Quelle: Informationsstelle Militarisierung (IMI) e.V. - www.imi-online.de

IMI-Standpunkt 2003/112

Die MilitärstrategInnen scheiterten nicht

Die Militarisierung der EU schreitet voran

Uwe Reinecke (15.12.2003)

Nur langsam regte sich in der (deutschen) Friedensbewegung Widerstand gegen die geplante EU-Verfassung nachdem im Juli 2003 der Konventsentwurf bekannt wurde. Die Rot-Grüne Bundesregierung war begeistert und wollte die Verfassung lieber gestern als heute beschlossen haben und zwar unverändert. Das allein hätte schon ausreichen müssen, um breiten Protest zu erregen. Aber die Vertreterin der „Antikriegspartei“ PDS, Sylvia-Yvonne Kaufmann, stimmte im Konvent ebenfalls der Verfassung zu. Offenbar beruhigten sich viele Leute durch diese Zustimmung. Völlig zu unrecht, wie die eingehende Lektüre des gesamten Entwurfs zeigt. (Siehe https://www.imi-online.de/download/EU-Verfassungsentwurf.pdf )

Hoffnung in der Antikriegsbewegung mag aufgekommen sein als bekannt wurde, dass die Regierungskonferenz am 13.12.2003 in Brüssel ohne Ergebnis und ohne Unterschrift unter die Verfassung vorzeitig beendet wurde, weil man sich nicht auf den Text einigen wollte. Geplant war die Unterzeichnung der EU-Verfassung durch alle 25 Mitglieds- bzw. Beitrittsstaaten. In nahezu allen Berichten war vom „Scheitern der Regierungskonferenz“ die Rede. Übersehen wurde dabei, dass ganz nebenbei etwa 95% der Verfassung bereits von den „Regierungschefs“ „abgesegnet“ wurden.

Einigkeit besteht unter den vorgeblich zerstrittenen Regierungen darüber, dass über diese Punkte nicht mehr verhandelt werden soll. Streitig blieben nur die Stimmenverhältnisse und Anzahl der EU-Kommissare pro Mitgliedsstaat. Als ob das für die Menschen in Europa irgendeine Relevanz hätte, wurden Sondersendungen im Fernsehen ausgestrahlt und die „Hauptnachrichten“-Sendungen befassten sich mehr als nötig mit diesen Scheindiskussionen um Posten und Einfluss. Ob „in Gottes Namen“ doch noch alle 25 Staaten je einen Kommissar bekommen oder es bei insgesamt 15 bleiben wird, ändert nichts am militaristischen Charakter der EU-Verfassung und damit der EU.

Allein der Zeitplan der Regierenden ist etwas durcheinander geraten, aber bis zur Wahl des Europaparlaments im Juni 2004 wird sicher der gesamte Verfassungstext beschlossen und unterzeichnet sein. Der 9. Mai 2004 ist immer noch als Unterzeichnungsdatum vorgesehen. Dass ausgerechnet der Gedenktag zum Ende des Zweiten Weltkriegs zur Unterzeichnung der EU-„Militär“-Verfassung gewählt wurde, ist Ausdruck höchster Geschmacklosigkeit. Andererseits ist überhaupt kein Tag geeignet, diese EU-Verfassung zu unterschreiben. Als zweite Möglichkeit wird in Erwägung gezogen, dass ein „Kerneuropa“ die Verfassung beschließt, unterzeichnet und ratifiziert und das „Resteuropa“ entweder nachzieht oder „außen vor bleibt“. Dieser Plan sieht vor, dass das Resteuropa politisch (unter Mithilfe unkritischer JournalistInnen) kampagnenartig unter Druck geraten wird und dem Verfassungsentwurf zustimmen muss oder endgültig „an Boden verliert“ und letztlich die EU verlassen müsste. Man könnte das Erpressung nennen. Nicht überraschen kann dabei, dass sich der französische Staatspräsident Chirac und der deutsche Bundeskanzler Schröder zu diesem „Kerneuropa“ zählen.

Hier von Scheitern zu sprechen, heißt, nichts verstanden zu haben. Die traditionelle Militarisierung der EU funktionierte bisher ohne EU-Verfassung und schreitet ungebrochen voran: Die EU hatte ihre ersten Militäreinsätze in Mazedonien und im Kongo. Die EU-Eingreiftruppe wird weiter aufgebaut. Die europäischen NATO-Staaten haben im April 1999 – quasi in totaler Kriegsbegeisterung – der neuen NATO-Strategie zugestimmt. Dort verpflichten sie sich zur permanenten Aufrüstung (Punkt 18 der Washingtoner NATO-Strategie von 1999).

Jetzt soll diese Entwicklung der EU zum Militärbündnis fortgesetzt und verfassungsrechtlich festgeschrieben werden. Dabei werden die Nicht-NATO-Staaten innerhalb der EU ebenfalls zur permanenten Aufrüstung verpflichtet. Ferner werden „out of area“-Kampfeinsätze und „Präventivkriege“ laut EU-Verfassung problemlos ermöglicht.

Einem Teil der Bevölkerung wird das EU-Militär-Programm schmackhaft gemacht, indem die EU sich als Bollwerk gegen die USA versteht. Haben die USA nicht im Irak gezeigt, dass sie das internationale Recht brechen, wenn sie es wollen? Und hatten nicht Frankreich und Deutschland sich verbal gegen diesen Krieg gewandt? Zum Schutz gegen solche „Alleingänge“ der USA werden der europäische Teil der NATO und die EU militärisch gestärkt. So die Idee der Fantasten. Diese Argumentation der Konkurrenz zwischen USA und EU bewegt sich innerhalb des kapitalistischen Systems und führt logischerweise langfristig zum Krieg zwischen diesen beiden Kontrahenten. Das kann also nicht die Motivation der Antikriegsbewegung bzw. der Linken sein. Vor einer militärisch starken EU kann nur gewarnt werden. Haben Deutschland und andere EU-Staaten sich 1999 denn nicht am Angriff auf Jugoslawien beteiligt? Wurde da nicht internationales Recht gebrochen? Welche Hoffnung soll man da in die EU setzen? Wer anhand der EU-Vergangenheit nicht überzeugt wird, kann an der Gegenwart allerdings nicht vorbeikommen: Die Militarisierung der EU schreitet auch ohne diese Verfassung ungehindert voran.

Die Verfassung ist dennoch nicht unwichtig. Gegenwärtige Pläne der kerneuropäischen Bundesregierung (Entsendegesetz, Verteidigungspolitische Richtlinien [VPR] und Rüstungsprogramme) zeigen was tatsächlich hinter den Plänen einer EU-Verfassung steckt. So soll „der Sozialabbau zukünftig am Hindukusch verteidigt werden,“ analysiert Professor Morus Markard von der TU Berlin das Handeln der Bundesregierung. Die deutsche Regierung verletzt mit den VPR und anderen Vorhaben bewusst das Grundgesetz. Daher benötigt die Regierung eine EU-Verfassung, die den „lästigen Ballast“ eines Verbots des Angriffskrieges nicht mehr beinhaltet, sondern fast zum Präventivkrieg auffordert. Der Briand-Kellogg-Pakt von 1928 verbietet zwar auch den Krieg als Mittel der Politik und Deutschland gehörte zu den Erstunterzeichnern, aber Verträge dieser Art gelten der Bundesregierung ohnehin nichts. Hatte Rot-Grün doch 1999 „erfolgreich“ diesen Vertrag straffrei gebrochen. Der Jurist und Kriegsverbrecher Schröder kann auf eine Justiz vertrauen, die KriegsgegnerInnen kriminalisiert und gleichzeitig die Kriegsverbrechen der deutschen Bundeswehr ungeahndet lässt. Dadurch qualifiziert sich Deutschland als Bestandteil des kriegerischen Kerneuropas. Deutschland hat zwar an erster Stelle vitale, oder besser letale, Interessen an einer Militär-Verfassung, steht damit allerdings nicht allein da. Die Regierungen aller Mitgliedstaaten der EU wollen die Militarisierung.

Das „Solana-Papier“ erklärt zwar schönfärberisch: „Die europäischen Staaten haben sich verpflichtet, Streitigkeiten auf friedlichem Wege beizulegen … . Im Laufe der Zeit haben sich Rechtsstaatlichkeit und Demokratie mehr und mehr durchgesetzt und aus autoritären Regimen wurden sichere, gefestigte und dynamische Demokratien. Die aufeinander folgenden Erweiterungen lassen die Vision eines geeinten und friedlichen Kontinents Realität werden. “ Aber später wird die Katze aus dem Sack gelassen. Die schöngeistige Litanei wird durch Solanas eigenen Worte enttarnt: „Wir müssen eine Strategie-Kultur entwickeln, die ein frühzeitiges, rasches und wenn nötig robustes Eingreifen fördert.“ Das Wort Kultur mag hier gar nicht passen.

Solana setzt trotzdem fort: „Als eine Union mit 25 Mitgliedstaaten, die mehr als 160 Mrd. Euro für Verteidigung aufwenden, sollten wir mehrere Operationen gleichzeitig durchführen können. Die Union könnte einen besonderen Mehrwert erzielen, indem sie Operationen durchführt, bei denen sowohl militärische als auch zivile Fähigkeiten zum Einsatz gelangen.“ Die angesprochenen „Verteidigungsaufwendungen“ von 160 Mrd. EUR werden erstmals so offen angesprochen.

„Präventivkriege“ werden angekündigt, wenn von „frühzeitigen raschen und wenn nötig robusten Einsätzen“ unverhohlen die Rede ist. Wann sollte das wohl „nötig sein“? Eine solche Situation ist schlichtweg undenkbar. Noch nie waren Kriege nötig.

„Wir haben historische, geografische und kulturelle Bande mit jedem Teil dieser Welt, mit unseren Nachbarn im Nahen Osten, unseren Partnern in Afrika, in Lateinamerika und in Asien,“ so Solana weiter. Minister Struck hatte in seinen Verteidigungspolitischen Richtlinien im Mai 2003 schon versichert, dass sich zukünftig „Bundeswehr-Einsätze weder hinsichtlich ihrer Intensität noch geografisch eingrenzen“ ließen. Vor diesem Hintergrund muss man die „historische, geografische und kulturelle Bande mit jedem Teil dieser Welt“ neu betrachten. Die EU meint das schon ernst, wenn sie von weltweiten Ansprüchen und „Werten“, ja sogar „Mehrwerten“, spricht, die zu „verteidigen“ seien.

Es dürfte deutlich geworden sein, dass die EU-Konferenz in Brüssel im Sinne der Regierenden nicht wirklich gescheitert ist. Der verbliebene Streit dient nur der Vernebelung der wahren Absichten und gehört daher ins Konzept. Die Regierenden wollen die Verfassungsartikel mit den haarsträubenden Inhalten zu Präventivkriegen und Aufrüstungszwang nicht diskutieren. Wir wollen es aber und wir werden.

Die EU-KandidatInnen müssen sich rechtfertigen für Rüstung und Kriege bei gleichzeitigem Sozialabbau. Richtig ist selbstverständlich, dass der bloße Verzicht auf Rüstung nicht automatisch mehr Geld für soziale Aufgaben bedeutet. Das System stinkt vom Kopf, d.h. der Kapitalismus ist das Problem. Der Kapitalismus – ob als neoliberaler globalisierter Kapitalismus oder als sozial-ökologische Marktwirtschaft – kommt langfristig nicht ohne Kriege aus. Die EU-Verfassung schützt das gegenwärtige kapitalistische Wirtschaftssystem folgerichtig vor seiner Abschaffung.

Die Antikriegsbewegung hat trotz dieser scheinbar entmutigenden Bilanz eine gute Chance, die nächsten Monate zu Protestmonaten gegen diese Verfassung und für ein Europa, das sich dem Krieg verweigert zu machen (Siehe Erklärung unter https://www.imi-online.de/2003.php3?id=741 ).

Die EU-Wahl selbst kann zum klaren Votum gegen diese EU-Verfassung genutzt werden. Auch unabhängig von dieser Europa-Wahl bleibt es Aufgabe der Friedensbewegung die Regierungen zu zwingen, die Militarisierung der EU rückgängig zu machen und der EU keine Militärverfassung aufzudrücken. Auch auf der „NATO-Sicherheitskonferenz“ in München muss die Antikriegsbewegung ihren Anspruch laut verkünden.

Eine neue zivile und demokratische Verfassung unter breiter gesellschaftlicher Beteiligung muss erarbeitet werden. Das Handeln der Regierenden in Europa hat sich dann strikt an diese Verfassung zu halten. Erst dann könnte man berechtigterweise vom „Scheitern“ der Brüsseler Regierungskonferenz reden.

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