Dokumentation
Offener Brief
an Friedrich Schorlemmer und Frank Bsirske
Jochen Scholz / Dokumentation (02.03.2003)
Jochen Scholz 53913 Swisttal, 13. 02. 2003
Jülicher Ring 95
Sehr geehrter Herr Schorlemmer,
sehr geehrter Herr Bsirske,
Sie werden am kommenden Samstag in Berlin bei der Demonstration der Friedensbewegung als die Hauptredner die Verantwortung dafür zu tragen haben, ob der deutschen und internationalen Öffentlichkeit einschließlich der Bundesregierung der Michel mit Schlafmütze oder der aufgeklärte, politisch wache und informierte Staatsbürger präsentiert wird. Die öffentliche Wahrnehmung wird davon abhängen, ob Sie Ihr Engagement als Unterstützung oder als Auseinandersetzung mit dem Kurs der Bundesregierung anlegen. Als langjähriger Vertreter Deutschlands in NATO-Gremien, der seit Jahrzehnten Angehöriger der sicherheitspolitischen „community“ ist, darf ich in der gebotenen Kürze, aber Eindeutigkeit, auf folgendes hinweisen:
o Seit Frühsommer 2002 nutzen die USA ihre auf deutschem Territorium ausschließlich für NATO- Verteidigungszwecke (Zusatzabkommen zum NATO-Truppenstatut) überlassenen Liegenschaften für US-nationale militärische Zwecke, die Vorbereitung eines militärischen Einsatzes gegen den Irak. Für dieses Vorhaben gibt es nach der Charta der VN keine völkerrechtliche Grundlage. Dies gilt auch, nachdem die VN-SR-Resolution 1441 vorliegt (Gutachten des Wissenschaftlichen Dienstes des Deutschen Bundestages vom 2. 1. 2003, WFII – 133/02), zumal die amerikanische Regierung täglich verlautbaren lässt, dass ihr Ziel die Beseitigung des Regimes von Saddam Hussein sei.
o Völker- und verfassungsrechtlich bedeutet das, was anderenorts als legitime Machtprojektion eingestuft wird, in Deutschland die Vorbereitung eines Angriffskrieges. Diese ist nach Artikel 26 GG verboten und mit Paragraph 80 StGB (Friedensverrat) mit lebenslanger Freiheitsstrafe bedroht. Artikel 2 des NATO-Truppenstatuts von 1951 verpflichtet die in einem Mitgliedsland stationierten Truppen, das Recht des Aufenthaltsstaates zu achten. Artikel 26 GG gilt folglich auch für die hier stationierten Truppen der NATO- Verbündeten.
o Der Bundeskanzler erklärt heute im Stern-Interview zum wiederholten Male, dass die Bundesregierung die volle militärische Bewegungsfreiheit der Verbündeten nicht einschränken werde und bezieht dies sogar auf den Fall, dass die USA und Großbritannien ohne VN-Mandat einen Krieg gegen den Irak beginnen. Es gehe in diesen Fragen nicht um „Juristerei, sondern um eine politische Entscheidung“. Mit dieser Formulierung macht der Bundeskanzler deutlich, dass er sich des Verfassungsverstoßes bewusst ist.
o Auf die Frage nach deutschen Patriot- Flugabwehrraketen und dem Einsatz deutscher Soldaten in den multinational besetzten fliegenden Luftkriegsgefechtsständen AWACS über türkischem Territorium antwortete der Kanzler, es werde eine direkte oder indirekte Beteiligung an einem Krieg nicht geben. Exakt so äußerte er sich heute erneut in seiner Regierungserklärung vor den Vertretern des Souveräns im Deutschen Bundestag.
Seit Mai 2002 verkündet die Bundesregierung sprachgewaltig
– sie werde sich an einem Krieg gegen den Irak nicht beteiligen und sie werde keine deutschen Soldaten zur Verfügung stellen
– und erteilte gleichzeitig den zuständigen Ministerien (AA und BMVg) Sprechverbot zum Thema Nutzungs- und Überflugrechte.
Nach der Bundestagswahl präzisierte sie ihre Haltung, indem sie eine Beteiligung auch bei Vorliegen eines Mandates der VN ausschloss und erklärte schließlich Ende 2002, im Sicherheitsrat gegen ein solches Mandat stimmen zu wollen. Am 8. November 2002 sagte der Bundeskanzler dem US- Präsidenten in einem Telefonat die volle Bewegungsfreiheit der US- Truppen in Deutschland zu (Bericht von Andreas Zumach, taz v. 13. 02 2003, Seiten 1 und 3).
Wie sind die unstrittigen Fakten und das Verhalten der Bundesregierung zu bewerten?
o Die Bundesregierung lügt, weil sich Deutschland mit der Gewährung von Nutzungs- und Überflugrechten passiv und mit der zugesagten Beteiligung der deutschen Besatzungsmitglieder in den AWACS-Maschinen aktiv am Krieg bzw. dessen Vorbereitung beteiligt, aber gleichzeitig dreist versucht, Parlament und Öffentlichkeit glauben zu machen, schwarz sei weiß.
o Nach Art eines Winkeladvokaten verweigert sie der Türkei offiziell erbetene Patriot- Flugabwehrraketen und lässt dieses Geschäft zugleich durch Überlassung zweier Systeme an die Niederlande indirekt über die Bühne gehen.
o Seit Sommer 2002 bricht die Bundesregierung die Verfassung (Artikel 26 GG) und den Zwei- plus- Vier-Vertrag, nach dem von deutschem Boden nur Frieden ausgehen darf.
o Mantrahaft erklärt die Bundesregierung seit Sommer 2002, sie werde sich nicht mit deutschen Soldaten an einem Irakkrieg beteiligen. Sie hat damit eine Gespensterdebatte eröffnet, um den Blick auf den Hauptkriegsschauplatz zu vernebeln. Die USA haben nämlich nie die Beteiligung von deutschen Bodentruppen verlangt, weil sie sehr wohl wissen, dass die durch mannigfache Auslandseinsätze materiell und personell kannibalisierte Bundeswehr dazu gar nicht in der Lage ist.
o Auch das propagandistisch herausgestellte angekündigte Abstimmungsverhalten im Sicherheitsrat dient ausschließlich der Desinformation der Öffentlichkeit, um die Lüge von der Nichtbeteiligung zu kaschieren. Es ist jedoch völlig irrelevant, weil die USA exakt das bekommen haben, worauf sie zur Vorbereitung des Irakkriegs wegen der Dislozierung ihrer Stützpunkte in Europa angewiesen sind: Die Nutzung ihrer Liegenschaften und Führungseinrichtungen auf deutschem Territorium.
o Wenn ein Bürger einem Killer erlaubt, aus seinem Wohnzimmerfenster heraus einen tödlichen Schuss abzugeben, wird er zu recht wegen Beihilfe zum Mord belangt. Exakt dies ist die strafrechtliche Situation, in der sich die Bundesregierung befindet.
o Der heute in der Frankfurter Rundschau abgedruckte Offene Brief Freiburger Völkerrechtler an die Bundesregierung und das Parlament beschreibt diesen Sachverhalt in der Sprache des Juristen.
Als Bürger dieses Staates, der Zeit seines politisch bewussten Lebens das Grundgesetz verteidigt hat und Teilnehmer an der Friedensdemonstration am 15. Februar sein wird, erwarte ich von Ihnen, dass Sie diese Sachverhalte und ihre möglichen Konsequenzen in strafrechtlicher, politischer und moralisch-ethischer Hinsicht mit der erforderlichen Deutlichkeit ansprechen. Andernfalls bestünde die Gefahr, dass die Demonstration sich spaltet.
Es geht darum, Worte und Taten wieder in Einklang zu bringen. Dazu muss die Bundesregierung gezwungen werden. Rücksichtnahmen auf Befindlichkeiten, die sich aus der Zusammensetzung des Bündnisses für diesen Tag ergeben könnten, halte ich für völlig unangebracht angesichts dessen, was auf dem Spiel steht: Wahrhaftigkeit und das Recht. Beides hält unser Staatswesen im Innersten zusammen.
Mit freundlichen Grüßen
Ihr
Jochen Scholz
V.i.S.d.P.: Jochen Scholz 53913 Swisttal, Jülicher Ring 95