in: junge Welt vom 30.07.2002
Forscher Schritt zur EU-Militärmacht
Deutsch-französische Gespräche in Schwerin: Einigkeit in Rüstungsfragen
Junge Welt / Pressebericht / Dokumentation (03.08.2002)
Unter dem Schutz von sieben Hundertschaften Polizei und zusätzlichen Spezialeinheiten gingen am Dienstag in Schwerin die 79. deutsch-französischen Konsultationen über die Bühne. Neben Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) und Frankreichs Staatspräsident
Jacques Chirac waren auch der neue französische Premierminister Jean-Pierre Raffarin sowie etliche Fachminister beider Regierungen angereist. Im Mittelpunkt der Gespräche standen das weitere Vorgehen in der EU-Politik und beim Streitthema Agrarreform.
Wie aus Berliner Regierungskreisen am Dienstag verlautete, wollen Deutschland und Frankreich ihren Streit um die milliardenschweren EU-Agrarbeihilfen noch vor dem Erweiterungsgipfel der Europäischen Union im Dezember in Kopenhagen beilegen. Beide Seiten einigten sich auf die Einrichtung von vier Arbeitsgruppen, in denen in den kommenden Monaten in zentralen Punkten eine Angleichung der Positionen beider Länder erreicht werden soll. Demnach wird sich eine Arbeitsgruppe vor allem mit der Frage der Reform und der Finanzierung der Agrarpolitik befassen. Im November ist ein Agrar-Sondergipfel geplant, bei dem der Streitpunkt der EU-Agrarhilfen ausgeräumt werden soll. Schröder will die Subventionen im Zuge der Beitrittsverhandlungen mit den osteuropäischen Staaten kürzen, während Chirac es ablehnt, vor 2006 über Änderungen zu verhandeln. Frankreich profitiert von allen EU-Staaten am meisten von den Milliardensubventionen in der Landwirtschaft. ?Die Basis stimmt, das weiß man?, betonte Schröder, nachdem er Chirac mit militärischen Ehren in der Landeshauptstadt von Mecklenburg-Vorpommern empfangen hatte. Freundschaft bedeute, daß es eine ?ganz feste Basis? gebe, auf der auch unterschiedliche Auffassungen zur Sprache kämen.
Weniger Ärger gab es am Dienstag offenbar in Militärfragen. Der deutsch-französische Sicherheitsrat, der unter der Leitung von Schröder und Chirac tagte, bekräftigte in einer Erklärung, daß die EU die UN-Polizeimission in Bosnien sowie die NATO-Mission in Mazedonien übernehmen will. Die deutsch-französische Brigade solle ?in Kürze? in einer ?friedenserhaltenden Mission? eingesetzt werden, hieß es weiter. In der Frage eines bevorstehenden US-amerikanischen Angriffs auf den Irak spielt Schröder dagegen weiter auf Zeit. Einigkeit herrsche darin, daß der irakische Staatspräsident Saddam Hussein die UN-Waffeninspektoren wieder ins Land lassen müsse, bekräftigte Schröder, ?über den Rest wird man reden?.
Konsens herrscht zwischen beiden Partnern auch darin, daß man bei künftigen Interventionskriegen nicht länger von der Militärmaschinerie und Logistik der USA abhängig sein will. Dazu bekräftigten beide Länder gestern ihr Engagement für das in Deutschland umstrittene Militärtransportflugzeug A400M, für einen stärkeren Offiziersaustausch sowie den Aufbau einer unabhängigen europäischen Satellitenaufklärung. Einem Bericht des Handelsblatts vom Dienstag zufolge sollen dazu das französische Helios-System und das deutsche SAR-Lupe-Projekt in einem europäischen Aufklärungsverbund verschmolzen werden. Bereits im Dezember 2001 beschloß der Verteidigungs- und Haushaltsausschuß des Bundestages die Beschaffung von fünf Spionagesatelliten vom Typ SAR-Lupe im Wert von 300 Millionen Euro, mit denen Deutschland in die Überwachung und militärische Aufklärung aus dem Weltall einsteigen will. Die fünf Radarsatelliten sollen die Bundeswehr Ende 2006 in die Lage versetzen, jeden Ort der Erde innerhalb weniger Stunden aufklären zu können. Tobias Pflüger von der Informationsstelle Militarisierung (IMI) in Tübingen sagte zu den deutsch-französischen Plänen, das SAR-Lupe- und Helios-System zusammenzuführen, gegenüber jW: ?Ziel ist eine gemeinsame europäische Militärsatellitenüberwachung, um sich von den USA abzukoppeln. Das ist ein wichtiger Baustein für den Ausbau der EU als Militärmacht.?
(Siehe auch Interview mit Tobias Pflüger)
———————–
Original: http://www.jungewelt.de/2002/07-31/001.php