Quelle: Informationsstelle Militarisierung (IMI) e.V. - www.imi-online.de

[0247] Bericht vom 9. IMI-Kongress

(21.11.2006)

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Online-Zeitschrift „IMI-List“
Nummer 0247 ………. 10. Jahrgang …….. ISSN 1611-2563
Hrsg.:…… Informationsstelle Militarisierung (IMI) e.V.
Red.: IMI / Claudia Haydt / Tobias Pflüger / Jürgen Wagner
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Liebe Freundinnen und Freunde,

in dieser Mail findet sich der Bericht über den Kongress „Staat im Krieg – Krieg im Staat: Wie der neue Kolonialismus den Krieg nach Hause bringt“, der am vergangenen Wochenende in Tübingen stattgefunden hat.

Wir möchten uns hiermit bei allen BesucherInnen für ihr Kommen und die spannenden und produktiven Diskussionen bedanken, die u.a. zu dem Beschluss führten, dass eine Kampagne zum Rückzug sämtlicher Bundeswehrsoldaten initiiert werden soll. In Kürze werden wir die Kongressvorträge als Audiodateien zur Verfügung stellen, ein Kongressreader ist bereits in Arbeit, dauert aber noch ein bisschen.

Deshalb hier der Kongressbericht mit den wesentlichen Inhalten der einzelnen Vorträge:

IMI-Mitteilung – Bericht vom 9. IMI-Kongress

Krieg im Staat – Staat im Krieg:
Wie der neue Kolonialismus den Krieg nach Hause bringt

Rund 130 Besucher/innen kamen zum neunten Kongress der Informationsstelle Militarisierung (IMI) e.V., der vom 17. bis 19. November in Tübingen stattfand. Er beschäftigte sich mit Wechselwirkungen zwischen der Expansion des Militärischen in der Innen- und Außenpolitik. Mit den quasi-kolonialen Einsätzen der Bundeswehr kehre der Militarismus in Form von Bundeswehreinsätzen im Inneren und der Einschränkung demokratischer Rechte als Bumerang zurück. Deshalb beschlossen die Teilnehmer, in der Abschlussdiskussion eine Kampagne für die Beendigung aller Auslandseinsätze der Bundeswehr zu initiieren.

In der multimedialen Auftaktveranstaltung am Freitagabend, „Demokratie im Ausnahmezustand“ wurde erläutert, dass in Folge des „Kriegs gegen den Terror“ der „Ausnahmezustand in Permanenz“, der Einsatz des Militärs im Inneren, die Einschränkung parlamentarischer Kontrolle und die Aufhebung von Menschen- und Bürgerrechten ausgerufen wurde. Als Anlass wurden die weltweit steigenden sozialen Kämpfe identifiziert, die aus Sicht der Herrschenden Aufstandsbekämpfung und die Aussetzung der Bürgerrechte notwendig machten. Als Symptome hierfür wurde das Ansteigen der weltweiten Gefängnis- und Lagerpopulationen sowie das Anwachsen von Slums dokumentiert und in die Problematik der „globalized eviction“, der weltweit stattfindenden Räumungen und Vertreibungen eingeführt.

IMI-Vorstand Jürgen Wagner begann den ersten Vortrag am Samstag, indem er darstellte, dass die westlichen Staaten als Reaktion auf die immer häufigeren Widerstände gegen die vorherrschenden internationalen Hierarchie und Ausbeutungsstrukturen eine Rekolonialisierung und damit eine vollständige Entsouveränisierung der restlichen Welt betreiben würden. Dies zeige sich anhand zahlreicher Protektorate mit quasi-kolonialem Charakter wie etwa in Bosnien, im Kosovo, in Afghanistan und im Irak, in denen sämtliche Entscheidungsbefugnisse auf die westlichen Staaten übergegangen seien. Zur Kontrolle dieser Kolonien würden sowohl die USA als auch die Europäische Union, derzeit in großem Umfang zivil-militärische Besatzungstruppen aufbauen. Diese setzten auf die Verzahnung politischer, entwicklungspolitischer, wirtschaftlicher, humanitärer, polizeilicher und nachrichtendienstlicher Instrumente, wobei die Führung beim Militär verbliebe und damit vormals zivile Akteure der Logik militärischer Interessensdurchsetzung unterworfen würden.

Der Europaabgeordnete und IMI-Vorstand Tobias Pflüger beschäftigte sich anschließend mit dem Argument, die Kriegseinsätze der Bundeswehr hätten den Export von Demokratie zum Ziel. Pflüger kritisierte diesen Ansatz nicht nur deshalb scharf, da sich das vorherrschende westliche Demokratiemodell nicht zwangsläufig überall auf der Welt und erst recht nicht von Außen installieren lasse, sondern vor allem, weil das Militär selbst demokratiefeindlich sei. Da das Töten von Menschen Kernbestandteil des Soldatenberufes sei, basiere ihre Ausbildung auf einer „systematischen Verrohung“ zum Abbau von Hemmnissen. Zudem seien Soldaten in eine völlig undemokratische Struktur von Befehl und Gehorsam eingebettet. Da es unmöglich sei, demokratische Strukturen und Verhaltensweisen auf das Militär zu übertragen, wie nicht zuletzt die jüngsten Skandale eindrucksvoll bestätigt hätten, sei die Armee für den Demokratieexport ein denkbar ungeeignetes Mittel. Dieser Widerspruch werde noch weiter dadurch verschärft, dass in den vermeintlich Demokratie exportierenden Ländern die demokratische Kontrolle der Auslandseinsätze durch das Parlament immer mehr eingeschränkt werde. Das ganze Konstrukt des militärischen Demokratieexports sei deshalb, so Pflügers Fazit, ein groß angelegter „Etikettenschwindel“ zur Verschleierung der eigentlichen Motive: Der Durchsetzung von ökonomischen und machtpolitischen Interessen.

Martin Hantke beschrieb die Ökonomie des erneuerten Kolonialismus anhand der Interventionen in Afghanistan und der Demokratischen Republik Kongo. In Afghanistan bereicherten sich demnach v.a. internationale Bau-, Sicherheits- und Beraterfirmen, deren Vertreter durch die so genannten Hilfsgelder der internationalen Gemeinschaft in Kabul eine neue Klasse von Superreichen darstellen und hierdurch den Unmut der ansässigen armen Bevölkerung auf sich ziehen würden. Hantke bezeichnete das Besatzungsregime in Afghanistan als ein System „organisierter Disfunktionalität“: Der Bau kaputter Straßen und maroder Krankenhäuser verschlinge Unsummen, werde von hoch dotierten westlichen Beratern geplant, deren Luxusleben durch Söldnerfirmen abgesichert werden müsse, weshalb kaum Geld für tatsächliche Hilfe für die afghanischen Bevölkerung übrig bleibe.
Im Kongo hingegen stelle der Einsatz von EU-Militär, das die Widerwahl Joseph Kabilas absicherte, eine Art „Investitionsschutz“ dar, da dieser unter den Augen der Bevölkerung die Reichtümer des Landes an westliche Firmen verschleudert hätte, so der Beirat der Informationsstelle Militarisierung.

Im Abendvortrag betonte der Völkerrechtler Prof. Dr. Gregor Schirmer, die im Völkerrecht niedergelegte Friedensordnung, deren Kernbestandteil das staatliche Gewaltverbot darstelle, befände sich in einer „existenziellen Krise.“ Dies manifestiere sich daran, dass versucht würde, immer mehr Ausnahmetatbestände zu schaffen, mit denen unter Bruch des Völkerrechts das staatliche Gewaltverbot unterlaufen und hierdurch Angriffkriegen zur Durchsetzung machtpolitischer Interessen Tür und Tor geöffnet würden. Als eines von vielen Beispielen benannte Schirmer insbesondere das UN-Konzept der so genannten „Responsibility to Protect“, die zum Ziel habe, die „humanitäre Intervention durch die Hintertür“ zu etablieren. All diese Versuche seien aber, wie Schirmer deutlich hervorhob, mit dem Völkerrecht und seinem Gewaltverbot nicht zu vereinbaren, weshalb es notwendig sei, diese fundamentale Errungenschaft zu verteidigen und sich einer schleichenden Aushöhlung und „Zerstörung der völkerrechtlichen Friedensordnung“ massiv zu widersetzen.

Am Sonntag wurden die Folgen von Militarisierung und des globalem Kriegszustands auf die hiesigen politischen Systeme analysiert. Zunächst beschrieb IMI-Beirat Christoph Marischka die militärische Kontrolle der Migration. Er betonte, dass die Militarisierung der Außengrenze nicht der reinen Abschottung, sondern der aktiven Entrechtung einer durchaus erwünschten illegalisierten Immigration diene. Diese Militarisierung äußere sich in der Aneignung des Mittelmeers und der Kontrolle der zivilen Schifffahrt durch die Flottenverbände der NATO und der EU, einer Aufrüstung an zivil-militärischer Überwachungstechnologie und paramilitärischer Polizeieinheiten sowie die Kooperation mit anti-demokratischen Drittstaaten. Im Effekt müssten die ImmigrantInnen ihre Papiere vernichten, ihre Rechte aufgeben und ihr Leben riskieren. Diese – militärisch forcierte – Entrechtung sei paradoxerweise wiederum die „Eintrittskarte“, um sich in prekärer Legalität auf den europäischen Arbeitsmärkten zu verdingen, womit der Aufbau eines riesigen Niedrigstlohnsektors gefördert werde, wie anhand von Auszügen aus dem Beschluss der jüngsten Innenministerkonferenz belegt wurde.

Claudia Haydt, ebenfalls Mitglied im IMI-Vorstand, betonte, dass die Integration von Polizeikräften in militärische Auslandsmissionen im Rahmen der zivil-militärischen Zusammenarbeit auf die Effektivierung der Besatzungsregime im Rahmen des erneuten Kolonialismus abziele. Damit würde die Polizei militarisiert, denn es sei keineswegs so, dass sie Recht exportiere, sondern im Gegenteil bewege sich ihre Arbeit im Ausland in einem unklaren rechtlichen Rahmen und sei häufig parteilich. Claudia Haydt beschrieb daraufhin diese Militarisierung am Beispiel der Bundespolizei und der European Gendarmerie Force. Letztere wurde Anfang des Jahres offiziell in Dienst gestellt und sei multifunktional, könne also unter militärischem und „zivilem“ Kommando innerhalb von 30 Tagen im Rahmen der EU eingesetzt werden. Hierdurch würden quasi-militärische Polizeieinheiten zur Aufstandsbekämpfung aufgebaut, die sowohl im Ausland, als auch im Inland, beispielsweise bei der Niederschlagung von Protesten der sozialen Bewegungen, zum Einsatz gebracht werden könnten. Dies zeige, so Haydts Fazit, dass Militarisierung der Außenpolitik und Repression in der Innenpolitik zwei Seiten derselben Medaille seien.

Im letzten Vortrag wies die innenpolitische Sprecherin der Bundestagsfraktion Die Linke, Ulla Jelpke, darauf hin, dass systematisch versucht würde, das gesetzlich Verbot von Bundeswehreinsätzen im Inneren auszuhöhlen. Beispielsweise werde bei zivilen Rettungsdiensten und Katastrophenschutz bewusst gespart, so dass oft nur der Einsatz von militärischem Personal und Ausrüstung in Frage käme, was auch verfassungsgemäß sei. Zudem werde die Bundeswehr bereits weit öfter im Inland eingesetzt, als gemeinhin angenommen, so etwa bei Gelöbnissen oder im Rahmen der so genannten Amtshilfe. Da Militäreinsätze zur „Terrorabwehr“, wie etwa das Luftsicherheitsgesetz, grundgesetzwidrig seien, strebe die Bundesregierung eine Verfassungsänderung an. Gezielt werde die Unterscheidung zwischen Innen- und Außenpolitik verwischt, so Jelpke: „Wer der Meinung ist, am Hindukusch werde Deutschland verteidigt, der hat den Verteidigungsbegriff völlig entgrenzt. Wer keine geographische Begrenzung und keine Landesgrenzen für den Einsatz seiner Armee akzeptieren will, warum sollte der ausgerechnet vor der eigenen Landesgrenze Halt machen? Solch eine Haltung läuft zwangsläufig darauf hinaus, in Tübingen und Berlin mit den gleichen Methoden zu experimentieren wie in Kabul oder Pristina.“ Die gegenwärtige Aufhebung der Grenzen zwischen Polizei und Geheimdiensten, zwischen Polizei und Militär, Militär und Katastrophenschutz sowie zwischen Innen- und Außenpolitik seien, so Ulla Jelpke, Symptome einer völligen Entgrenzung des Krieges, gegen den sich schnellstens zur Wehr gesetzt werden müsse.

In der anschließenden Diskussion wurden verschiedene Formen des Ausnahmezustands, des Katastrophenfalls etc. diskutiert. Deutlich gefordert wurde, dass explizit zivile Mittel für den Katastrophenschutz bereitgestellt werden und Versuchen, bspw. das THW weiter in militärische Einsätze zu integrieren, entgegengetreten werden müssten. Verschiedene Redner wiesen darauf hin, dass der Krieg nach Außen auch den Inneren Frieden gefährden würde und deshalb auch im Kontext des Sozialabbaus gesehen werden müsste. Denn die Hochrüstung entzöge nicht nur Gelder für dringend benötigte Sozialausgaben, sondern es sei zudem festzustellen, dass durch die immer repressiver werdende Sozialpolitik mehr und mehr Jugendliche förmlich zum Dienst in der Armee gezwungen würden, da sie die einzige Berufsperspektive darstelle. Einheitlich wurde die Initiierung einer Kampagne zum Abzug aller deutschen Soldaten von ihren Auslandseinsätzen befürwortet. Denn unter dem Titel „Holt die Soldaten Heim!“, ließen sich sämtliche politischen Schlussfolgerungen des Kongresses griffig zusammenfassen:

– Beendigung sämtlicher Einsätze der Bundeswehr!
– Absage an das Konzept der Zivil-militärischen Zusammenarbeit – gegen eine Militarisierung ziviler Akteure!
– Kein Militär und keine Polizeisoldaten weder im Ausland, noch im Inland!
– Keine Einsätze der Bundeswehr im Inland!
– Abrüstung statt Sozialabbau!

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Quelle: Informationsstelle Militarisierung (IMI) e.V. - www.imi-online.de