Quelle: Informationsstelle Militarisierung (IMI) e.V. - www.imi-online.de

Dokumentation / 21.05.2003

Die neuen VERTEIDIGUNGSPOLITISCHEN RICHTLINIEN

Bundesminister der Verteidigung / Bundeswehr / Peter Struck / Dokumentation (20.05.2003)

Dr. Peter Struck
Bundesminister der Verteidigung
Mitglied des Deutschen Bundestages

HAUSANSCHRIFT Stauffenbergstr. 18, 10785 Berlin
POSTANSCHRIFT 11055 Berlin

TEL +49 (0)1888-24-8000
FAX +49 (0)1888-24-8004

Hiermit erlasse ich die

VERTEIDIGUNGSPOLITISCHEN RICHTLINIEN
für den Geschäftsbereich
des Bundesministers der Verteidigung
Berlin, 21. Mai 2003

Inhalt
Seite
I. VPR für ein verändertes sicherheitspolitisches Umfeld 3
II. Kernaussagen 4
III. Deutsche Sicherheit: Risiken und Chancen 6
IV. Prinzipien und Interessen deutscher Sicherheitspolitik 9
V. Deutsche Verteidigungspolitik 10
V.1 Multinationale Einbindung 11
V.2 Bundeswehr im Einsatz 13
V.3 Ressourcen 14
VI. Auftrag der Bundeswehr 16
VII. Aufgaben der Bundeswehr 17
VIII. Folgerungen für die Bundeswehr 20
VIII.1 Umfang und Struktur der Bundeswehr 21
VIII.2 Fähigkeiten der Bundeswehr 22

I. VPR für ein verändertes sicherheitspolitisches Umfeld

1. Die Sicherheitslage hat sich grundlegend gewandelt. Neue sicherheitspolitische
Risiken und Chancen verlangen veränderte Fähigkeiten.

2. Auftrag, Aufgaben und Fähigkeiten der Bundeswehr orientieren sich
konsequent an der zu erwartenden Sicherheitslage und den sicherheitspolitischen
Verpflichtungen Deutschlands als NATO- und EUPartner.
Gleichzeitig berücksichtigen sie die Ressourcenlage.

3. Die begonnene umfassende Reform der Bundeswehr wird weiter entwickelt.
Gewichtung und Ausgestaltung der Aufgaben der Bundeswehr
unter den neuen strategischen Bedingungen stehen hierbei im Vordergrund.
Die Allgemeine Wehrpflicht bleibt in angepasster Form für
Einsatzbereitschaft, Leistungsfähigkeit und Wirtschaftlichkeit der Bundeswehr
unabdingbar.

4. Die Neugewichtung der Aufgaben der Bundeswehr und die daraus
resultierenden konzeptionellen und strukturellen Konsequenzen entsprechen
dem weiten Verständnis von Verteidigung, das sich in den
letzten Jahren herausgebildet hat.

5. Nach Artikel 87a des Grundgesetzes stellt der Bund Streitkräfte zur
Verteidigung auf. Verteidigung heute umfasst allerdings mehr als die
herkömmliche Verteidigung an den Landesgrenzen gegen einen konventionellen
Angriff. Sie schließt die Verhütung von Konflikten und Krisen,
die gemeinsame Bewältigung von Krisen und die Krisennachsorge
ein. Dementsprechend lässt sich Verteidigung geografisch nicht mehr
eingrenzen, sondern trägt zur Wahrung unserer Sicherheit bei, wo immer
diese gefährdet ist. Die Vereinbarkeit internationaler Einsätze der
Bundeswehr, die im Rahmen von Systemen kollektiver Sicherheit
durchgeführt werden, mit der Verfassung wurde durch das Bundesverfassungsgericht
und den Deutschen Bundestag bestätigt.

6. Deutsche Verteidigungspolitik ist das Handeln Deutschlands zur
Sicherheitsvorsorge im Rahmen seiner Außen- und Sicherheitspolitik.
Streitkräfte sind ein wesentlicher Teil einer auf Vorbeugung und Eindämmung
von Krisen und Konflikten zielenden Außen- und Sicherheitspolitik.

7. Diese Verteidigungspolitischen Richtlinien (VPR)
– legen die Grundsätze für die Gestaltung der Verteidigungspolitik
fest,
– bestimmen im Rahmen der gesamtstaatlichen Vorsorgepflicht für
die Sicherheit Deutschlands den Auftrag der Bundeswehr, gewichten
deren Aufgaben und machen Vorgaben für die Fähigkeiten
der Streitkräfte der Zukunft.

8. Die VPR sind die verbindliche Grundlage für die Arbeiten im Geschäftsbereich
des Bundesministers der Verteidigung. Sie werden angesichts
der Dynamik der sicherheitspolitischen Herausforderungen regelmäßig
überprüft und weiterentwickelt.

II. Kernaussagen

9. Das sicherheitspolitische Umfeld Deutschlands ist durch veränderte
Risiken und neue Chancen gekennzeichnet. Eine Gefährdung deutschen
Territoriums durch konventionelle Streitkräfte gibt es derzeit und
auf absehbare Zeit nicht. Das Einsatzspektrum der Bundeswehr hat
sich grundlegend gewandelt.

10. Die sicherheitspolitische Lage erfordert eine auf Vorbeugung und Eindämmung
von Krisen und Konflikten zielende Sicherheits- und Verteidigungspolitik,
die das gesamte Spektrum sicherheitspolitisch relevanter
Instrumente und Handlungsoptionen umfasst und auf gemeinsamem
Handeln mit Verbündeten und Partnern aufbaut. Für die Bundeswehr
stehen Einsätze der Konfliktverhütung und Krisenbewältigung sowie zur
Unterstützung von Bündnispartnern, auch über das Bündnisgebiet hinaus,
im Vordergrund.

11. Die multinationale Sicherheitsvorsorge ist ein grundlegender Bestimmungsfaktor
deutscher Verteidigungspolitik. Bewaffnete Einsätze der
Bundeswehr mit Ausnahme von Evakuierungs- und Rettungsoperationen
werden nur gemeinsam mit Verbündeten und Partnern im Rahmen
von VN, NATO und EU stattfinden.

12. Die herkömmliche Landesverteidigung gegen einen konventionellen
Angriff als allein strukturbestimmende Aufgabe der Bundeswehr entspricht
nicht mehr den aktuellen sicherheitspolitischen Erfordernissen.
Die nur für diesen Zweck bereitgehaltenen Fähigkeiten werden nicht
länger benötigt. Der Wiederaufbau der Befähigung zur Landesverteidigung gegen einen Angriff mit konventionellen Streitkräften innerhalb
eines überschaubaren längeren Zeitrahmens – Rekonstitution – muss
jedoch gewährleistet sein.

13. Die Bundeswehr wird in diesem Verständnis weiterentwickelt: Auftrag,
Aufgaben, Ausrüstung und Mittel werden in ein ausgewogenes Verhältnis
gebracht. Die Aufgaben der Bundeswehr werden angesichts einer
gewandelten sicherheitspolitischen Lage neu gewichtet. Die Fähigkeiten
der Bundeswehr werden entsprechend angepasst. Die Finanzmittel
werden künftig vor allem zur Erfüllung der militärischen Kernfähigkeiten
eingesetzt.

14. Für die Beschaffungs- und Ausrüstungsplanung wird ein fähigkeitsorientierter,
teilstreitkraft- und bereichsübergreifender Gesamtansatz entwickelt.
Rüstungskooperation im europäischen und transatlantischen
Rahmen hat Vorrang vor der Realisierung von Vorhaben in nationaler
Verantwortung.

15. Für die verstärkte und raschere Ausrichtung der Bundeswehr auf die
wahrscheinlicheren Aufgaben der internationalen Konfliktverhütung und
Krisenbewältigung benötigt die Bundeswehr nach Einsatzbereitschaft
und Präsenz differenzierte Streitkräfte, die schnell und wirksam zusammen
mit den Streitkräften anderer Nationen eingesetzt werden
können. Hierzu bedarf es eines Fähigkeitsprofils mit Schwerpunkt auf
sechs wesentlich miteinander verzahnten Fähigkeitskategorien:
– Führungsfähigkeit;
– Nachrichtengewinnung und Aufklärung;
– Mobilität;
– Wirksamkeit im Einsatz;
– Unterstützung und Durchhaltefähigkeit;
– Überlebensfähigkeit und Schutz.

16. Die Wehrpflicht bleibt in angepasster Form für die Einsatzbereitschaft,
Leistungsfähigkeit und Wirtschaftlichkeit der Bundeswehr unabdingbar.
Der Schutz Deutschlands und seiner Bürgerinnen und Bürger einschließlich
der Befähigung zur Rekonstitution sowie die eventuelle Unterstützung
bei Naturkatastrophen und Unglücksfällen begründen auch
künftig – neben anderen Gründen – die allgemeine Wehrpflicht.

III. Deutsche Sicherheit: Risiken und Chancen

17. Das internationale Umfeld Deutschlands ist ungeachtet der politisch
vorteilhaften Veränderungen der vergangenen Jahre nicht frei von militärischen
und nicht-militärischen Risiken, die Sicherheit und Stabilität
gefährden und bedrohen.

18. Die Anschläge vom 11. September 2001 haben die zivilisierte Welt in
ihrer Gesamtheit zutiefst erschüttert. Nachfolgende Terroranschläge
haben das Bewusstsein für die asymmetrischen Gefährdungen geschärft,
die jederzeit, an jedem Ort der Welt erfolgen und sich gegen
jeden richten können.

19. Vornehmlich religiös motivierter Extremismus und Fanatismus, im Verbund
mit der weltweiten Reichweite des internationalen Terrorismus,
bedrohen die Errungenschaften moderner Zivilisationen wie Freiheit
und Menschenrechte, Offenheit, Toleranz und Vielfalt.

20. Die Weiterentwicklung von Massenvernichtungswaffen in Verbindung
mit weitreichenden Trägermitteln kann auch die Bevölkerung und die
Länder Europas bedrohen. Die Streitkräfte im Einsatz unterliegen einer
besonderen Gefährdung. Der Versuch von Terrorgruppen, Zugriff auf
Massenvernichtungswaffen zu erhalten, hat die mit der Proliferation
verbundenen Risiken verschärft.

21. Die Proliferation von Massenvernichtungswaffen kann nur durch umfassende
nichtverbreitungspolitische Maßnahmen und eine nach transparenten
Regeln gestaltete Ordnungspolitik der internationalen Gemeinschaft
eingedämmt und verhindert werden. Diese politische Krisenvorsorge
bedarf der Ergänzung durch Schutzmaßnahmen gegenüber Risiken,
die sich aus der Weiterverbreitung ergeben. Zur Abwehr von
Bedrohungen sind zudem vor allem gegenüber nicht-staatlichen Akteuren
entsprechende zivile und militärische Mittel und Fähigkeiten zu entwickeln.

22. Globale Nichtverbreitungsverträge und Rüstungsexportkontrollen sind
zu verbessern. Die Lösung regionaler Konflikte kann dazu beitragen,
Staaten zum Verzicht auf Massenvernichtungswaffen zu bewegen.

23. In Europa sind auch weiterhin gewaltsam ausgetragene, nationalistisch
und ethnisch motivierte, oft von kriminellen Strukturen geförderte Gewaltkonflikte
möglich. Die fortdauernd labile Sicherheitslage auf dem
Balkan macht weiterhin das besondere Engagement gerade der europäischen
Nationen erforderlich. Militärische Beiträge zur Gestaltung eines sicheren Umfelds für eine nachhaltige politische und gesellschaftliche
Normalisierung bleiben unerlässlich.

24. Europa ist von Krisen an seiner südlichen und südöstlichen Peripherie
unmittelbar betroffen. Die veränderte Sicherheitslage fordert sowohl die
NATO als auch die EU in neuer Weise.

25. Die Lösung der vielfältigen regionalen Krisen und Konflikte bleibt von
herausragender Bedeutung für Sicherheit und Stabilität im europäischen
und globalen Rahmen. Ungelöste politische, ethnische, religiöse,
wirtschaftliche und gesellschaftliche Konflikte wirken sich im Verbund
mit dem internationalen Terrorismus, mit der international operierenden
Organisierten Kriminalität und den zunehmenden Migrationsbewegungen
unmittelbar auf die deutsche und europäische Sicherheit aus. Ihnen
kann nur durch ein umfassendes Sicherheitskonzept und mit einem
System globaler kollektiver Sicherheit begegnet werden.

26. Moderne Informationsgesellschaften sind abhängig von Informations-
und Kommunikationssystemen und damit verletzlich. Einfache Anwendungstechniken
und ungenügende Schutzmaßnahmen erhöhen die Gefährdung
von Staat, Gesellschaft und Infrastruktur und erleichtern vielfältige
Formen der Informationskriegführung.

27. Die deutsche Wirtschaft ist aufgrund ihres hohen Außenhandelsvolumens
und der damit verbundenen besonderen Abhängigkeit von empfindlichen
Transportwegen und -mitteln zusätzlich verwundbar.

28. Die gewaltigen politischen Umwältzungen in Europa und die Überwindung
des sich global auswirkenden Kalten Krieges haben aber auch zu
neuen Chancen für Sicherheit und Stabilität geführt. Die breite internationale
Koalition gegen den Terror ist die Grundlage für eine effektive
Prävention und Bekämpfung dieser Bedrohung. Dabei eröffnet diese
Koalition neue Handlungsoptionen für gemeinsame Risikovorsorge,
auch zwischen Staaten unterschiedlicher Kulturen und Religionen. Das
Völkerrecht und insbesondere die Charta der VN bilden die Grundlage
für das Handeln im Kampf gegen den Terror.

29. Deutsche Sicherheitspolitik gewinnt im vereinten Europa zusätzliche
Handlungsoptionen. Gemeinsam mit den Verbündeten und Partnern in
der NATO und der EU sowie in Zusammenarbeit mit Russland und anderen
Deutschland partnerschaftlich verbundenen Staaten gilt es,
kooperative Strategien zur multilateralen Risikovorsorge und zu internationalen
Konfliktlösungen weiter zu entwickeln. So können die Chancen
für eine regionale und auch weltweit angelegte Sicherheitsvorsorge genutzt und sicherheitspolitische Risiken verringert werden. Abrüstung
und Rüstungskontrolle bleiben wesentliche Faktoren der globalen Sicherheitsordnung.

30. Die fortschreitende Erweiterung und Vertiefung der euroatlantischen
Sicherheitsstrukturen schaffen einen weltweit einzigartigen Stabilitätsraum.
Die Öffnung von NATO und EU für neue Mitglieder festigt
Sicherheit und Stabilität, verlangt aber auch, mehr Pflichten zu übernehmen.

31. Deutschland profitiert von dieser Entwicklung in Europa. Eine Gefährdung
des deutschen Staatsgebiets durch konventionelle Streitkräfte ist
derzeit und auf absehbare Zeit nicht zu erkennen.

32. Mit der Anpassung der NATO an das veränderte sicherheitspolitische
Umfeld sind die Grundlagen dafür gelegt, dass das Bündnis auch in der
Zukunft seine zentrale Rolle wahrnehmen wird. Die USA bleiben für die
Sicherheit Europas unverzichtbar.

33. Die sicherheitspolitische Integration der EU und die daraus entstehende
Handlungsfähigkeit sind ein Kernelement bei der Sicherung von Frieden
und Stabilität in Europa. Mit der Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik
(ESVP) stärkt die EU ihr Instrumentarium zum gemeinsamen
Handeln in der Konfliktverhütung und Krisenbewältigung, auch
über Europa hinaus. Die ESVP ist kein Ersatz für, sondern eine notwendige
Ergänzung zur NATO, die die Allianz stärkt und den Kern
eines europäischen Pfeilers der Allianz bildet. Bereits heute verstehen
sich EU und NATO als strategische Partner bei internationaler Konfliktverhütung
und Krisenbewältigung.

34. Die außenpolitische Neuorientierung Russlands eröffnet Chancen für
eine konstruktive Zusammenarbeit in Europa und im globalen Rahmen.
Die Entscheidung des Weltwirtschaftsgipfels 2002, die Russische Föderation
als Vollmitglied in den Kreis der G8-Staaten aufzunehmen, die Intensivierung
des Dialogs im Rahmen des NATO-Russland-Rats und die
gemeinsamen Maßnahmen gegen den internationalen Terrorismus bilden
die Grundlage für eine noch engere langfristige Kooperation in sicherheitspolitischen
Fragen.

IV. Prinzipien und Interessen deutscher Sicherheitspolitik

35. Oberstes Ziel deutscher Sicherheitspolitik ist es, die Sicherheit und den
Schutz seiner Bürgerinnen und Bürger zu gewährleisten. Sie nutzt dazu
die bestehenden globalen und regionalen Sicherheitsinstitutionen wie
die Vereinten Nationen (VN), die Organisation für Sicherheit und Zu-
sammenarbeit in Europa (OSZE), die Nordatlantische Allianz (NATO)
und die Europäische Union (EU). Die Vielfalt der Aufgaben erfordert
eine gesamtstaatliche Sicherheitspolitik mit flexiblen und aufeinander
abgestimmten Instrumenten, die mittelfristig in einer nationalen Sicherheitskonzeption
gebündelt werden müssen.

36. Deutsche Sicherheitspolitik ist umfassend angelegt und berücksichtigt
politische, ökonomische, ökologische, gesellschaftliche und kulturelle
Bedingungen und Entwicklungen. Sicherheit kann weder vorrangig
noch allein durch militärische Maßnahmen gewährleistet werden.
Vorbeugende Sicherheitspolitik umfasst politische und diplomatische Initiativen
sowie den Einsatz wirtschaftlicher, entwicklungspolitischer,
rechtsstaatlicher, humanitärer und sozialer Maßnahmen.

37. Gleichwohl sind die politische Bereitschaft und die Fähigkeit, Freiheit
und Menschenrechte, Stabilität und Sicherheit notfalls auch mit militärischen
Mitteln durchzusetzen oder wiederherzustellen, unverzichtbare
Voraussetzung für die Glaubwürdigkeit eines umfassenden Ansatzes
von Sicherheitspolitik. Grundgesetz und Völkerrecht bilden die Grundlage
für alle Einsätze der Bundeswehr.

38. Kein Staat kann unter den heutigen Bedingungen für sich allein Frieden,
Sicherheit und Wohlstand gewährleisten. Die Gestaltung des
internationalen Umfelds in Übereinstimmung mit deutschen Interessen,
die Bewältigung der komplexen Herausforderungen, die Eindämmung
von Risiken und Bedrohungen und der Schutz Deutschlands vor ihnen
sind im nationalen Alleingang nicht zu leisten. Gemeinsame Anstrengungen
sind notwendig.

39. Die neuen sicherheitspolitischen Chancen und die komplexen Risiken
erfordern eine deutsche Sicherheits- und Verteidigungspolitik, die auf
die Verhütung von Krisen und Konflikten ausgerichtet ist, das gesamte
Spektrum sicherheitspolitisch relevanter Instrumente und Handlungsoptionen
umfasst und gemeinsam mit den Verbündeten und Partnern in
der NATO und in der EU organisiert ist. Ihr Ziel ist, vorbeugend und
eindämmend Gewalt zu verhindern. Dies verlangt zwingend nationale
und internationale Fähigkeiten zur Früherkennung und Aufklärung.

40. Für die deutsche Sicherheits- und Verteidigungspolitik ergeben sich
daraus drei Folgerungen:
Erstens: Die transatlantische Partnerschaft bleibt die Grundlage unserer
Sicherheit. Ohne die Vereinigten Staaten von Amerika gibt es auch
künftig keine Sicherheit in und für Europa. Deutschland wird weiterhin
einen substanziellen Beitrag zur transatlantischen Partnerschaft leisten.
Zweitens: Der Stabilitätsraum Europa wird durch eine breit angelegte,
kooperative und wirksame Sicherheits- und Verteidigungspolitik der EU
gestärkt. Auch die Globalisierung macht ein voll handlungsfähiges
Europa erforderlich. Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik
beruht auf der strategischen Partnerschaft mit der Nordatlantischen
Allianz und ermöglicht selbständiges europäisches Handeln, wo die
NATO nicht tätig sein muss oder will.
Drittens: Deutschland beteiligt sich aktiv an der Arbeit von VN und
OSZE, um die eigene Sicherheit zu gewährleisten, der Achtung der
Menschenrechte und des Völkerrechts weltweit Geltung zu verschaffen,
Demokratie, wirtschaftlichen Fortschritt, soziale Entwicklung nachhaltig
zu stärken, die natürlichen Lebensgrundlagen zu erhalten sowie die
Kluft zwischen armen und reichen Weltregionen zu überwinden.

V. Deutsche Verteidigungspolitik

41. Deutsche Verteidigungspolitik wird maßgeblich durch drei Faktoren
geprägt:
– die multinationale Einbindung der Bundeswehr im Rahmen einer auf
europäische Integration, transatlantische Partnerschaft und globale
Verantwortung ausgerichteten Außenpolitik,
– das veränderte Einsatzspektrum der Bundeswehr und die gewachsene
Anzahl an internationalen Einsätzen,
– die verfügbaren Ressourcen.

V.1 Multinationale Einbindung

42. Bewaffnete Einsätze der Bundeswehr – mit der möglichen Ausnahme
von Evakuierungs- und Rettungsoperationen – werden gemeinsam mit
Verbündeten und Partnern im Rahmen von VN, NATO und EU stattfinden.

43. Bei der Bewältigung der Herausforderungen des 21. Jahrhunderts fällt
den VN eine herausragende Rolle zu. Der Sicherheitsrat der VN trägt
nach der Charta die Hauptverantwortung für die Wahrung des Weltfriedens
und der internationalen Sicherheit.

44. Internationale VN-Friedensmissionen haben sich erheblich gewandelt.
Sie reichen von den klassischen Blauhelm-Missionen über die Konfliktverhütung
durch politische Aktivitäten und vorbeugende Truppenstationierung
bis hin zum Einsatz bewaffneter Kräfte zur Eindämmung von
Konflikten und zur Stabilisierung der politischen Lage. Immer häufiger
geht es auch um die Beendigung innerstaatlicher Konflikte und die
Wiederherstellung friedlicher Lebensbedingungen für die Bevölkerung.
Dafür benötigen Friedensmissionen ausgewogene militärische, zivile
und polizeiliche Fähigkeiten.

45. Die Bereitschaft zu substanziellen Beiträgen und das Engagement in allen
Gremien wie auch in der konkreten Arbeit der VN in den Krisengebieten
wahrt und verstärkt Deutschlands Einfluss auf die künftige Rolle
der Weltorganisation.

46. Die Zugehörigkeit Deutschlands zur NATO ist Grundlage für seine
Sicherheit. Die NATO bleibt auch zu Beginn des 21. Jahrhunderts
Garant für stabile Sicherheit in Europa, kollektives Verteidigungsbündnis
und transatlantisches Konsultationsforum. Dadurch leistet sie einen
unverzichtbaren Beitrag zur Gestaltung der gesamteuropäischen Friedensordnung
und verknüpft die Sicherheit Europas mit der Sicherheit
Nordamerikas.

47. Krisen und Konflikte, Bedrohungen und deren Ursachen im erweiterten
geografischen Umfeld wirken sich immer häufiger und nachdrücklicher
auf das Bündnis aus. Die NATO muss sich diesen Anforderungen stellen
und in der Lage sein, die lebenswichtigen Sicherheitsinteressen
ihrer Mitglieder zu verteidigen. Deutschland wird einen angemessenen
Beitrag leisten, damit die NATO in Übereinstimmung mit dem Washingtoner
Vertrag und der Charta der VN sowie auf der Grundlage ihres
strategischen Konzepts das volle Spektrum ihrer Aufgaben erfüllen
und kollektiv auf die neuen Herausforderungen reagieren kann, aus
welcher Richtung sie auch kommen mögen.

48. Deutschland ist mit seinen Streitkräften mehr als jeder andere Bündnispartner
in die NATO integriert. Ihm fällt im Bündnis eine herausragende
Rolle und Verantwortung für den künftigen Kurs der NATO zu.

49. Die NATO sieht den Aufbau einer schnellen Eingreiftruppe und Maßnahmen
zur Verbesserung der militärischen Fähigkeiten zum Schutz
gegen Massenvernichtungswaffen und ballistische Flugkörper und zur
Verteidigung gegen den Terrorismus vor. Die Bundeswehr wird sich im
Rahmen ihrer Möglichkeiten an diesen Vorhaben beteiligen. Die Kompatibilität
mit dem Aufbau von Fähigkeiten im Rahmen der ESVP wird
sichergestellt.

50. Die EU ist der Kern des europäischen Stabilitätsraums. Für ihre politische
Glaubwürdigkeit und Durchsetzungsfähigkeit ist es unabdingbar,
dass sie umfassend in allen Politikbereichen handlungsfähig wird.
Krisen, die Europa berühren, muss die EU mit einer breiten Palette
ziviler und militärischer Fähigkeiten begegnen können. Die ESVP ist
daher ein entscheidender Schritt zur Vertiefung der Integration und zur
Erweiterung der sicherheitspolitischen Handlungsfähigkeit Europas. Ziel
ist die Schaffung einer Europäischen Sicherheits- und Verteidigungsunion
als Teil einer voll entwickelten Politischen Union.

51. Deutschland hat in den vergangenen Jahren bei den Beschlüssen der
EU zur Ausgestaltung der ESVP eine Schlüsselrolle gespielt. Die
Umsetzung der europäischen Streitkräfteziele und die Beseitigung erkannter
Fähigkeitsdefizite im nationalen und europäischen Rahmen
sowie die Bereitstellung der angezeigten militärischen Fähigkeiten und
Mittel sind Maßstab dafür, wie Deutschland und seine Partner ihre Verantwortung
im Rahmen der EU wahrnehmen.

52. Die Kräfte, die der NATO und der EU angezeigt werden, stehen beiden
Organisationen zur Verfügung.

53. Die Verpflichtung Deutschlands zur schnellen militärischen Reaktionsfähigkeit
im Rahmen von NATO und EU macht eine ebenso schnelle
politische Entscheidungsfähigkeit auf nationaler Ebene unabdingbar.

V.2 Bundeswehr im Einsatz

54. Im zurückliegenden Jahrzehnt hat sich das Einsatzspektrum der Bundeswehr
grundlegend verändert. Intensität, Umfang und Dauer von
Operationen stellen unterschiedliche und wachsende Anforderungen an
die Streitkräfte.

55. Die Bundeswehr ist gefordert bei der Evakuierung deutscher Staatsbürger
aus Notlagen und bei humanitären Einsätzen. Gemeinsam mit
Streitkräften befreundeter Nationen und Partnern beteiligt sie sich an
friedenserhaltenden, stabilisierenden und friedenserzwingenden Operationen.
Durch diese Einsätze trägt die Bundeswehr dazu bei, gewaltsame
Konflikte zu verhindern oder zu beenden. Sie wirkt durch Stabilisierung
und Abschreckung gegen die Verschärfung von Krisen und Konflikten
und ermöglicht die Konsolidierung von Friedensprozessen. Hinzu
kommen Einsätze im Kampf gegen den internationalen Terrorismus,
auch als Beiträge zur Unterstützung von Bündnispartnern.

56. Darüber hinaus leistet die Bundeswehr breitgefächerte militärische Beiträge
in den Einsatzgebieten, die von der Mithilfe bei der Gewährleistung
von Sicherheit und Ordnung im jeweiligen Gebiet und der Unterstützung
humanitärer Maßnahmen über Schutzmaßnahmen für eingesetzte
militärische Kräfte – auch die anderer Nationen – bis hin zu
Schutzvorkehrungen gegen Angriffe mit Massenvernichtungswaffen reichen
können. Immer häufiger übernimmt die Bundeswehr Führungsaufgaben
bei multinationalen Operationen.

57. Künftige Einsätze lassen sich wegen des umfassenden Ansatzes zeitgemäßer
Sicherheits- und Verteidigungspolitik und ihrer Erfordernisse
weder hinsichtlich ihrer Intensität noch geografisch eingrenzen. Der politische
Zweck bestimmt Ziel, Ort, Dauer und Art eines Einsatzes. Die
Notwendigkeit für eine Teilnahme der Bundeswehr an multinationalen
Operationen kann sich weltweit und mit geringem zeitlichen Vorlauf ergeben
und das gesamte Einsatzspektrum bis hin zu Operationen mit
hoher Intensität umfassen.

58. Die Grenzen zwischen den unterschiedlichen Einsatzarten sind fließend.
Eine rasche Eskalation von Konflikten, wodurch ein friedenser-
haltender Einsatz in eine Operation mit höherer Intensität übergeht, ist
nie auszuschließen.

59. Die derzeitigen und künftigen Einsätze der Bundeswehr machen es
notwendig, dass die Streitkräfte sich angemessen an multinationalen
Operationen im Rahmen des gesamten Einsatzspektrums von Konflikt-
verhütung und Krisenbewältigung beteiligen können sowie zur Unter-
stützung von Bündnispartnern auch über das Bündnisgebiet hinaus befähigt
sind.

60. Die bisherigen Rahmenvorgaben für Anzahl und Umfang von möglichen
Operationen bedürfen der Überprüfung und Anpassung, um die hohe
Belastung, in Teilen Überlastung der Einsatzkräfte abzubauen.

61. Bei der Ausrichtung der Bundeswehr auf die künftigen Aufgaben ist es
erforderlich, sich auf die Verbesserung der für die Einsätze besonders
wichtigen Fähigkeitsbereiche zu konzentrieren. Die Befähigung zur Interoperabilität
und zum multinationalen Zusammenwirken im Einsatz mit
Bündnispartnern ist zu verbessern.

62. Ausschließlich für die herkömmliche Landesverteidigung gegen einen
konventionellen Angreifer dienende Fähigkeiten werden angesichts des
neuen internationalen Umfelds nicht mehr benötigt. Sie können zudem
angesichts der knappen, zur Schwerpunktbildung zwingenden Ressourcenlage
nicht mehr erbracht werden, ohne dass sich dies nachteilig
auf die künftig erforderlichen Fähigkeiten auswirkt. Notwendig bleibt
vielmehr eine Befähigung, die es erlaubt, die Landesverteidigung gegen
einen Angriff mit konventionellen Streitkräften innerhalb eines überschaubaren
längeren Zeitrahmens wieder aufzubauen. Dies erfordert
die Beibehaltung der Wehrpflicht. Darüber hinaus müssen die Streitkräfte
– eingebettet in gesamtstaatliches Handeln – zu einem angemessenen
Beitrag zur Verhinderung, Abwehr und Bewältigung von terroristischen
Anschlägen und zum Schutz Deutschlands vor asymmetrischen
Angriffen von außen im Rahmen der geltenden Gesetze befähigt sein.
Auch hierfür ist die Beibehaltung der Wehrpflicht unerlässlich.

V.3 Ressourcen

63. Die zahlenmäßige Stärke der Streitkräfte und die Grundzüge ihrer
Organisation müssen sich aus dem Auftrag und dem daraus entwickel-
ten Haushaltsplan ergeben. Die mittelfristige Finanzplanung ist eine
verbindliche Grundlage für die Planungen der Bundeswehr.

64. Der Verteidigungshaushalt wird derzeit bestimmt durch nahezu konstante
Betriebsausgaben, einen hohen Anteil Personalkosten und zu
geringe Materialinvestitionen bei gleichzeitig starker Überplanung und
hohen Bindungsständen. Die strukturelle Neuausrichtung und die materielle
Modernisierung stehen aufgrund begrenzter Finanzmittel noch
nicht in Übereinstimmung. Deshalb ist eine Umschichtung innerhalb des
Verteidigungshaushalts zugunsten von Investitionen notwendig.

65. Die bisherige Beschaffungs- und Ausrüstungsplanung wird noch stringenter
an dem fähigkeitsorientierten, teilstreitkraft- und bereichsübergreifenden
Gesamtansatz ausgerichtet und multinational abgestimmt.
Auch im Hinblick auf die hohen Kosten multinationaler Einsätze und
gemeinsamer Operationen sind uneingeschränktes streitkräftegemeinsames
Denken und Handeln und eine entsprechende Führungsstruktur
unabdingbar.

66. Die verfügbaren Mittel werden vor allem zum Erhalt und zur Verbesserung
militärischer Kernfähigkeiten eingesetzt. Hierbei kommt den
Anstrengungen zur Erhöhung der Effizienz in der Bundeswehr, auch in
Zusammenarbeit mit der Wirtschaft, hohe Bedeutung zu.

67. Durch Rüstungskooperation, Abbau verzichtbarer Fähigkeiten, Standardisierung,
gemeinsame Aufgabenwahrnehmung, funktionale
Arbeitsteilung und Rollenspezialisierung werden Mittel gespart. Fortschreitende
politische Integration in Europa sowie knappe finanzielle
Spielräume verstärken Notwendigkeit und Möglichkeiten zu weitergehender
Multinationalität.

68. Europäische und transatlantische Bündelung nationaler Mittel ist Vorgabe
für die Rüstungskooperation. Gemeinsame Planung, gemeinsame
Beschaffung, gemeinsamer Betrieb von Waffensystemen und gemeinsame
Ausbildung stecken den Rahmen ab für das, was durch europäische
Integration und Herausbildung der ESVP sicherheitspolitisch notwendig
und möglich ist und sich bereits in einer effizienteren europäischen
Rüstungskooperationspolitik manifestiert. Die Arbeiten zur Entwicklung
einer Europäischen Rüstungsagentur werden vorangetrieben.

69. Deutschland wird als Voraussetzung für solche Kooperationsfähigkeit
eine leistungs- und wettbewerbsfähige industrielle Basis in technologischen
Kernbereichen aufrechterhalten, um auf die Entwicklung entscheidender
Waffensysteme Einfluss nehmen zu können. Dies fördert
Bündnis- und Europafähigkeit und ist daher ein Teil deutscher Sicherheitspolitik. Der industrielle Zusammenschluss nationaler Rüstungs-
kapazitäten wird unverändert eine wichtige Rolle spielen.

VI. Auftrag der Bundeswehr

70. Der Auftrag der Bundeswehr ist eingebettet in die gesamtstaatliche
Vorsorgepflicht für die Sicherheit der Bürgerinnen und Bürger, unseres
Landes und unseres Wertesystems sowie für die Wahrung unserer Interessen
im europäischen und transatlantischen Zusammenhang.

71. Die Bundeswehr als Instrument einer umfassend angelegten, vorausschauenden
Sicherheits- und Verteidigungspolitik
– sichert die außenpolitische Handlungsfähigkeit,
– leistet einen Beitrag zur Stabilität im europäischen und globalen
Rahmen,
– gewährleistet die nationale Sicherheit und Verteidigung und trägt zur
Verteidigung der Verbündeten bei,
– fördert multinationale Zusammenarbeit und Integration.

72. Damit Sicherheits- und Verteidigungspolitik ihre Gestaltungsfunktion
wahrnehmen kann, ist eine leistungsfähige Bundeswehr unabdingbar.
Um seine Interessen und seinen internationalen Einfluss zu wahren und
eine aktive Rolle in der Friedenssicherung zu spielen, stellt Deutschland
in angemessenem Umfang Streitkräfte bereit, die schnell und wirksam
zusammen mit den Streitkräften anderer Nationen eingesetzt werden
können. Dazu gehört auch die Unterstützung von Bündnispartnern, an
den Bündnisgrenzen oder in einem geografisch noch weiteren Rahmen.

73. Die Bundeswehr ist zu einem unverzichtbaren Instrument einer umfassend
angelegten Politik der Konfliktverhütung und der Krisenbewältigung
geworden. Ihre Beiträge zur multinationalen Sicherheitsvorsorge
und zur Stärkung der internationalen Sicherheitsorganisationen fördern
die europäische und globale Stabilität.

74. Die Verteidigung Deutschlands gegen eine äußere Bedrohung bleibt die
politische und verfassungsrechtliche Grundlage der Bundeswehr. Als
Garant nationaler Sicherheit schützt und verteidigt die Bundeswehr
Deutschland gegen jede Bedrohung seiner Bevölkerung und seines
Territoriums und trägt zur Verteidigung seiner Verbündeten bei.

75. Angesichts der gewachsenen Bedrohung des deutschen Hoheitsgebiets
durch terroristische Angriffe gewinnt der Schutz von Bevölkerung
und Territorium an Bedeutung und stellt zusätzliche Anforderungen an
die Bundeswehr bei der Aufgabenwahrnehmung im Inland und demzufolge
an ihr Zusammenwirken mit den Innenbehörden des Bundes und
der Länder.

76. Die Bundeswehr leistet einen wichtigen Beitrag zum Aufbau partnerschaftlicher
Beziehungen durch umfassende Zusammenarbeit und Austausch
mit Partnerstreitkräften in aller Welt. Gleichzeitig trägt die Bundeswehr
durch die multinationale Zusammenarbeit im europäischen
und im NATO-Rahmen wesentlich zur Integration und Vertrauensbildung
in Europa bei und fördert das politische Ziel einer eigenständigen
europäischen Handlungsfähigkeit.

VII. Aufgaben der Bundeswehr

77. Die Aufgaben der Bundeswehr leiten sich ab aus dem ihr gegebenen
verfassungsrechtlichen Auftrag und den Zielen deutscher Sicherheits-
und Verteidigungspolitik.

78. Internationale Konfliktverhütung und Krisenbewältigung – einschließlich
des Kampfs gegen den internationalen Terrorismus – sind für deutsche
Streitkräfte auf absehbare Zeit die wahrscheinlicheren Aufgaben und
beanspruchen die Bundeswehr in besonderem Maße.
Diese Aufgaben prägen maßgeblich die Fähigkeiten, das Führungssystem,
die Verfügbarkeit und die Ausrüstung der Bundeswehr. Sie sind
strukturbestimmend für die Bundeswehr.
Einsätze zur Konfliktverhütung und Krisenbewältigung unterscheiden
sich hinsichtlich Intensität und Komplexität nicht von Einsätzen zur
Unterstützung von Bündnispartnern und können sogar in diese übergehen.
Beiderlei Einsätze bedingen daher grundsätzlich identische militärische
Fähigkeiten.

79. Unterstützung von Bündnispartnern umfasst die Wahrung der Integrität
des Staatsgebiets einschließlich der Hoheitsgewässer und des Luftraumes
sowie der politischen Entscheidungs- und Handlungsfreiheit der
Verbündeten. Dazu gehört die Unterstützung im Kampf gegen den
Terror sowie der Schutz der Bevölkerung und lebenswichtiger Infrastruktur.

Bei Angriffen auf Bündnispartner und bei Krisen und Konflikten, die zu
einer konkreten Bedrohung von Bündnispartnern eskalieren können, gilt
die Beistandsverpflichtung Deutschlands. Sie gilt auch für die Unterstützung
von Bündnispartnern im Falle der Abwehr gegen asymmetrische,
vor allem terroristische Angriffe.
Ein existenzbedrohender Angriff auf das Bündnis als Ganzes würde die
komplexesten Anforderungen an den Staat und seine Streitkräfte stellen
und eine grundlegende Umkehr der politischen Entwicklungen der
vergangenen Jahre oder die Entstehung völlig neuer politischer Konstellationen
voraussetzen. Er ist unwahrscheinlich.

80. Zum Schutz Deutschlands und seiner Bürgerinnen und Bürger leistet
die Bundeswehr künftig einen bedeutenden, zahlreiche neue Teilaufgaben
umfassenden und damit deutlich veränderten Beitrag im Rahmen
einer nationalen Sicherheitskonzeption.
Die Landesverteidigung im Rahmen des Bündnisses bleibt Aufgabe der
Bundeswehr als Ausdruck staatlicher Souveränität und gemeinsamer
Sicherheitsvorsorge gegen derzeit zwar unwahrscheinliche, aber für die
Zukunft nicht grundsätzlich auszuschließende bedrohliche Entwicklungen
der sicherheitspolitischen Lage. Sie kann den Einsatz deutlich umfangreicherer
eigener Streitkräfte erfordern. Angesichts der sicherheitspolitischen
und strategischen Lage können die hierfür erforderlichen
zusätzlichen Kräfte zeitgerecht wieder aufgestellt werden. Diese
Rekonstitution wird vor allem durch die allgemeine Wehrpflicht sichergestellt.
Zum Schutz der Bevölkerung und der lebenswichtigen Infrastruktur des
Landes vor terroristischen und asymmetrischen Bedrohungen wird die
Bundeswehr Kräfte und Mittel entsprechend dem Risiko bereithalten.
Auch wenn dies vorrangig eine Aufgabe für Kräfte der inneren Sicherheit
ist, werden die Streitkräfte im Rahmen der geltenden Gesetze immer
dann zur Verfügung stehen, wenn nur sie über die erforderlichen
Fähigkeiten verfügen oder wenn der Schutz der Bürgerinnen und
Bürger sowie kritischer Infrastruktur nur durch die Bundeswehr gewährleistet
werden kann. Grundwehrdienstleistende und Reservisten kommen
dabei in ihrer klassischen Rolle, dem Schutz ihres Landes und ihrer
Mitbürgerinnen und Mitbürger, zum Einsatz.
Die Überwachung des deutschen Luft- und Seeraums sowie die Wahrnehmung
luft- und seehoheitlicher Aufgaben in ressortübergreifender
Zusammenarbeit sind ständige Aufgaben.

Die Unterstützung für Streitkräfte von Verbündeten und Partnern in
Deutschland verlangt keine zusätzlichen eigenen Fähigkeiten, sondern
wird mit den vorgehaltenen Fähigkeiten der Bundeswehr und unter
Rückgriff auf zivile Mittel erfüllt.

81. Rettung und Evakuierung werden grundsätzlich in nationaler Verantwortung
durchgeführt, eine Beteiligung von Verbündeten und Partnern
ist jedoch möglich. Diese Aufgabe unterliegt keinen geografischen Einschränkungen
und setzt die besonders schnelle Verfügbarkeit von Spezialkräften
voraus.

82. Partnerschaft und Kooperation als militärische Daueraufgaben unterstützen
politische Maßnahmen zur Vorbeugung und Nachsorge von
Krisen und Konflikten und fördern Stabilität durch Vertrauensbildung.
Sie schaffen die Voraussetzung für transparentes gemeinsames Handeln
und umfassen auch die gleichberechtigte Teilnahme an multinationalen
Aktivitäten und Übungen. Dies schließt Maßnahmen zur Rüstungskontrolle
ein.

83. Hilfeleistungen der Bundeswehr werden bei Vorliegen der verfassungsrechtlichen
Voraussetzungen subsidiär bei Naturkatastrophen und besonders
schweren Unglücksfällen im Inland sowie zur Unterstützung
humanitärer Hilfsaktionen und zur Katastrophenhilfe im Ausland erbracht.
Solche Hilfeleistungen der Bundeswehr haben eine neue Qualität
gewonnen. Sie werden im In- und Ausland unter Abstützung auf
vorhandene Kräfte, Mittel und Einrichtungen gewährt. Als Beitrag zum
Wiederaufbau der gesellschaftlichen Ordnung und der Infrastruktur in
Krisengebieten können sie als eigenständige Operation durchgeführt
werden. Die Verfahren zur Durchführung derartiger Operationen sind im
engen Zusammenwirken mit anderen staatlichen Institutionen und zivilen
Hilfsorganisationen weiterzuentwickeln.

VIII. Folgerungen für die Bundeswehr

84. Der Einsatz der Bundeswehr zur internationalen Konfliktverhütung und
Krisenbewältigung und gegen den Terror hat den entscheidenden Einfluss
auf den weiteren Wandel der Bundeswehr zu einer Armee im Einsatz.
Dementsprechend sind geeignete und hinreichende Kräfte mit einer
hohen Verfügbarkeit und schnellen Reaktionsfähigkeit vorzuhalten.
Erste Kräfte müssen rasch verlegt werden können, um bereits im Anfangsstadium
einer Operation im Krisengebiet verfügbar zu sein.

85. Die Befähigung zur Unterstützung von Bündnispartnern bleibt vor allem
vor dem Hintergrund möglicher regionaler Konflikte oder terroristischer
Angriffe notwendig. Die Streitkräfte sind deutlicher daran auszurichten,
dass ihre Fähigkeiten, Mittel und Strukturen mit denen ihrer Partner
harmonisiert sind und dadurch doppelte Kapazitäten vermieden werden.
Auch der Verzicht auf einzelne Fähigkeiten ist möglich, wenn diese
von anderen Streitkräften geleistet oder übernommen werden können.
Der deutlich erweiterten, politisch und militärisch nutzbaren Vorwarnzeit
im Fall eines Angriffs auf das Bündnis als Ganzes ist strukturell Rechnung
zu tragen.

86. Die herkömmliche Landesverteidigung im Bündnisrahmen gegen konventionelle
Angriffe als die bisher maßgeblich strukturbestimmende
Aufgabe der Bundeswehr entspricht nicht mehr den sicherheitspolitischen
Erfordernissen. Der Schutz Deutschlands und seiner Bürgerinnen
und Bürger einschließlich der Überwachung des deutschen Luft-
und Seeraums sowie der Wahrnehmung luft- und seehoheitlicher Aufgaben
hat demgegenüber an Bedeutung gewonnen. Dieser Schutz
Deutschlands wird neu ausgerichtet, verlangt die konsequente Abstufung
von Präsenz, Bereitschaft und Ausbildung der Streitkräfte sowie
die Synergie aller staatlichen Instrumente der Sicherheitsvorsorge.

87. Für das künftige Aufgabenspektrum ist hervorragend qualifiziertes und
hochmotiviertes Personal in der Bundeswehr erforderlich, das in der
Lage ist, in einem komplexer gewordenen sicherheitspolitischen Umfeld
zu agieren. Die Attraktivität des Dienstes in der Bundeswehr muss daher
sichergestellt bleiben, auch um im Wettbewerb mit der Wirtschaft
leistungsfähigen Nachwuchs gewinnen und den Anteil von Frauen erhöhen
zu können. Das Potenzial der Reservisten ist konsequent zur
Ergänzung der Fähigkeiten der aktiven Truppe zu nutzen.

88. Die Bundeswehr übernimmt mit ihren vielfältigen Aufgaben eine in hohem
Maß gesellschaftlich und politisch wichtige Rolle in unserem Land,
die den uneingeschränkten Rückhalt verdient. Gleichzeitig entwickelt
die Bundeswehr ihr Konzept der Inneren Führung weiter, um es an die
neuen Einsatzbedingungen der Streitkräfte anzupassen und die Einbettung
der Streitkräfte in die Gesellschaft zu verstärken. Dies gilt entsprechend
für die Traditionsbildung und die Politische Bildung.

VIII.1 Umfang und Struktur der Bundeswehr

89. Die Aufgaben der Bundeswehr haben entscheidenden Einfluss auf ihre
Konzeption. Konfliktverhütung und Krisenbewältigung erfordern in
hohem Maße Professionalität und Flexibilität. Entscheidende Voraussetzung
für multinationale Einsätze und gemeinsame Operationen ist
ein hoher Grad an Interoperabilität. Die gestiegenen Anforderungen erfordern
zudem uneingeschränktes streitkräftegemeinsames Denken
und Handeln. Im Vordergrund stehen daher nicht die Fähigkeiten der
einzelnen Teilstreitkräfte, sondern ausschließlich die Fähigkeit der Bundeswehr
als Ganzes.
Der Erhalt und die Verbesserung der militärischen Kernfähigkeiten hat
Vorrang. Die diesem Ziel nicht unmittelbar dienenden Einrichtungen
und Leistungen der Bundeswehr werden einer kritischen Überprüfung
unterzogen.

90. Die Ausrichtung der Bundeswehr auf ihre wahrscheinlicheren Aufgaben
erfordert nach Einsatzbereitschaft und Präsenz differenzierte Streitkräfte.
Militärische Kapazitäten für internationale Konfliktverhütung und Krisenbewältigung
sowie zur Unterstützung von Bündnispartnern müssen
rasch verfügbar und durchhaltefähig sein. Ebenso wird ein angemessenes
Dispositiv zum Schutz Deutschlands bereitgehalten, welches zudem
als Kern für eine – im Falle einer sich abzeichnenden Verschlechterung
der politischen Lage notwendige – Rekonstitution dienen kann.

VIII.2 Fähigkeiten der Bundeswehr

91. Damit die Bundeswehr ihren Aufgaben gerecht werden kann, wird sie
über leistungsfähige Streitkräfte verfügen, die schnell und wirksam zusammen
mit den Streitkräften anderer Nationen eingesetzt werden
können. Dazu ist ein Fähigkeitsprofil erforderlich, welches sechs
wesentliche, miteinander verzahnte Fähigkeitskategorien umfasst:
– Führungsfähigkeit;
– Nachrichtengewinnung und Aufklärung;
– Mobilität;
– Wirksamkeit im Einsatz;
– Unterstützung und Durchhaltefähigkeit;
– Überlebensfähigkeit und Schutz.

92. Eine moderne und qualitativ hochwertige materielle Ausprägung sämtlicher
Teilfähigkeiten ist angesichts der sicherheitspolitischen Lage nicht
erforderlich und finanziell auch nicht zu leisten. Auf der Grundlage der
mittelfristigen Finanzplanung wird daher eine aus den Aufgaben der
Bundeswehr abgeleitete Beschaffungs- und Ausrüstungsplanung entwickelt.
Priorität haben weiterhin die bisher nicht vorhandenen Teilfähigkeiten
„Strategische Verlegung“ und „Weltweite Aufklärung“ sowie „leistungsfähige
und interoperable Führungssysteme und -mittel“. Die
Grundfähigkeit zur Flugkörperabwehr, zu der auch der Schutz von
Truppen im Einsatz vor Angriffen mit Raketen und Flugkörpern gehört,
ist weiter auszubauen.

93. Daneben gilt es, vor allem diejenigen Teilfähigkeiten zu erwerben oder
zu verbessern, die dazu geeignet sind, den erforderlichen militärischen
Beitrag zur Bekämpfung des internationalen Terrorismus zu leisten.

94. Mittel- bis langfristig sind Maßnahmen zum Schutz vor Auswirkungen
eines Informationskriegs zu entwickeln.

95. Beschaffungs- und Ausrüstungsplanungen haben stringent einem multinational
abgestimmten, fähigkeitsorientierten, teilstreitkraft- und
bereichsübergreifenden Gesamtansatz zu folgen.

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Quelle: Informationsstelle Militarisierung (IMI) e.V. - www.imi-online.de