sicht die Obergrenze von jetzt 3500 auf 5000 bis 6000 Soldaten aufgestockt werden. Dies sei aber vermutlich politisch in Deutschland nicht durchsetzbar. Eine Anhebung auf 4500 sei aber dringend nötig, um Handlungsspielraum zu haben, hieß es. Ferner wolle das Ministerium das Einsatzgebiet um eine Provinz im Westen Afghanistans ausdehnen.“[8] Damit wird das Mandat jedoch lediglich an die Realität vor Ort angepasst, denn die QRF führte bereits im Oktober und November 2007 Kampfoperationen in Westafghanistan durch (Harekate Yolo I + II). Die Erweiterung des Einsatzspektrums für umgangreiche Bodeneinsätze im Westen (logistisch war Deutschland ohnehin schon dabei) trägt dem lediglich Rechnung, bedeutet aber gleichzeitig eine graduell neue Beteiligung deutscher Soldaten an der Aufstandsbekämpfung am Hindukusch. Gleichzeitig soll das Mandat nicht wie bisher für 12, sondern für 18-24 Monate erteilt werden, um so zu verhindern, dass dieses Thema in den Wahlkampf 2009 hineinspielt. Entgegen den ursprünglichen Meldungen, die Ausweitung des Einsatzes werde noch im Frühsommer erfolgen, scheint es nun eher darauf hinauszulaufen, dass dies erst im Zuge der turnusgemäßen Mandatsverlängerung im Herbst erfolgen wird.
Trotzdem ist dies wohl der Grund, weshalb auf der Sicherheitskonferenz von US-Seite so moderate Töne angeschlagen wurden. Überhaupt riecht die ganze Angelegenheit nach einem abgekarteten Spiel: Während die Bundesregierung vordergründig die „ungebührlichen“ Forderungen des Gates-Briefs vehement ablehnen kann und so der Stimmung in der Bevölkerung entspricht, wird im Windschatten dessen die deutsche Kriegsführung in Afghanistan auf ein neues Level gehoben – abermals fast ohne öffentliche Debatte. Mit einer klassischen Salamitaktik verschiebt sich damit der deutsche Einsatz immer weiter von der ursprünglich angepriesenen Stabilisierungs- und Wiederaufbaumission in Richtung eines offensiven Kampfeinsatzes. Dementsprechend äußerte sich Außenminister Steinmeier, deutsche Soldaten müssten die Sicherheit in Afghanistan „auch durch Gebrauch von Schusswaffen“ gewährleisten. Das deutsche Engagement reduziere sich nicht „auf Schulenbauen und Brunnenherrichten.“[9] Hiermit rückt der „Operationsschwerpunkt Aufstandsbekämpfung“, wie unlängst von der regierungsnahen Stiftung Wissenschaft und Politik gefordert, endgültig ins Zentrum der Bundeswehrtätigkeit in Afghanistan (siehe IMI-Analyse 2008/001).
Ein Streitpunkt, der sich zwar am Thema Afghanistan entzündet, dessen Bedeutung jedoch weit darüber hinausreicht, wurde bislang jedoch noch nicht zur US-amerikanischen Zufriedenheit gelöst: die Forderung, die so genannten „caveats“ generell abzuschaffen. Hierbei handelt es sich um Sonderregeln, in denen jedes NATO-Mitglied gesondert festlegt, wie weit sich seine Truppen in die Kriegsführung am Hindukusch und anderswo verstricken dürfen: „In der Nato sollten nicht einige Verbündete den Luxus haben, sich nur für stabilisierende und zivile Operationen zu entscheiden und damit andere Verbündete zu zwingen, eine unangemessen große Last beim Kämpfen und Sterben zu tragen“, sagte Gates auf der Münchner Sicherheitskonferenz. NATO-Generalsekretär Scheffer sekundierte dem US-Verteidigungsminister, indem er die Notwendigkeit betonte, „Limitierungen der Truppen, die so genannten caveats, aufzuheben.“
NATO-Russland: Weiter Eiszeit
Interessanterweise waren die wichtigsten Protagonisten, was die Erörterung der NATO-Russland-Beziehungen anbelangt, auf der Sicherheitskonferenz zwar nicht persönlich zugegen, dennoch aber omnipräsent.
Da war auf der einen Seite der russische Präsident Wladimir Putin, dessen letztjährige Brandrede, in der er mit aller Schärfe mit der Kriegspolitik der NATO ins Gericht ging, von vielen Beobachtern durchaus zutreffend als Ausdruck eines „Neuen Kalten Krieges“ zwischen den Bündnisstaaten und Russland gewertet wurde (siehe IMI-Analyse 2007/03). Auch wenn Putin der versammelten NATO-Kriegselite in diesem Jahr nicht persönlich vor Ort die Leviten las, so sendete er doch unmittelbar vor der Konferenz in einer Rede bei der Strategiesitzung des Staatsrates die unmissverständliche Botschaft aus, dass die beiderseitigen Beziehungen im letzten Jahr um keinen Deut besser geworden sind, im Gegenteil: „Es wurde bereits ein neues Wettrüsten entfesselt. Und wir waren nicht diejenigen, die angefangen haben“, so Putin. „Die Nato expandiert. Wir gaben unsere Stützpunkte auf Kuba und in Vietnam auf. Und was bekamen wir dafür? Neue amerikanische Stützpunkte in Rumänien und Bulgarien. […] Wir sind zu Vergeltungsmaßnahmen gezwungen. In den nächsten Jahren soll die Produktion neuer Waffensysteme aufgenommen werden, die den Verteidigungsmöglichkeiten anderer Staaten in nichts nachstehen und in einigen Fällen sogar noch besser sind.“[10]
Dass diese markigen Worte nicht bloß Gerede sind, unterstrich Putin, indem er bereits Mitte letzten Jahres den Vertrag über Konventionelle Streitkräfte in Europa (KSE) auf Eis legte, nachdem sich die NATO kontinuierlich weigerte, ihn zu ratifizieren. Die Hauptsorge Moskaus gilt aber den Plänen, Teile des US-Raketenabwehrsystems – angeblich wegen der Gefahr aus dem Iran – in Polen und Tschechien zu stationieren. Nachdem mittlerweile zahlreiche Hinweise den Verdacht bestätigen, dass die geplanten Installationen gegen den Iran wenig, aber gegen Russland sehr viel Sinn machen[11], wertet Moskau dies richtigerweise als einen gezielten Versuch Washingtons, Schritt für Schritt die atomare Oberhoheit über Russland zu erlangen.[12]
Deshalb ist es umso problematischer, dass mittlerweile auch die europäischen NATO-Staaten das Projekt nicht nur mehrheitlich unterstützen, sondern sogar den Aufbau eines NATO-Raketenabwehrschildes – wohlgemerkt zusätzlich zu den US-Installationen – befürworten. So gab Generalsekretär Scheffer bei seiner Rede auf der Sicherheitskonferenz an, man wisse ja nun, dass eine NATO-Raketenabwehr technisch realisierbar sei, weshalb nun der nächste Schritt ergriffen werden müsse. Er spielte hiermit auf die Fertigstellung einer 10.000seitigen Machbarkeitsstudie an, die weiterhin geheim gehaltenen wird und zu genau diesem Ergebnis gelangt. Da die Studie aber ausgerechnet von den Konzernen verfasst wurde, die später von dem Projekt, dessen Finanzrahmen auf 5-20 Mrd. Euro veranschlagt wird, profitieren werden, handelt es sich hierbei um eine nicht sehr glaubhafte Quelle. Trotzdem kündigte Scheffer an, er erhoffe sich von dem Gipfel in Bukarest, dass dort ein klares Zeichen in Richtung Aufbau eines solchen NATO-Schildes gesetzt werde. Presseberichten zufolge könnte die endgültige Entscheidung dann schließlich zum 60jährigen Geburtstag der Allianz im April 2009 unter Dach und Fach gebracht werden.[13]
Der stellvertretende russische Ministerpräsident Sergej Iwanow reagierte auf diese Pläne bei der Sicherheitskonferenz mit folgenden Worten: „Wenn diese Entscheidung ohne Berücksichtigung der russischen Interessen getroffen wird, so wird die Antwort Russlands effektiv und adäquat […] sein.“ Schon länger hat Moskau angekündigt, sollte tatsächlich eine solche Raketenabwehr in seiner unmittelbaren Nachbarschaft errichtet werden, werde es mit der Aufrüstung seines Raketenarsenals (v.a. die Topol-M) reagieren. Darüber hinaus wird sogar die Aufkündigung des INF-Vertrags von 1987 erwogen, der das Produktionsverbot aller Raketen mit mittlerer und kürzerer Reichweite (500 bis 5500 Kilometer) festschreibt. Da atomare Kurz- und Mittelstreckenraketen aber erheblich kostengünstiger sind, stellen sie aus Moskaus Sicht eine effektive Maßnahme dar, um Washingtons Versuchen, die strategische Balance zu verändern, entgegen zu wirken. Dies würde vor allem für Europa gravierende Auswirkungen haben: „Falls sich Russland vom INF-Vertrag zurückzieht, werden sich die Vereinigten Staaten und die NATO in Kürze einer komplett neuen Generation von fortgeschrittenen Kurz- und Mittelstreckenraketen gegenübersehen, die abermals europäische Städte einer möglichen nuklearen Vernichtung aussetzen werden.“[14] Gleichzeitig wiederholte Iwanow in München aber auch das bereits mehrmals vorgebrachte Angebot, zu einer drastischen Reduzierung seines Atomwaffenarsenals bereit zu sein, sollten die USA ähnliche Schritte unternehmen. Bedingung hierfür ist allerdings, dass diese Abrüstung, wie Iwanow unmissverständlich klar machte, irreversibel und juristisch bindend erfolgt. Denn Washington ist lediglich bereit, sich auf nicht-verbindliche Reduzierungen einzulassen. Hierdurch will man sich die Option offen halten, jederzeit massiv wiederaufrüsten zu können, ohne dass Moskau dazu in ähnlichem Ausmaße in der Lage wäre.
Statt diese historische Gelegenheit, zu einer weiteren nuklearen Abrüstung zu gelangen, aufzugreifen, versuchen die Vereinigten Staaten weiter unbeirrt eine Erstschlagfähigkeit und damit nukleare Dominanz zu erlangen.[15] Mehr noch, Russlands berechtigte, wenn auch teils natürlich auch recht unwirsch vorgebrachten Einwände und Sorgen, werden mindestens ebenso undiplomatisch beiseite gefegt bzw. ignoriert. Putins Drohung mit einem neuen Wettrüsten ist die logische Konsequenz dieser Entwicklung, auf die ausgerechnet der designierte republikanische Präsidentschaftskandidat John McCain, der kurzfristig seine Teilnahme in München absagen musste, in einem explizit an die Teilnehmer der Sicherheitskonferenz adressierten Beitrag überaus drastisch reagierte. Recht unverblümt forderte McCain darin, Russland aus der G8 rauszuwerfen: „Wir brauchen eine gemeinsame Linie des Westens gegen ein revanchistisches Russland, dessen Führer offenbar eher einen alten Konfliktkurs einschlagen wollen, als sich dem demokratischen Frieden des Westens anzuschließen. Wir sollten dafür sorgen, dass die G 8 wieder ein Klub führender Marktdemokratien wird: Er sollte Indien und Brasilien aufnehmen, aber Russland ausschließen.“[16]
Kosovo: Konflikt vorprogrammiert
Nach gegenwärtigem Stand ist damit zu rechnen, dass die kosovo-albanische Seite in Kürze die Unabhängigkeit der Provinz erklären wird. Ebenso entschieden scheint die Anerkennung durch die USA, Deutschland, Frankreich und andere EU-Staaten zu sein, wobei der Kosovo aber unter quasi-kolonialer Beaufsichtigung der Europäischen Union verbleiben soll („Unabhängigkeit unter internationaler Überwachung“). Dies wäre jedoch eine Verletzung der weiterhin gültigen UN-Resolution 1244, die festlegt, dass der Kosovo integraler Bestandteil Jugoslawiens bzw. seines Rechtsnachfolgers Serbiens ist. Mit einem solchen eklatanten Völkerrechtsbruch würde das staatliche Souveränitätsrecht und der Gleichheitsgrundsatz mit Füßen getreten.
Ein wie auch immer unabhängiges Kosovo wird aber vom gesamten politischen Sektrum Serbiens abgelehnt. Selbst der pro-EU-Mann Boris Tadic, dem Brüssel kurz vor den Wahlen Anfang Februar 2008 unter die Arme griff, indem es Serbien spezielle Kooperationsabkommen anbot, um ihn – erfolgreich, wie sich inzwischen gezeigt hat – gegen seinen pro-russischen Herausforderer Tomislav Nikolic zu unterstützen, ließ diesbezüglich in München keine Zweifel aufkommen. In seiner Auftaktrede am Freitagabend betonte er: „Wir können die Zerstückelung unseres Landes nicht akzeptieren. In dieser Frage unterscheiden wir uns von keinem anderen international anerkannten Staat. […] Hierbei handelt es sich um ein Kernprinzip, die Grundlage unseres nationalen Interesses. Und dies wird sich auch nicht ändern. […] Der Präzedenzfall, der durch eine Teilung Serbiens gegen seinen Willen geschaffen würde – und genau dies bedeutet eine aufgezwungene Unabhängigkeit des Kosovo in Wahrheit – könnte wiederum zur Eskalation vieler Konflikte, zum Wiederaufflammen bislang eingefrorener Konflikte und zur Anfachung wer weiß wie viel neuer Konflikte führen. […] Lassen sie mich hier einige deutliche Worte finden. Der einzige Weg, Streitigkeiten im Europa des 21. Jahrhundert zu schlichten, ist durch Verhandlungen. […] Sollte es in den nächsten Wochen nicht zu ernsthaften Verhandlungen kommen, so befürchte ich, dass alle Parteien hierfür schlussendlich einen schrecklich hohen Preis zahlen werden.“ Auch Iwanow machte aus seiner diesbezüglichen Position keinen Hehl: „Wenn die Unabhängigkeit des Kosovo einseitig erklärt wird, verstößt das gegen internationales Recht und wird die Büchse der Pandora öffnen.“
Da die NATO zurecht befürchtet, Serbien könnte eine einseitige Unabhängigkeit nicht tatenlos hinnehmen, hat sie bereits mit einer Aufstockung ihres KFOR-Kontingents reagiert und sich mit mehreren Manövern (z.B. Noble Midas07) auf eine neuerliche Auseinandersetzung mit Serbien vorbereitet. Vor diesem Hintergrund hört sich die Aussage von Jaap de Hoope Scheffer auf der Sicherheitskonferenz wie eine Drohung an: „Die NATO ist bereit sicherzustellen, dass der Kosovo stabil bleibt.“ Serbien habe, so Scheffer weiter, „der Verpflichtung einer modernen Demokratie nachzukommen.“ Genau: nämlich anstandslos nach der Pfeife der NATO-Staaten zu tanzen.
Runderneuerung bis 2009: Das neue Strategische Konzept
Generalsekretär Jaap de Scheffer betonte in München unmissverständlich, dass „die NATO-Regierungschefs bis zum Gipfel 2009 ein neues Strategisches NATO-Konzept verabschieden sollen.“ Damit soll die Allianz an das neue Aufgabenspektrum, also die steigende Zahl von Kriegseinsätzen, angepasst werden. Schon das Weißbuch der Bundeswehr (S. 28) vom Oktober 2006 beschrieb die künftige Priorität des westlichen Bündnisses folgendermaßen: „Die Anstrengungen der NATO werden sich künftig stärker auf Stabilisierungseinsätze und militärische Unterstützung für die Wiederherstellung staatlicher Strukturen richten. Dabei kommt es zunehmend darauf an, alle der NATO zur Verfügung stehenden politischen und militärischen Instrumente und Kapazitäten koordiniert zu nutzen.“ Einen Monat später auf dem NATO-Gipfel in Riga wurde die Comprehensive Political Guidance (CPG) verabschiedet, ein Planungsdokument, das die Richtlinien für die Neufassung des Strategischen Konzeptes vorgibt. Auch die Die CPG betont die „wachsende Bedeutung von Stabilisierungsoperationen und die militärische Unterstützung von Wiederaufbaubemühungen im Anschluss an einen Konflikt.“ (Absatz 2,6)
Für solche „Stabilisierungseinsätze“, also quasi-koloniale Besatzungsmissionen wie im Kosovo und in Afghanistan, setzt die NATO auf die Zivil-militärische Zusammenarbeit. Kerngedanke des Konzepts ist es, sämtliche zivilen Kapazitäten für solche Kolonialeinsätze nutzbar zu machen. So gab US-Verteidigungsminister Robert Gates in München an, dass der „Krieg im 21. Jahrhundert nicht mehr länger die strikte Trennung zwischen zivilen und militärischen Komponenten aufweist. Es gibt ein Kontinuum, das von Kampfoperationen über ökonomische Entwicklung, Regierungsführung bis hin zum Wiederaufbau reicht – häufig alles zur selben Zeit.“ Während solche Truppen auf ad-hoc Basis in Form der Regionalen Wiederaufbauteams in Afghanistan (Provincial Reconstruction Teams, PRTs) bereits operieren, fehlt bislang ein generelles Besatzungs- und Aufstandsbekämpfungskonzept. Nach Gesprächen der NATO-Außenminister am 7. Dezember 2007 wurde nun beschlossen, dieses Konzept bis zum Bukarester Gipfel vorzulegen, das dann auch in die Überlegungen zum neuen Strategischen Konzept einfließen soll. Verteidigungsminister Jung bestätigte in München diesen Fahrplan nochmals.
Aber auch strukturell stehen weit reichende Veränderungen an. So mahnte der französische Verteidigungsminister Hervé Morin in seiner Münchner Rede die Effektivierung der NATO-Kommandostrukturen an, worin er von Hoop Scheffer unterstützt wurde. Auch die Frage einer nochmaligen NATO-Erweiterung wurde angesprochen. Während sich der polnische Vertreter dabei sogar für die Aufnahme Georgiens und der Ukraine aussprach, scheint es für einen solchen – von Russland aufs Schärfste abgelehnten – zweiten „Big Bang“ derzeit noch keinen Konsens zu geben. Dass aber zumindest Kroatien und Mazedonien 2009 aufgenommen werden, ist sehr wahrscheinlich. Diesbezüglich schoss der US-Senator Lindsay Graham mit dem denkwürdigen Satz „Wenn die NATO sich erweitert, ist die Welt bereichert“ den sprichwörtlichen Vogel ab. Er verstehe Russlands diesbezügliche Bedenken nicht, schließlich könne sich niemand ernsthaft von einer Allianz bedroht fühlen, die sich für „Demokratie und freie Märkte“ einsetze.
In diesen Zusammenhang gehört auch eine weitere, grundsätzliche Neuausrichtung des Bündnisses, nämlich die Überlegungen, die bisherige Territorialfixierung der Mitgliedsstaaten auf den euro-atlantischen Raum aufzugeben und damit aus der Allianz so etwas wie einen weltweiten „Club der Demokratien“ zu machen. So sprach sich bspws. eine Studie unter der Leitung des ehemaligen spanischen Ministerpräsidenten José Maria Aznar dafür aus, Länder wie Australien, Israel und Japan in das Bündnis aufzunehmen.[17] Ähnliche Vorschläge kamen auch von Karl-Heinz Kamp, dem Chefanalysten der Konrad-Adenauer Stiftung.[18] Ganz prominent wurden diese Überlegungen von John McCain unmittelbar vor der Sicherheitskonferenz aufgegriffen: „Um die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts zu meistern, unterstütze ich die Gründung einer ‚Liga der Demokratien‘.“[19] Hiermit wird bezweckt, die Entscheidung über Krieg und Frieden von den Vereinten Nationen auf die westlichen Hauptstädte zu übertragen. Denn, wie Befürworter betonen, eine solche Allianz sei hinreichend legitimiert, auch ohne UN-Mandat Präventivkriege zu führen, sollte ein russisches oder chinesisches Veto vorliegen. Aufnahme in diese „globale NATO“ finden hierbei allerdings nur „moralisch verlässliche“ und „verantwortlich handelnde“ Staaten. Der große Vorteil sei, dass hierdurch „alle Mitglieder des Sicherheitsrates realisieren, dass sie nicht mehr länger über ein uneingeschränktes Monopol in der Frage der Autorisierung präventiver Gewaltanwendung verfügen.“[20] Auch wenn diesbezüglich innerhalb des nächsten Jahres kaum eine Entscheidung zu erwarten sein dürfte, handelt es sich perspektivisch sicherlich um eine der relevantesten Debatten für die zukünftige Ausrichtung des Bündnisses.
Wenig überraschend war, dass in den offiziellen Konferenzbeiträgen den im Januar 2008 veröffentlichten Vorschlägen fünf hochrangiger NATO-Strategen – unter ihnen der frühere Oberkommandierende der Allianz, John Shalikashvili und der ehemalige Vorsitzende des NATO-Militärkomitees, Klaus Naumann – aufgrund ihrer Brisanz wenig Beachtung geschenkt wurde. Neben der gerade mit Blick auf den Iran besorgniserregenden Forderung, künftig nukleare NATO-Präventivschläge nicht ausschließen zu wollen, stachen dabei besonders drei weitere Forderungen hervor. Erstens wollen die Strategen, dass die NATO „das Konsensprinzip auf allen Ebenen unterhalb des NATO-Rates aufgibt und auf Komitee- und Arbeitsgruppenebene Mehrheitsentscheidungen einführt.“ Zweitens könne zwar kein Mitgliedsstaat dazu gezwungen werden, sich an einem Krieg zu beteiligen. Sollte er sich jedoch weigern, sollte er „auch kein Mitspracherecht hinsichtlich militärischer Operationen erhalten. Aus diesem Grund schlagen wir als zweite Veränderung vor, dass nur die Staaten, die zu einer Mission beitragen – das bedeutet militärische Kräfte in einer Militäroperation – ein Mitspracherecht bezüglich dieser Operation erhalten.“ Als letzten Punkt plädieren die NATO-Planer dafür, den Rahmen für die völkerrechtlich legale Anwendung militärischer Gewalt um das Instrument der humanitären Intervention (Responsibility to Protect) zu erweitern und derartige Kriege – wie seinerzeit am Beispiel des Angriffskriegs gegen Jugoslawien vorexerziert – auch ohne Zustimmung des UN-Sicherheitsrates durchzuführen: „Zusätzlich zum offensichtlichen Fall der Selbstverteidigung erachten wir die Anwendung von Gewalt auch bei Abwesenheit einer Autorisierung durch den UN-Sicherheitsrat als legitim, wenn die Zeit nicht ausreicht, ihn zu involvieren oder sich der Sicherheitsrat als unfähig erweist, zeitnah eine Entscheidung zu treffen, sollten Maßnahmen nötig sein eine große Anzahl von Menschen zu schützen.“[21]
Dass diese heiklen und durchaus kontroversen Forderungen, mit denen zusammengenommen die NATO-Kriegsführung erheblich effektiviert würde, aus den öffentlichen Reden ausgespart wurden, ist, wie bereits erwähnt, nicht sonderlich überraschend. Sie dürften aber in den traditionell bei der Sicherheitskonferenz wichtigen Fluggesprächen Thema gewesen sein und werden für die kommende Debatte um die Neuausrichtung der Allianz sicher von größter Bedeutung sein.
Peinlichkeiten am Rande
Fast noch lächerlicherer als der alljährliche Witz in Form der Verleihung der so genannten „Friedensmedaille“, mit der nach dem EU-Außenbeauftragten Javier Solana und dem US-Hardliner John McCain dieses Jahr „stellvertretend für alle NATO-Soldaten im Auslandseinsatz“ der kanadische Soldat Michael O’Rourke ausgezeichnet wurde, war die Überreichung des Bundesverdienstkreuzes an den scheidenden Organisator der Sicherheitskonferenz Horst Teltschik. Sein Nachfolger ist bereits gefunden, der ehemalige Verteidigungsstaatssekretär Wolfgang Ischinger, der sich unter anderem um die Vorbereitung des NATO-Angriffskriegs gegen Jugoslawien „verdient“ gemacht hatte.[22]
Schon allein damit ist klar, dass auch künftig der Protest gegen die Sicherheitskonferenz wichtig bleiben wird. Erfreulicherweise versammelten sich in diesen Jahr erneut etwa 7000 demonstrierende (auch wenn die Medien krampfhaft versuchten, die Teilnehmerzahl herunterzuschreiben), die dafür sorgten, dass das Treffen der NATO-Kriegstreiber nicht geräuschlos und unwidersprochen über die Bühne gehen konnte.
Anmerkungen:
[1] Koelbl, Susanne/Szandar, Alexander: Gezieltes Töten, Spiegel Online, 31.01.2008.
[2] Der Brief ist im Original unter http://www.bild.de/BILD/news/politik/2008/02/02/bundeswehr/hg-wutbief,geo=3661760.html einzusehen.
[3] Kampfeinsätze, german-foreign-poilcy.com, 08.02.2008.
[4] Senlis Council: Stumbling into Chaos: Afghanistan on the brink, November 2007, S. 7.
[5] International Crisis Group: Afghanistan: The Need for International Resolve, Asia Report N°145, 6 February 2008.
[6] Cordesman, Anthony H.: Armed Nation Building:The Real Challenge in Afghanistan, CSIS, November 2007, S. 28. Eine der wenigen Ausnahmen, die eine Verbesserung der Lage betont und auf die sich die Bundesregierung auch bezieht ist Koehler, Jan/Zürcher, Christoph 2007: Assessing the Contribution of International Actors in Afghanistan. Results from a Representative Survey, SFB-Governance Working Paper Series, No. 7, DFG Research Center (SFB) 700, Berlin, October 2007. Hierbei handelt es sich aber um eine extrem zweifelhafte Quelle, weil die Umfrage „bereits Anfang 2007 – vor der aktuellen Eskalation – durchgeführt wurde und sich auf vier Provinzen beschränkte, die laut ‚Senlis Council‘ zu den ruhigsten des Landes gehören.“ Kampfeinsätze, german-foreign-poilcy.com, 08.02.2008.
[7] Quick Reaction Force – Eine Schnelle Eingreiftruppe der ISAF, bundeswehr.de, 18.01.2008.
[8] Ministerium plant erhebliche Ausweitung des Afghanistan-Einsatzes, DPA, 09.02.2008.
[9] FAZ, 06.02.2008.
[10] Putin wirft dem Westen Rüstungswettlauf vor, DPA, 09.02.2008.
[11] Lewis, George N./Postol, Theodore A.: European Missile Defense: The Technological Basis of Russian Concerns, Arms Control Today, October 2007.
[12] Mitsch, Thomas/Wagner, Jürgen: Erstschlag und Raketenabwehr: Die nukleare Dimension des Neuen Kalten Krieges und die Rolle der NATO, in: AUSDRUCK – Das IMI-Magazin (Juni 2007).
[13] NATO preparing decision on missile defense, China View, 08.02.2008.
[14] Ritter, Scott: Russia Could Go Ballistic on American Missile Defense, Alternet, 23.02.2007.
[15] Mitsch/Wagner 2007.
[16] McCain, John: Vor der Sicherheitskonferenz: In alter Freundschaft, Süddeutsche Zeitung, 07.02.2008.
[17] NATO: An Alliance for Freedom, FAES 2005; vgl. auch Biscop, Sven: NATO, ESDP and The Riga Summit, Egmont Papers 11, May 2006.
[18] Kamp, Karl-Heinz: NATO-Summit 2006 – The Alliance in Search of Topics, Berlin: Konrad Adenauer Foundation 2006.
[19] McCain 2008.
[20] Buchanan, Allen/Keohane, Robert O.: The Preventive Use of Force: A Cosmopolitan Institutional Proposal, o.o, o.j., URL: http://islandia.law.yale.edu/hathaway/files/001-022_buch_keo.pdf (03.04.2007); Vgl. auch Hoffmann, Stanley: America Goes Backward, in: New York Review of Books, Vol. 50, No. 10 (2003).
[21] Naumann, Klaus/Shalikashvili, John/The Lord Inge/Lanxade, Jacques/Breemen, Henk van den: Towards a Grand Strategy for an Uncertain World: Renewing Transatlantic Partnership, URL: http://www.worldsecuritynetwork.com/documents/3eproefGrandStrat(b).pdf (21.01.2008).
[22] Vgl. Küntzel, Matthias: Die Rolle der Bundesrepublik bei der Vorbereitung des Kosovo-Krieges. Stellungnahme vor dem 2. Internationalen Hearing des Europäischen Tribunals über den Nato-Krieg gegen Jugoslawien am 16. April 2000 in Hamburg.