Pressebericht - in: Junge Welt vom 24.05.2006
»Wer so redet, hat keine Ahnung«
(24.05.2006)
Das Grundgesetz einhalten– Keine Militäreinsätze im Inland« war das Motto einer öffentlichen Anhörung der Linksfraktion, die am Montag in Berlin stattfand. Wissenschaftler und Praktiker aus dem Sicherheitsbereich sowie interessiertes Publikum tauschten Argumente aus und besprachen Konsequenzen, die sich aus einer weiteren Militarisierung der Innenpolitik ergeben. Die Unionsparteien fordern bekanntlich seit längerem eine Grundgesetzänderung, um der Bundeswehr den Weg frei zu machen für Taschenkontrollen, Objektschutz und Razzien im Innern.
»Wer so redet, hat keine Ahnung, was Objektschutz ist«, stellte Hugo Müller vom Vorstand der Gewerkschaft der Polizei (GdP) klar. Die Sicherungsaufgaben der Bundeswehr in Kabul oder im Kosovo seien mit den Anforderungen im Inland überhaupt nicht zu vergleichen. Dort gelte Kriegsrecht, hier gebe es 16 verschiedene Polizeigesetze, und die Bedrohungslage erfordere ein völlig anderes Herangehen.
Ein Schwerpunkt der Anhörung war die Diskussion um das Luftsicherheitsgesetz. Dieses wurde im Februar zwar vom Verfassungsgericht verworfen, die Bundesregierung will es aber auf dem Umweg über eine Neuinterpretation des Verteidigungsfalls – der die Anwendung des Kriegsrechts ermöglicht – doch noch durchsetzen. Polizist Müller äußerte sich auch hierzu eindeutig: Wenn führende Politiker Soldaten oder Polizisten auffordern, gegen geltendes Verfassungsrecht zu verstoßen«, sei dies äußerst bedenklich.
Der Staatsrechtler Martin Kutscha warf der Bundesregierung »absolute Ignoranz« vor, was die Grundzüge der Verfassungsgerichtsentscheidung angehe. Kutscha, der an der Berliner Fachhochschule für Verwaltung und Rechtspflege lehrt, wies darauf hin, daß sich das Gericht in seinem Urteil vor allem auf die Menschenwürde bezogen habe. Diese Bestimmung gehöre zum unveränderbaren Kern des Grundgesetzes und könne auch durch eine Verfassungsänderung nicht außer Kraft gesetzt werden.
Kritisch bewertete die Expertenrunde aber auch die Bundeswehreinsätze, die bereits von der Verfassung gedacht sind. Der Politologe Markus Euskirchen wies darauf hin, daß anläßlich von öffentlichen Gelöbnissen, Zapfenstreichen und anderen Militärritualen schon längst Inlandseinsätze »mit allem Drum und Dran, inclusive Feldjägereinsätzen mit Exekutivgewalt« stattfänden. Christoph Marischka von der Informationsstelle Militarisierung beschrieb die zunehmende Zusammenarbeit von Militär und Polizei. Bei den Auslandseinsätzen der Bundeswehr gebe es schon lange einen Trend dahin, die Truppe mit Polizeiaufgaben zu betrauen, während zugleich die Bundespolizei militärisch aufgerüstet werde. Im Endeffekt verwischten sich die Aufgabenbereiche beider Institutionen immer mehr.
Im Zuge dieser Entwicklung würden zunehmend Grund- und Freiheitsrechte eingeschränkt, weil sie als Bedrohung der Sicherheit gälten, konstatierte Elke Stevens vom Komitee für Grundrechte und Demokratie. Der Kasseler Friedensforscher Michael Berndt ging der Veränderung des Sicherheitsbegriffs nach. Ein Problem, das zum Sicherheitsproblem erklärt werde, gelte heute als militärisches Problem. Der massive Einsatz von Bundeswehrsoldaten gegen Vogelgrippe oder zur WM sei nicht sachlich geboten, sondern ein Mittel, »um Akzeptanz für gewaltförmige Scheinlösungen« zu stiften. Als Option, so der Historiker Kurt Pätzold, wollten sich die Regierenden einen Militäreinsatz zur Niederschlagung etwaiger sozialer Revolten offenhalten– so wie in der Vergangenheit.