Quelle: Informationsstelle Militarisierung (IMI) e.V. - www.imi-online.de

Dokumentation / in: Berliner Zeitung Samstag, 03. Mai 2003

Jede Nacht gibt es Raubgrabungen

Der Marburger Orientalist Walter Sommerfeld untersucht derzeit die Plünderungen im Irak

Berliner Zeitung / Frank Nordhausen / Dokumentation (06.05.2003)

Der Altorientalist Walter Sommerfeld leitet an der Marburger Universität das Institut für Orientalistik und Sprachwissenschaft. Er fährt seit 20 Jahren regelmäßig in den Irak, hat mehrere Jahre dort gelebt, an archäologischen Ausgrabungen teilgenommen und im Nationalmuseum gearbeitet. Zurzeit hält er sich in Bagdad auf, um einen Überblick über die Plünderung des Nationalmuseums, von Ausgrabungsstätten und anderen kulturellen Einrichtungen zu gewinnen.

Wie sieht es zurzeit im Nationalmuseum aus?

Bis auf die assyrischen Reliefs, die zu groß sind und zu gut befestigt waren, ist alles aus den Ausstellungsräumen verschwunden oder zerschlagen worden. Obwohl jetzt aufgeräumt wird, herrscht noch immer ein absolutes Chaos.

Wie geht es den irakischen Kollegen?

Im Museum wie in der Universität stehen sie unter Schock. Sie zittern, wenn sie von den Geschehnissen berichten, sie sind depressiv und apathisch. Für die meisten ist ihr Lebenswerk zerstört worden.

Mit welchem Ziel sind Sie angereist?

Ich versuche, mir einen präzisen Überblick zu verschaffen, um die Fachwelt informieren zu können. Was man über die Medien und Nichtfachleute mitbekommen hat, war doch sehr vage und ungenau. Langsam treffen nun die Experten in Bagdad ein, aber es läuft alles noch sehr unkoordiniert. Die Hilfsbereitschaft ist weltweit groß, aber wir können nicht im Ausland Konzepte entwickeln, ohne zu wissen, was eigentlich los ist.

Kann man die Schäden denn bereits beziffern?

Was wir zuerst befürchtet hatten, den Totalverlust der Bestände, das ist Gott sei Dank nicht der Fall. Die genaue Aufnahme aller Schäden wird noch Wochen dauern, aber grobe Schätzungen der Kollegen im Museum rechnen mit etwa 100 000 geplünderten Objekten. Das wäre mehr als die Hälfte der 180 000 Stücke, die das Museum besaß. Es ist nicht alles weg, aber ungeheuer viel.

Lässt sich feststellen, was geraubt wurde?

Das war genau die Frage, mit der ich hier ankam – sind die Inventarbücher erhalten, in denen der ganze Bestand des Museums sorgfältig registriert war mit Zeichnungen, Fotos, Angaben zu den Fundumständen? Glücklicherweise sind sie im Wesentlichen noch vorhanden.

Man könnte es fahrlässig nennen, dass alle wesentlichen Ausgrabungsstücke des Iraks im Nationalmuseum gelagert wurden.

Im Gegenteil, man hatte alles an einer Stelle konzentriert, weil man hoffte, es dort besser bewachen zu können als beim letzten Mal 1991, als die Objekte im ganzen Land verteilt waren und sieben Provinzmuseen ausgeplündert wurden. Es war eigentlich eine gut überlegte Schutzmaßnahme.

Hat es jemals zuvor einen solch gigantischen Kunstraub gegeben?

Man kann das im Irak vielleicht mit dem Mongolensturm vor 750 Jahren vergleichen. Aber eigentlich ist es einmalig. Es ist nicht nur das Museum geplündert worden, sondern auch die Universitäten, die Bibliotheken. Die Germanistische Abteilung hat in 50 Jahren über 15 000 Bände gesammelt, unersetzbare Schätze – und die sind jetzt total verbrannt. Davon sind nur noch Ascheklumpen übrig.

Ist Ihnen bei Ihren Gesprächen klar geworden, was genau geschehen ist?

Es war wohl eine Mischung aus organisiertem Raub und reinem Chaos. Fakt ist, dass die Plünderungen sofort nach dem Fall von Bagdad am 9. April einsetzten. Angeblich hatten sich irakische Milizen auf dem Gelände des Museums verbarrikadiert. Deshalb fürchteten die Mitglieder der Bürgerwehr, die die Bediensteten des Museums aufgestellt hatten, in Kriegshandlungen zu geraten und verließen das Gelände. Als sie am nächsten Morgen wiederkamen, waren die Plünderungen in vollem Gange.

Die Amerikaner sollen eine Stellung direkt gegenüber dem Museum gehabt, aber nicht eingegriffen haben.

Das hat man mir auch so erzählt. Sie hätten gesagt, sie seien in einer Kampfstellung gewesen und hätten deshalb nicht gegen die Plünderer vorgehen können. Zwei Museumsdirektoren gingen persönlich ins Palestine-Hotel zur amerikanischen Kommandantur. Museumsmitarbeiter appellierten wiederholt an die Offiziere amerikanischer Panzerverbände. Doch drei Tage lang hatten die Plünderer freie Hand, und es wurde nichts unternommen.

Welchen Charakter hatten die Plünderungen?

Im rechtsfreien Raum haben alle möglichen Leute so viel wie möglich fortgetragen, nicht nur Museumsstücke, auch Klimaanlagen, Tische, Computer. Aber es gibt auch Indizien, dass sachkundige Gruppen gezielt zugelangt haben. Berühmte Denkmäler, die im Irak-Museum nur als Nachbildung erhalten waren, was aber nur ein Fachmann erkennen kann, sind am Ort gelassen worden, obwohl rundherum alles abgeräumt wurde. Diese Leute wussten, was echt war oder nicht.

Die mögliche Gefährdung des Museums war in Amerika ja bekannt.

Schon im Januar hatten führende amerikanischen Archäologen aus dem Oriental Institute in Chicago eine detaillierte Liste aller schützenswerten Objekte im Irak dem Pentagon und dem State Department übergeben, und das Irak-Museum stand an oberster Stelle. Aber die Raubzüge gehen ja in diesem Moment noch weiter. Kollegen sind gerade in Babylon gewesen und berichten, dass dort noch immer geplündert wird – in Babylon, gibt es einen berühmteren Namen in der Welt? Auch dort war die Antwort der Amerikaner auf die Bitte um Hilfe: Das entspricht nicht unserem Befehl. Dafür gibt es wirklich keine Entschuldigung. Als ich im Januar hier im Irak war, hatten die meisten irakischen Kollegen mehr Angst vor Anarchie und Plünderungen nach dem Krieg als vor dem Krieg selbst. 1991, während des damaligen Aufstandes gegen Saddam Hussein, wurden fast 5 000 Objekte gestohlen, von denen nur ein verschwindend kleiner Teil auf dem Kunstmarkt wieder auftauchte. Auch jetzt werden wohl die meisten Stücke unwiederbringlich verloren sein.

Welche Preise sind auf dem Antiquitätenmarkt zu erzielen?

Der Irak als eine der ältesten Kulturnationen besitzt sehr viele unermesslich kostbare Stücke. Bis etwa 1990 waren die Kulturdenkmäler im Gegensatz zu anderen Ländern bestens geschützt. Es gab keine Diebstähle, keine Raubgrabungen, die Bauern haben freiwillig Antiquitäten im Museum abgegeben. Während des Embargos ist ein solches Elend über die Bevölkerung gekommen, dass heute alles zu Geld gemacht wird, und die Regierung hatte keine Mittel, das zu unterbinden.

Haben Sie selbst solche Raubgrabungen gesehen?

Leider mehrfach, zuletzt im Januar in Isin, einem Ort, der 200 Jahre lang die Hauptstadt Mesopotamiens war. Ich habe die Ruine fast nicht wiedererkannt. Nacht für Nacht kommen die Räuber mit 20 bis 30 Autos und nehmen sie im Stil einer Großbaustelle auseinander. Es gibt dort zehn Meter tiefe Löcher von 20 bis 30 Quadratmeter Größe. Da kommen Bagger zum Einsatz. Es ist zu befürchten, dass der jetzige Zustand von Chaos und Anarchie den Irak als Eldorado der Plünderer erst richtig in Schwung bringt.

Was geht bei den jetzigen Plünderungen eigentlich verloren?

Im Irak-Museum von Bagdad wird alles aufbewahrt, was hier in den letzten 70 Jahren an Antiquitäten gefunden wurde. Dazu gehören absolut spektakuläre Funde wie der Goldschatz von Nimrod oder Geräte von assyrischen Königen aus dem ersten Jahrtausend vor Christus, die zu den besterhaltenen Goldfunden überhaupt zählen. Man weiß noch nicht genau, ob die weg sind, denn die wertvollsten Stücke lagen im Tresor der irakischen Zentralbank, der den Plünderern zum Teil widerstand. Wahrscheinlich haben sie den Haupttresor nicht geknackt; dann müssten diese Stücke jetzt im Besitz der Amerikaner sein.

Die Plünderer sollen auch Objekte geraubt haben, die man nur mit der Mona Lisa vergleichen kann.

Es sind Stücke verschwunden, die in jedem Reiseführer über die sumerische Kultur abgebildet werden. Zum Beispiel die Leier aus den Königsgräbern von Ur. Aber was dieses Museum so reich macht, sind auch die 80 000 Keilschrifttexte aus drei Jahrtausenden mit detaillierten Informationen über Kultur, Literatur, Geschichte und Alltag der Sumerer, Babylonier und Assyrer. Das sind Unikate. Wenn die weg sind, sind auch diese Informationen weg und nie wiederzugewinnen.

Lässt sich der Schaden nur für das Irak-Museum beziffern?

Wenn das zu Preisen verkauft wird, die Antiquitäten während des Booms in den letzten zehn Jahren erzielt haben, geht es um viele Milliarden Euro. Die Krone von Nimrod sollte einmal im Westen ausgestellt werden, aber das war unmöglich, weil sie nicht versicherbar war. Der Wert ging in die Milliarden. Schon wenn kleine Tafeln mit Keilschriften legal angeboten werden, liegt der Wert bei 100 000 Euro und mehr.

Man könnte sagen, die irakischen Altertümer sind fast so wertvoll wie Öl. Haben Sie eine Erklärung dafür, warum die Amerikaner sie nicht ebenso gut geschützt haben?

Warum schützen sie auch sonst nichts im Irak? Ich habe dafür keine Erklärung. Das hat mit der Befreiung des Iraks und der Absetzung des Diktators nichts zu tun, sondern ist ein Verbrechen an einem Volk und seiner kulturellen Identität. Aber die Soldaten, die jetzt im Museum Dienst schieben, fühlen sich für nichts verantwortlich. Sie sagen: Das sind die Iraker selber gewesen, die geklaut haben, nicht wir.

Hätten die Experten denn nicht vorher damit rechnen müssen?

Wir haben natürlich vor dem Krieg über die Gefahren gesprochen, aber dass das Nationalmuseum ausgeräumt wird, hat sich niemand vorstellen wollen. Es hat auch niemand damit gerechnet, dass das Land tagelang schutzlos der Anarchie überlassen würde.

Amerikanische Fachleute sollen jetzt die Schäden untersuchen.

Habe ich auch gehört. Sie haben das Museum abgesperrt und mit Stacheldraht gesichert. Man raunt, das FBI sei vor Ort. Jetzt, nachdem das Kind nicht nur in den Brunnen gefallen, sondern ertrunken ist, machen sie also die Obduktion.

Was muss jetzt geschehen?

Es muss eine detaillierte Bestandsaufnahme der gestohlenen Objekte gemacht werden. Restauratoren müssen, was zerschlagen wurde, möglichst gut wiederherstellen. Allein die Dokumentation von 100 000 verschwundenen Objekten wird Jahre dauern. Dann muss ein möglichst dichtes Netz geknüpft werden, um die Objekte wiederzufinden, die ins Ausland gebracht werden. Aber das wird wohl nicht passieren. Stattdessen hören wir, dass eine einflussreiche Lobby in den USA versucht, die strikten Antikengesetze des Iraks und allgemein gültige Codes der Unesco zu liberalisieren. Ich bin nicht sehr optimistisch, was die Zukunft angeht.

Das Gespräch führte Frank Nordhausen.

http://www.BerlinOnline.de/berliner-zeitung/feuilleton/241300.html

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