IMI-Analyse 2005/023 - in: AUSDRUCK (August 2005)
Die Armee gewaltloser Soldaten: Abdul Ghaffar Khan und seine „Rothemden“
Sebastian Niesar (09.08.2005)
Ein Soldat hat zu gehorchen. Er wird solange gedrillt bis ihm die grundlegende Disziplin und Hierarchie der Armee geläufig sind. Soweit sind sich alle Heere gleich. Muss deshalb eine Armee, die nicht nur das Waffenwesen sondern gleich alle Gewalt ablehnt, die auf freiwilliger Basis funktioniert und deren Mitglieder den Befehl verweigern können, wenn er ihrer Ansicht nach nicht legitim erscheint, automatisch unterlegen sein? Tatsächlich scheint die Geschichte ein einmaliges Gegenbeispiel parat zu halten, dass dem nicht so ist.
Albert Einstein drückte seine „Sympathie“ mit Angehörigen der Truppe so aus:
„Wenn einer mit Vergnügen in Reih und Glied zu einer Musik marschieren kann, dann verachte ich ihn schon; er hat sein großes Hirn nur aus Irrtum bekommen, da für ihn das Rückenmark völlig genügen würde. Diesen Schandfleck der Zivilisation sollte man so schnell wie möglich zum Verschwinden bringen.“
Dieser Kritik am Militärischen bleibt aus pazifistischer Perspektive nichts hinzuzufügen. Wie die Geschichte jedoch zeigt, kann eine Armee – im Gegensatz zu heutigen Kampfkampagnen zur Befreiung (oder Befriedung) diverser Landstriche – tatsächlich für sinnvolle, friedensstif-tende Zwecke existieren.
So geschehen im Raum des heutigen Pakistan/Afghanistan zu Lebzeiten Gandhis. Heute fast vergessen oder zumindest tief im Schatten des indischen Vorkämpfers für Gewaltlosigkeit und Selbstbestimmung stehend, sind die Leistungen eines Mannes nicht minder außergewöhn-lich: Gemeint ist Abdul Ghaffa Khans[1] und seine Armee der „Rothemden.“[2]
Die Armee gewaltloser Soldaten
In der Zeit, als die Grenze zu Afghanistan noch als North-West Frontier Province von Bri-tisch-Indien bezeichnet wurde, wuchs Ghaffar Khan im Gebiet der Paschtunen auf. Als wich-tigster Landzugang zur indischen Region und seinen Reichtümern lag diese Zone schon seit jeher in besonderem Interesse durchziehender Eroberer. Insofern erklärt sich eine höchst krie-gerische und widerstandsfähige Tradition der Paschtunen. Krieg galt als normales Geschäft und Widerstand gegen alle Außenstehende als uralter Lebensweg.[3]
Nicht anders zu britischen Kolonialzeiten. Gut mit Feuerwaffen ausgerüstet und in ihrem Umgang trainiert, war die Nord-West Provinz so etwas wie das asterixsche Dörfchen im briti-schen Imperium. Im Gegensatz zum Comic war der Kampf äußerst blutig – auf beiden Seiten. Strafexpeditionen in paschtunische Dörfer endeten mit Gefängnis oder Tod für viele Einwoh-ner. Umgekehrt kehrte von einer solchen Expedition im Jahr 1842 von 4500 britischen Solda-ten genau einer lebend zurück – am Leben gelassen, um Bericht zu erstatten.[4] Dennoch ge-lang eine teils gefestigte Kontrolle des Gebietes vor allem dadurch, dass sich die paschtuni-schen Clans in dauerhaften Blutfehden gegenseitig dezimierten.
In solcherart gewalttätig geprägter Umgebung eine absolut gewaltlose Widerstandsbewegung gegen ein repressives Regime aufzubauen, erscheint besonders erstaunlich. Aus heutiger Sicht ist dies umso bemerkenswerter, da hierdurch dem derzeit medial vermitteltem Zusammenhang zwischen Islam und Gewalt ein musterhaftes Gegenbeispiel entgegengehalten werden kann.
Abdul Ghaffar Khan wurde als Sohn eines paschtunischen und religiösen Stammeshäuptlings geboren. Aufgrund seiner sozialen Stellung hatte er, im Gegensatz zum Grossteil seines Vol-kes – inklusive seiner Eltern – Zugang zu universitärer Bildung. Schnell erkannte er die Unge-rechtigkeit und Mängel unter denen seine Landsleute litten.
Ein offensichtlicher Faktor war die Unterdrückung durch die englische Kolonialmacht. Vom Bildungswesen bis zur Besteuerung lag alles in der Hand der Besatzer. Aber es war nicht die Anzahl der Soldaten, die militärische technische Überlegenheit oder gar die britische Kultur, welche die Paschtunen in Unmündigkeit gefangen hielt. Endlose Stammesfehden und Land-streitigkeiten untergruben einen gemeinsamen Gegendruck. Ghaffar Khan sah sowohl die Ungerechtigkeiten des britischen Regimes als auch die Uneinigkeit, die wirksamen Wider-stand verhinderten. Aus tiefer religiöser Überzeugung heraus fühlte er sich dazu berufen sei-nem Volk zu Freiheit und Selbstbestimmung mittels sozialer Reformen und Bildung zu ver-helfen. Seine Projekte blieben stets darauf begründet Gott zu dienen. Damit stieß er nicht nur bei den Briten sondern auch bei muslimischen Mullahs, deren Interpretation des Korans (vor allem bezüglich des Gewaltverständnisses) er nicht akzeptierte, auf Protest.
1910 gründete er die erste nicht-britische Schule. In den nächsten Jahren zog er von Dorf zu Dorf, um den Menschen grundlegende Kenntnisse zu vermitteln und die Idee des gewaltlosen Widerstands zu verbreiten. Neben dem Aufbau weiterer Schulen wurden Brunnen gegraben, Latrinen ausgehoben und die Landbevölkerung in Gesundheitspflege unterrichtet. Seine her-ausragende Bedeutung erlangte Ghaffar Khan mit der Gründung der Khudai Khidmatgar (Servants of God) 1929. Die Diener Gottes stellten ein absolutes Novum – eine Armee von gewaltlosen Soldaten – dar. Er schuf damit eine Organisation, die unter absoluten Gewaltver-zicht für die Erlangung von politischen, sozialen und ökonomischen Reformen eintrat. Die Einsatzbereitschaft reichte bis zur Hingabe des eigenen Lebens ohne jemals eine Waffe zu benutzen. Ein gravierender Unterschied zu jeder existierenden Kampftruppe bestand jedoch nicht nur darin sein Dasein für ein höheres Ziel zu opfern ohne dabei möglichst viele seiner Gegner zu vernichten. Die Khudai Khidmatgar waren wohl auch die einzige Armee, in deren Eintrittsschwur eine Möglichkeit zum Ungehorsam verankert war. In der frühen Form des Gelöbnisses fand sich neben dem Bezug zu Gott und der sozialen Ausrichtung auch der Eid: „Ich werde allen legitimen Befehlen meiner Vorgesetzen immer Folge leisten.“[5] Was für den Einzelnen legitim bedeutete, konnte sich am eigenen Gewissen messen lassen. Grundsätz-lich war die Mitgliedschaft und damit de facto auch der Austritt jedem (bzw. jeder, da auch Frauen Mitglieder waren) frei gestellt. Über einen solchen Fall gibt es keinen Nachweis, im Gegenteil verzeichnete man bis 1938 einen Anstieg auf knapp 100.000 Mitglieder.[6]
Für diesen Zuwachs gab es hauptsächlich zwei Gründe. Zum einen verpflichtete die im Schwur enthaltene Lebensmaxime nicht nur zu Verzicht auf Hass und Rache, sondern gebot soziale Nächstenliebe. In praktischen Anweisungen gab jedes Mitglied das Versprechen ab, mindestens zwei Stunden täglich Sozialarbeit – ohne Aussicht auf Entlohnung – zu leisten („I promise to devote at least two hours a day to social work. I shall expect no reward for my services.”).[7] Daneben sollte man sich von unsozialen Bräuchen und Verhalten befreien so-wie ein einfaches Leben in Tugendhaftigkeit und Bescheidenheit führen. Die einhergehenden lokalen Entwicklungsprojekte demonstrierten einen nie da gewesenen praktischen Fortschritt in der täglichen Lebensführung.
Zum zweiten existierte der ungebrochene Wille zum Widerstand gegen die kolonialen Besat-zer. Der zivile Ungehorsam blieb die erfolgreichste Methode gegen die britische Herrschaft. Egal wie geschickt und erfolgreich die gewaltsame paschtunische Guerilla-Taktik sein konnte, die englische Feuerkraft war stets überlegen. Die gewaltlose Auseinandersetzung wurde von den Briten fast mehr gefürchtet als der militärische Widerstand.
Erfolgreicher Widerstand gegen die Briten
Den größten Zuwachs erhielten die Diener Gottes nach einer tragischen Demonstration ihrer Wirkungskraft. Nach einer seiner zahlreichen Kundgebungen wurde Abdul Ghaffar Khan im April 1930 zum wiederholten Mal verhaftet und in Peschawar ins Gefängnis geworfen. Die Verhaftung löste in der Hochburg der Anhänger der Khudai Khidmatgar Streiks und De-monstrationen aus. Die Kolonialverwaltung versuchte diese mit Gewalt zu verhindern und ließ Truppen auf die unbewaffnete Menschenmenge schießen. Nachdem mehrere Hundert Demonstranten fielen ohne dass sie Anstalten machen sich zurückzuziehen oder gewalttätig anzugreifen, legten die mit indischen Soldaten besetzten Eliteregimenter ihre Waffen nieder. Ein Schock für die Briten, galten diese Einheiten seit dem 1. Weltkrieg als besonders zuver-lässig.
Die Truppen wurden abgezogen (und abgestraft) und Nachschub geordert. Währenddessen übernahmen die Rothemden die faktische Herrschaft über Peschawar. Sie errichteten inner-halb weniger Tage eine komplette Parallelverwaltung. „Freiwillige wurden in den Hauptstras-sen postiert, um den Verkehr zu regeln, Patrouillen streiften nachts durch die Strassen, und Erklärungen wurden jeden Tag an den wichtigsten Plätzen plakatiert, um Ereignisse von öf-fentlichem Interesse bekannt zu geben.“[8] Auf dem Lande um Peshawar starteten sie eine Kampagne für Steuerboykotts und eröffneten eigene Steuerbüros.
Nach neun Tagen erreichten die angeforderten britischen Truppen die Stadt und beenden die kurze Phase der Freiheit. Die folgenden Repressionen zielten darauf ab den Willen der Khu-dai Khidmatgar zu brechen. Mit dem Abbrennen ganzer Dörfer, Verhaftungen und Folterun-gen, Vernichten der Ernte und öffentlichen Verprügelungen wurde versucht, gewalttätige Ak-te zu provozieren. Nichts war den Kolonialherren unheimlicher als ein außerhalb militärischer Gewaltlogik agierender Akteur – „ein gewaltloser Paschtune war gefährlicher als einer der Gewalt anwendete.“[9]
Unterdrückung bis zum heutigen Tag
Trotz der harten Repressionen gelang es den Briten nicht den Fortschritt der Organisation aufzuhalten. Im Gegenteil: von 1930 bis 1931 wuchsen die Khudai Khidmatgar von 1000 auf 25.000 Mitglieder.[10] Bei den Verhandlungen über die Unabhängigkeit und die Einheit In-diens unterstützten die Diener Gottes den Indischen Nationalkongress. Nur widerstrebend wurde die Nordwest-Provinz bei der Teilung des Subkontinents ein Teil Pakistans. Bei den Ausschreitungen zwischen Hindus und Muslimen versuchten Ghaffar Khan und seine Anhän-ger den Frieden im Land wieder herzustellen. Nach der erfolgten Spaltung wurde er dafür (Zusammenarbeit mit Indien) von der pakistanischen Regierung ins Gefängnis gesteckt. Dort verbrachte er weitere 15 Jahre. Die Khudai Khidmatgar wurden verfolgt und verloren ihre herausragende politische Bedeutung. Damals wie heute sind die sozialen Reformen, die Gleichbehandlung der Religionen und der Frauen insbesondere den wohlhabenden Landbesit-zern und Mullahs ein Dorn im Auge. Die Regierung Pakistans stellt deshalb bis heute sicher, dass der Name von Abdul Ghaffar Khan in keinem offiziellen Geschichtslehrbuch auftaucht.
Verdient hätte er es alle mal, die gleiche Aufmerksamkeit wie Albert Einstein zu erhalten. Zitiert man den pazifistischen Physiker zu Ende waren beide Brüder im Geiste: „Heldentum auf Kommando, sinnlose Gewalttat und leidige Vaterländerei, wie glühend hasse ich sie, wie gemein und verächtlich erscheint mir der Krieg; ich möchte mich lieber in Stücke schlagen lassen, als mich an einem so elenden Tun beteiligen! Töten im Krieg ist nach meiner Auffas-sung um nichts besser als gewöhnlicher Mord.“
Anmerkungen:
[1] 1890 in Utmanzai geboren, starb er 98 jährig in Pakistan, nachdem er über ein Drittel seines Lebens in Ge-fängnissen verbrachte.
[2] Offiziell die Khudai Khidmatgar (Servants of God) wurden sie nach dem Einheitskleidungsstück von rot gefärbten Hemden auch „Red Shirts“ benannt.
[3] Johansen, Robert C.: Radical Islam and Nonviolence: A Case Study of Religious Empowerment and Con-straint Among Pashtuns, S.57.
[4] Ebenda.
[5] Khan Abdul Ghaffar Khan: a centennial tribute, 1985, S.63. “I shall always obey every legitimate order of my superior officers.”
[6] Berndt, Hagen: Gewaltfreiheit in den Religionen – Visionen und Wirklichkeit, 1998, S.72.
[7] a.a.O. Johansen, S.59.
[8] http://www.graswurzel.net/263/kommune.shtml
[9] Ebenda. S.62.
[10] http://www.khyber.org/pashtohistory/khudaikhidmatgar.shtml