Quelle: Informationsstelle Militarisierung (IMI) e.V. - www.imi-online.de

Pressebericht / in: junge Welt, 06.12.2003

Welle der Militarisierung

Bundeswehr soll ihr Kriegsführungspotential vervierfachen. Friedensratschlag diskutiert in Kassel

Frank Brendle / junge Welt / Pressebericht / Dokumentation (07.12.2003)

Auf den ersten Blick sieht alles nach Abrüstung aus: Die Strukturänderungen, die Verteidigungsminister Struck seiner Truppe in den letzten Wochen ankündigte, beinhalten Reduzierungen auf – fast – allen Ebenen. Die Truppenstärke wird bis 2010 auf 250000 verringert, das sind 30000 weniger als heute. Die Rüstungsaufträge werden kleiner ausfallen, und die Zahl der bislang 530 Standorte wird um eine dreistellige Zahl reduziert.

Der zweite Blick erhellt jedoch, daß derzeit eine der größten Militarisierungswellen seit dem Jugoslawien-Krieg rollt. Die Bundesregierung ist dabei, den Ankündigungen der Verteidigungspolitischen Richtlinien aus dem Mai Taten folgen zu lassen: Die Bundeswehr soll zur Armee im Dauereinsatz werden, die Deutschland weit vorne, d. h. im möglichst weit entfernten Ausland, »verteidigt«.

Nachdem die Bundeswehr von der Straße von Gibraltar über das Horn von Afrika bis zum Hindukusch einen Gutteil der Welt gesehen hat, wird es nun Zeit für die nächste Etappe des deutschen Militarismus. Mit derzeit knapp 8000 Mann im Auslandseinsatz ist die Truppe schon so gut wie ausgebucht – bei einer Gesamtstärke von noch 280000 Soldaten keine gute Relation, findet Struck. Deshalb steht ihr jetzt eine umfassende Strukturreform bevor. Die soll erreichen, daß 35000 Soldaten bis zu einem Jahr lang einen Einsatz durchhalten und nebenher noch ein paar kleinere Einsätze möglich sind. 35000 Soldaten für einen Kriegseinsatz – das bedeutet eine Vervierfachung des jetzigen Kriegsführungspotentials.

Die Umsetzung dieses Kriegsprogramms geht ins Geld. Zwar ist der Bundeswehrhaushalt als einziger praktisch nicht von Sparmaßnahmen betroffen und bis 2006 mit 24,2 Milliarden Euro jährlich festgeschrieben, aber mehr Kriege kosten natürlich auch mehr. Weil mit den Großprojekten Eurofighter und Transportflugzeug bereits Verpflichtungen in Milliardenhöhe gegenüber der Industrie eingegangen wurden, die im Haushalt nicht gedeckt sind, muß nun auch die Truppe sparen und kann nicht alles kaufen, was der Rüstungsmarkt bietet. »Klasse statt Masse« sei das Motto, so Struck: Prioritäten sollen gesetzt werden, nicht in allen Bereichen sei der neueste Stand der Waffentechnik erforderlich. Neuanschaffungen sollen verstärkt – und kostensparend – im europäischen Rahmen erfolgen; nicht von ungefähr drängt die BRD auf die Militarisierung der EU, wie Tobias Pflüger von der Tübinger Informationsstelle Militarisierung (IMI) erklärt.

Eine Rolle bei der Bundeswehrplanung spielt auch die Wehrpflicht. Ab 2010 sollen knapp 200000 Zeit- und Berufssoldaten gerade einmal 50000 Wehrpflichtige gegenüberstehen. Von einer Wehrpflichtarmee kann da nicht mehr ernsthaft gesprochen werden, und die wenigen Plätze würden längst nicht für alle Wehrpflichtigen ausreichen. Struck tut so, als wäre ihm das ganz recht. »Die Bundeswehr holt sich die Männer, die sie braucht«, drohte er der männlichen Jugend in der Welt, wobei er offenbar vergaß, daß eine solche Auswahl-Wehrpflicht nicht mit dem Verfassungsgebot der Wehrgerechtigkeit vereinbar ist: Entweder müssen alle dienen oder keiner. Strucks vorläufiges Festhalten an der Wehrpflicht verdankt sich fiskalischem Kalkül: Gut ein Drittel der Berufssoldaten wird aus dem Pool der Wehrpflichtigen rekrutiert. Bei deren Wegfall müßte die Bundeswehr erhebliche Summen für Werbung und höhere Besoldung ausgeben. Dennoch scheint sich der Minister allmählich auf die Abschaffung der Wehrpflicht einzustellen. Anfang Dezember erklärte er, die Strukturplanungen sollten auch diesen Fall einkalkulieren.

Zwischendurch überraschte Struck mit seiner Forderung, auch Wehrpflichtige sollten künftig an Auslandseinsätzen teilnehmen, und erweckte so den Eindruck, als versuche er, krampfhaft ein letztes Aufgebot zusammenzubekommen. »Das sieht zwar kopflos aus, es steht aber durchaus ein Konzept dahinter«, so IMI-Sprecher Pflüger. Es sei davon auszugehen, daß zumindest diejenigen Wehrpflichtigen, die freiwillig – und gegen Solderhöhung – länger als die obligatorischen neun Monate dienen, verstärkt in Auslandeinsätze einbezogen würden. »Auch die Verwendung von Reservisten wird künftig an Bedeutung zunehmen«, vermutet Pflüger.

Die Bemühungen, die Bundeswehr kriegstauglicher zu machen, finden ihre Ergänzung in einer Gesetzesänderung, die Kriegseinsätze vereinfachen soll. Das von allen Fraktionen geforderte und nur im Detail umstrittene »Parlamentsbeteiligungsgesetz« soll die bisherige Regelung abschaffen, wonach jeder einzelne Bundeswehreinsatz vom Bundestag beschlossen werden muß.

Der im November vorgestellte Gesetzentwurf von SPD und Grünen sieht »Hintertüren vor, durch die ganze Kompanien marschieren können«, warnt Jürgen Grässlin, Bundessprecher der Deutschen Friedensgesellschaft – Vereinigte KriegsdienstgegnerInnen (DFG-VK). Eine Reihe von Bundeswehreinsätzen soll der Zuständigkeit des Bundestages komplett entzogen werden. »Einsätze von geringer Bedeutung« sollen in einem vereinfachten Zustimmungsverfahren durch den Bundestag gepeitscht werden. Den Abgeordneten wird die Absicht der Regierung mitgeteilt, und nur, wenn mindestens fünf Prozent von ihnen es verlangen, wird eine Abstimmung durchgeführt.

»Wenn Bundeswehrsoldaten ins Ausland gehen, ist das niemals von geringer Bedeutung«, kritisiert Grässlin. Der DFG-VK-Sprecher warnt davor, daß »zustimmungsfreie« Einsätze Fakten schaffen, die dann »prompt als Sachzwänge deklariert werden«. Ziel des Gesetzes sei es offenbar, Debatten über Kriegseinsätze künftig zu verhindern.

Genau das will die Friedensbewegung nicht zulassen: »Wir werden die Politiker nicht kraft unserer Argumente überzeugen, sondern wir können nur mit öffentlichem Druck die Kriegvorbereitungen stoppen«, erklärt Peter Strutynski vom Bundesausschuß Friedensratschlag. Der bundesweite Zusammenschluß von Friedensgruppen trifft sich heute und morgen in Kassel, um über Perspektiven der Friedensbewegung zu diskutieren.

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