in: Münchner Lokalberichte Nr. 18, 05.09.2002
1. September – Antikriegstag 2002 Ernste Debatte über die Einschätzung der Lage
Der Münchner Regionsvorsitzende des DGB, Helmut Schmid, und Marion Lehmicke vom Münchner Friedensbündnis begrüßten die fast 300 Teilnehmer, die sich im Ludwig-Koch-Saal des Gewerkschaftshauses drängten.
Münchner Berichte / M.B. / Till Gocht (08.09.2002)
Helmut Schmid erinnerte an den Anlaß des Antikriegstags, den Überfall des faschistischen Deutschland auf Polen am 1. September 1939. Dieses Datum müsse uns, über das Gedenken und Erinnern hinaus Verpflichtung sein, anhand der aktuellen Situation alles zu tun, um Kriege zu verhindern oder zu beenden. Nie wieder Faschismus – nie wieder Krieg, sei von brennender Aktualität. Seit 1999 habe sich allerdings gezeigt, das es auch ohne Faschismus zum Krieg kommen könne, wie gegen Jugoslawien. Deutschland versuche militärisch „dabei zu sein“ um politisch mitreden zu können und ökonomisch „Standortsicherung“ zu betreiben. All dies sei auch als ein „Aufholversuch“ gegenüber den USA zu werten. Je länger er allerdings darüber nachdenke, desto weniger könne er irgendeinen guten Grund erkennen, Krieg zu führen. Er hätte sich daher auch gewünscht, daß offizielle Äußerungen gegen einen Irak-Krieg früher und deutlicher gekommen wären. Marion Lehmicke erinnerte an das gescheiterte Demonstrationsverbot anläßlich der NATO-Konferenz und kündigte für den nächsten Februar neben Demonstrationen auch eine alternative Friedenskonferenz mit internationaler Beteiligung an. Sie begrüßte „attac-München“ erstmals als Mitveranstalter des Antikriegstags in München.
Der Vertreter von „attac-Deutschland“ auf dem Podium, Peter Wahl, erinnerte an die Weltwirtschaftskrise, an den Börsenkrach 10 Jahre vor dem 1. September 1939. Die dadurch ausgelöste Unsicherheit und die Ängste selbst derer, die noch gar nicht unmittelbar von Verelendung betroffen waren, hätten viel zum Aufstieg des Faschismus beigetragen. Dies sei auch den Gründern von IWF und Weltbank, den Planern einer ökonomischen Nachkriegsordnung (wie dem brit. Ökonomen Keynes) 1944 in Bretton Woods klar gewesen. Stabilität und breite Wohlstandsentwicklung zumindest in den Industrieländern seien die Ziele gewesen, von denen man sich inzwischen auch offiziell längst wieder verabschiedet habe. Seit 10 Jahren wachse eine Unsicherheit heran, die die von 1929 noch übertreffe: ein ganzes Geflecht von Krisen. Die Welt sein wie ein Fass voll Nitroglyzerin, das sich in einer großen Explosion zu entladen drohe.
Till Gocht von der „Informationsstelle Militarisierung Tübingen“ erinnerte an die Proteste gegen die NATO-Sicherheitskonferenz und forderte, zwischen realen und inszenierten Bedrohungen zu unterscheiden. Ein Jahr „Krieg gegen den Terror“ zeige, daß die NATO dabei eine untergeordnete Rolle spiele und sich die USA ihre Verbündeten „von Fall zu Fall“ zusammensuchten. Sie verweigern sich der UNO und einem internationalen Gerichtshof, um ihren hegemonialen Anspruch durchzusetzen. Wenn Schröder nun anhand des Irak die Grenzen der „bedingungslosen Solidarität“ deutlicher mache, so sei der Knackpunkt die Frage des Rückzugs der Bundeswehrsoldaten aus Kuwait. Da ein Abzug schwer vorstellbar sei, wenn ein Krieg gegen den Irak bereits im Gange sei, so bestünde die Gefahr, daß es sich hier um eine Verzögerungstaktik Deutschlands handle, um „im Ernstfall aus Versehen dabei zu sein“. Till Gocht meint, wir sollten fordern, daß Deutschland gegen den Irak-Krieg ein Veto in der NATO einlegt und den USA jegliche Unterstützung einschließlich der Nutzung von Militärbasen versage. Gocht wies auch auf den Aufstieg Deutschlands zur militärischen Mittelmacht hin. Er stellte den Strategie- und Konzeptwandel von der Verteidigungs- zur Interventionsarmee dar und die entsprechenden militärischen Reformen. Auch auf dem Weg zu einer völligen Abschaffung der Bundeswehr müsse heute die Forderung nach Abbau der „Kriegs- Führungs-Kapazitäten“, z.B. Auflösung der Krisenreaktionskräfte im Vordergrund stehen.
Michael Wendl von „ver.di-Bayern“ wandte sich gegen die These, wir hätten es in der aktuellen Situation mit einer Neuauflage des „klassischen Imperialismus“ zu tun, wie er etwa vor 1914 herrschte und in den 1. Weltkrieg mündete. Wendl widersprach aber auch der These vom „Empire“, nach der die entwickelten kapitalistischen Industriestaaten gleichsam zu „einem Imperialismus“ verschmelzen, ohne Interessensgegensätze und Unterschiede. Wendl unterschied stattdessen zwischen einem „angelsächsischen“ (USA,GB) und einem „rheinischen“ (Frankreich, Deutschland) Kapitalismus, wovon letzterer mehr sozialstaatlich geprägt sei, wodurch auch die Gewerkschaften einen größeren Einfluß hätten. Dies seinen Strukturunterschiede, die auch eine unterschiedliche Einstellung der Bevölkerung zum Kriege bewirkten. Wendl will in Parallelität zum Begriff des „Neoliberalismus“ von einem „Neo-Imperialismus“ sprechen, in welchem es aufgrund unterschiedlicher Strukturen erhebliche Differenzen zwischen den USA und der EU gebe. Wendl sieht darin eine Chance für die Friedenskräfte und die Gewerkschaften. Er setzt sich für parteiunabhängige Gewerkschaften ein, die auch einer rot-grünen Bundesregierung keine falsche Gefolgschaft, wie etwa bei den Auslandseinsätzen der Bundeswehr und bei den Vorschlägen der Hartz-Komission leisten. Über die Thesen der verschiedenen Podiums- Teilnehmer wurde anschließend mit dem Saale kurz aber heftig diskutiert.
Kollege Helmut Schmid würdigte in seinem Schlußwort den solidarischen Geist und die Sachlichkeit der Diskussion. Unter Verbündeten gegen Krieg und Neofaschismus sei es wichtig, daß man nicht den anderen auszustechen versuche, sondern daß jeder den anderen rechtzeitig informiere, wenn er die Notwendigkeit sieht, gegen gefährliche Entwicklungen Widerstand zu leisten. So habe er, Helmut Schmid, es sich vor einem Jahr noch nicht vorstellen können, daß es in München zu einem Demonstrationsverbot kommen werde. Kulturell umrahmt war die Veranstaltung mit Liedern gegen den Krieg, vorgetragen vom Quergesang Gewerkschaftschor und Roter Wecker. M.B.