Quelle: Informationsstelle Militarisierung (IMI) e.V. - www.imi-online.de

in: Wissenschaft und Frieden 03/2002 (Dossier "Bilanz Rot-grün")

Von deklarierter Friedenspolitik zu Kriegseinsätzen

Die Bundeswehr unter Rot-Grün

Tobias Pflüger (12.07.2002)

Es gibt nur wenige Politikbereiche, in denen es unter Rot-Grün substanzielle Änderungen gegenüber der Vorgängerregierung gab und dazu gehört interessanterweise die Bundeswehr, die sich von einer Armee mit Hauptaufgabe Landesverteidigung und gelegentlichen Auslandseinsätzen zu einer „Armee im Einsatz“ (so der heutige Generalinspekteur Harald Kujat) entwickelte. Heute (im Sommer 2002) sind über 10.000 Soldaten der Bundeswehr im ständigen Auslandseinsatz. Das Spektrum reicht von sogenannten humanitären Aktionen bis hin zu Kampfeinsätzen (Kommando Spezialkräfte in Afghanistan).

Entscheidend für die Veränderung der Bundeswehr war die Beteiligung am NATO-Angriffskrieg auf Jugoslawien. Diese Kriegsteilnahme muss als Grundsatzentscheidung gewertet werden. Es sieht so aus, als wäre auch für die deutsche Armee seitdem der Krieg wieder „die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln.“

An eine Armee, die zur Interessenvertretung auch außerhalb des NATO-Gebietes und u. U. auch noch gleichzeitig an mehreren Orten einsatzbereit sein soll, gibt es aber andere Anforderungen, als an eine Armee, die nur zur Verteidigung des eigenen Territoriums und dem der Verbündeten dient.

Trotzdem blieb die Struktur der Bundeswehr nach dem Jugoslawien-Krieg vorerst erhalten, es kam damals nur zu kleinen Veränderungen: Die Gesamtzahl der Bundeswehrangehörigen wurde von 340.000 auf 324.000 korrigiert, die Anzahl der Soldaten der Krisenreaktionskräfte, die als einziges für Kampf- und Kriegseinsätze genutzt werden können und dürfen, wurde von 53.600 auf etwas über 60.000 erhöht. Später – im Jahr 2001 – wurde – so das verbindliche Ressortkonzept – die Zielgröße der Bundeswehr auf 280.000 Mann und Frau und die Anzahl der neu so benannten Einsatzkräfte auf 150.000 Mann festgeschrieben. Quantitativ wurde also – in zwei Phasen – reduziert, qualitativ aber aufgerüstet.

Bundeswehr im Auslandseinsatz: Vom Balkan bis zum Hindukusch

„Zugegeben, man verliert schon ein bisschen den Überblick, wo deutsche Soldaten im Kampf gegen den Terrorismus überall im Einsatz sind,“ so Andreas Cichowitz am 28.02.2002 in den Tagesthemen der ARD. Deutsche Soldaten befinden sich derzeit in Georgien, Bosnien, Jugoslawien (Kosovo), Mazedonien, Usbekistan, in der Türkei, am Horn von Afrika (vor Somalia), in der arabischen See, im Mittelmeer, in Kuwait, in Bahrein, in Djibouti, in Kenia und in den USA (Florida) und nicht zu vergessen in Afghanistan (im Rahmen von ISAF und in Kampfeinsätzen).

Die Auslandseinsätze der Bundeswehr können in drei Kategorien eingeordnet werden: Da sind einerseits die „europäischen“ Bundeswehreinsätze in Bosnien (SFOR = Stabilization Force), im Kosovo (KFOR = Kosovo Forces) und in Mazedonien (Fox). Zum zweiten gibt es die Beteiligung der Bundeswehr an der sogenannten „Schutztruppe“ in Kabul und näherer Umgebung (ISAF = International Security Assistance Force). Die dritte Kategorie der Bundeswehreinsätze sind alle Auslandseinsätze im Rahmen von „Enduring Freedom“, dem sogenannten Antiterroreinsatz.

Die „europäischen“ Bundeswehreinsätze

Auf dem europäischen Kontinent hat die Bundeswehr derzeit am meisten Bundeswehrsoldaten stationiert.

Die SFOR-Einheiten sollten als Nachfolgeoperation der NATO-geführten IFOR ( IFOR = Implementation Force) ursprünglich nur von 1996 bis 1998 in Bosnien stationiert bleiben. Stattdessen entwickelte sich dort das erste NATO-Protektorat und damit der erste langfristige NATO-Einsatz. 2002 sind von den ursprünglich 3.000 noch 1.693 Bundeswehr-Soldaten an SFOR in Bosnien beteiligt. Der Großteil der Soldaten sitzt im Lager Rajlovac, dem Sitz des Deutschen Heereskontingentes SFOR, weitere Soldaten finden sich im Außenlager Filipovici, beim Stab in Mostar oder beim SFOR-Hauptquartier in Butmir bei Sarajevo. Das deutsche Kontingent ist Teil der Multinationalen Division Süd-Ost (MND-SE) mit Sitz in Mostar mit Kontingenten aus Frankreich, Italien, Marokko und Spanien. Das Ganze steht unter französischer Führung. An SFOR sind NATO-Staaten und 16 Nicht-NATO-Staaten beteiligt, davon 14 sogenannte PfP-Staaten, also Staaten, die am NATO-Programm „Partnership for Peace“ teilnehmen, einschließlich Russland und der Ukraine.

Als Folge des NATO-Angriffskrieges gegen Jugoslawien wurden im Bereich Kosovo, das formal noch zu Jugoslawien gehört, aber de facto unabhängig bzw. NATO-Protektorat ist, ab dem 12.06.1999 Einheiten der KFOR stationiert. Bis zu 8.500 Bundeswehrsoldaten können bei diesem zweiten langfristigen Einsatz der Bundeswehr auf dem Balkan stationiert werden. Gegenwärtig sind 4.732 deutsche Soldaten im Kosovo.

Der Einsatz Fox in Mazedonien ist der Folgeeinsatz der Operation „Amber Fox“, der auf den Einsatz „Essential Harvest“ folgte, dem NATO-Militäreinsatz, bei dem es offiziell darum ging, 3.000 Waffen von der auch in Mazedonien militärisch agierenden UCK einzusammeln. Im Rahmen von Task Force Fox sind derzeit 215 Soldaten der Bundeswehr in Mazedonien.

Der Einsatz in Afghanistan

Die Bundeswehr hat ca. 1.200 Soldaten im Rahmen von ISAF (International Security Assistance Force) im Einsatz, der „Schutztruppe“ für den Großraum Kabul. Seit März 2002 hat sie dort auch die taktische Führung der Multinationalen Brigade Kabul übernommen. Damit stehen circa 4.700 Soldaten aus 18 Staaten unter dem Kommando eines deutschen Brigadegenerals. Der Einsatzradius der ISAF-Truppen ist ausdrücklich auf den Großraum Kabul beschränkt.

Der Einsatz im Rahmen von „Enduring Freedom“

Nach den brutalen Terroranschlägen des 11. September erklärte Gerhard Schröder für die Bundesregierung die uneingeschränkte Solidarität mit den USA im „Krieg gegen den Terror“. Da US-Präsident George W. Bush den „Krieg gegen den Terror“ solange führen will, bis alle Terroristen „ausgeräuchert“ sind, droht Deutschland mit dieser Zusage in einen permanenten lang anhaltenden Krieg einbezogen zu werden.

Der Bundestag hat dieser „Ermächtigung“ zum Einsatz der Bundeswehr am 16. November 2001 nach einer Vorlage des Bundeskabinetts vom 07. November – unter dem Druck der Vertrauensfrage (für Gerhard Schröder) zugestimmt. Wörtlich heißt es: „Im Rahmen der Operation ENDURING FREEDOM werden bis zu 3.900 Soldaten mit entsprechender Ausrüstung bereitgestellt: ABC-Abwehrkräfte, ca. 800 Soldaten / Sanitätskräfte, ca. 250 Soldaten / Spezialkräfte, ca. 100Soldaten / Lufttransportkräfte, ca. 500 Soldaten / Seestreitkräfte einschließlich Seeluftstreitkräfte, ca. 1800 Soldaten / erforderliche Unterstützungskräfte, ca. 450 Soldaten… Die Beteiligung mit deutschen Streitkräften an der Operation ENDURING FREEDOM ist zunächst auf zwölf Monate begrenzt… Einsatzgebiet ist das Gebiet gemäß Art. 6 des Nordatlantikvertrags, die arabische Halbinsel, Mittel- und Zentralasien und Nord-Ost-Afrika sowie die angrenzenden Seegebiete… Deutsche Kräfte werden sich an etwaigen Einsätzen gegen den internationalen Terrorismus in anderen Staaten als Afghanistan nur mit Zustimmung der jeweiligen Regierung beteiligen.“

Der Beschluss bedeutet u.a.:

Eine Aushebelung des „Parlamentsheers“, d.h. der Festlegung, das jeder einzelne Einsatz durch das Parlament beschlossen wird, die mögliche Ausdehnung des Einsatzgebietes auf ein Drittel des Globus‘ und der mögliche Rückgriff auf alle Einsatzarten – von sogenannten humanitären Einsätzen bis hin zu Kampfeinsätzen.

Diese „Kriegsermächtigung“ wurde Stück für Stück umgesetzt: Heute im Sommer 2002 befinden sich Bundeswehrsoldaten im Rahmen von „Enduring Freedom“ an folgenden Orten: Luftwaffenbasis Tampa/Florida (10), Kuwait (50), Afghanistan (92), Mittelmeer (280), Arabische See/Horn von Afrika (820), Bahrein (140), Djibouti (140), Kenia (100).

Von besonderer Brisanz sind hier sicher die 92 Soldaten des Kommando Spezialkräfte bzw. aus den Einheiten der Division Spezielle Operationen in Afghanistan, von denen bekannt wurde, dass sie entgegen der am 16. November mitbeschlossenen unverbindlichen Protokollerklärung an Kampfeinsätzen beteiligt waren.

Besonders risikoreich auch die Stationierung von 50 ABC-Abwehrkräften in Kuwait. Über sie sagt Friedrich Merz (CDU): „Alles ABC-Abwehrmaterial ist in Kuwait geblieben, wenn es dort in der Region zu einem Konflikt kommt, ist Deutschland dabei.“ Das heißt den „ABC-Abwehrkräften“ ist eine konkrete Funktion zugeordnet, wenn es zu dem von den USA geplanten Krieg gegen den Irak kommt.

Zusammenfassung

Unter Rot-Grün wurde die Bundeswehr neu ausgerichtet, sie hat sich zu einer Armee im Einsatz entwickelt. Inzwischen sind über 10.000 deutsche Soldaten außerhalb des NATO-Gebietes stationiert. Die Bundeswehr ist dabei kriegsführungsfähig zu werden und sich im Kernbereich zu einer Interventionsarmee zu entwickeln. Sie hat sich unter Rot-Grün nicht nur an zwei Angriffskriegen beteiligt, sondern in Afghanistan auch an Kampfeinsätzen, bei denen offensichtlich gegen das Kriegsvölkerrecht verstoßen wurde (sie hat Gefangene an US-Truppen übergeben, obwohl diese die afghanischen Gefangenen nicht als Kriegsgefangene behandeln). Eine bittere Bilanz: Kriegseinsätze anstelle der im Koalitionsvertrag formulierten Friedenspolitik.

Tobias Pflüger ist Politikwissenschaftler und im Vorstand der Informationsstelle Militarisierung (IMI) e.V.

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