IMI-Analyse 2021/029 - in: AUSDRUCK (Juni 2021)

Sigonella – Ausgangspunkt für die Augen der NATO

von: Marius Pletsch | Veröffentlicht am: 14. Juni 2021

Drucken

Hier finden sich ähnliche Artikel

Seit dem 15. Februar 2021 sind die fünf auf der italienischen Luftwaffenbasis Sigonella stationierten Drohnen der NATO „anfänglich betriebsbereit“ (IOC – Initial Operational Capability).[1] Die Drohnen sind Kernbestandteil des Alliance Ground Surveillance (AGS) Systems, womit Ziele zu Land und zu Wasser aufgeklärt und verfolgt werden sollen.

Bei den Drohnen handelt es sich um hochfliegende und ausdauernde (HALE – high altitude, long endurance; über 18.000 m Höhe, über 30 Stunden Flugzeit) Northrop Grumman RQ-4D „Phoenix“, die eine Spannweite von 40 Metern haben – wie größere Passagiermaschinen, die in Inlands- und Kontinentalflügen eingesetzt werden. Bis zu 14,7 Tonnen wiegen sie und können bis zu 1,4 Tonnen Nutzlast tragen. Die Drohnen werden von Bodenstationen aus gesteuert, dazu gibt es stationäre, die in Sigonella stehen sowie mobile und transportable Einheiten. Die Daten sollen auch in den Bodenstationen bzw. im Hauptquartier, dem Mission Operations Support (MOS), ausgewertet und verteilt werden. Das AGS soll auch mit weiteren „Command, Control, Intelligence, Surveillance and Reconnaissance“-Systemen (abgekürzt C2ISR) wie dem Airborne Early Warning and Control System (AWACS) verbunden werden. Darüber hinaus können in das AGS weitere nationale Aufklärungsdaten eingespeist werden.[2]

Der lange und holprige Weg zum AGS

Der Plan für das AGS wurde bereits vor etwa 30 Jahren geschmiedet. Die volle Einsatzfähigkeit soll bis zum Jahre 2025 erreicht werden. Die Drohnen wurden durch das Verteidigungsbündnis beschafft und werden auch durch dieses betrieben. Neu ist es nicht, dass Kriegsgerät direkt von der NATO beschafft wird. Auch die 14 in Geilenkirchen stationierten Boeing E-3A des AWACS wurden über die NATO beschafft. Auch im Bereich des Lufttransports und der Luftbetankung gibt es gemeinsam beschaffte Maschinen. Der Ansatz nennt sich Smart Defence und ist vergleichbar mit dem, was die EU „Pooling and Sharing“ nennt, also das Zusammenlegen und die gemeinsame Nutzung von militärischen Fähigkeiten und Kriegsgerät.

Die Idee eines gemeinsamen Systems zur Aufklärung von Bodenzielen geht auf die Operation Desert Storm 1991 zurück. Die USA setzten zwei E-8A Flugzeuge des US-amerikanischen Rüstungskonzerns Northrop Grumman aus dem Joint Surveillance Target Attack Radar System (JSTAR) ein und warben für die gemeinsame Beschaffung. Das war vor allem ein industriepolitischer Vorschlag, da man sich erst 1989 entschieden hatte, die Version E-8B nicht zu beschaffen. Das NATO Defense Planning Committee erklärte 1992 den Bedarf für ein solches eigenes System, gerade weil man sich bei der Bodenaufklärung zu sehr von amerikanischen Aufklärungssystemen abhängig sah, die im Zweifel und bei eingeschränkter Verfügbarkeit primär für nationale Operationen eingesetzt würden.

Die europäischen Staaten wollten jedoch nicht, dass die Northrop Grumman Flugzeuge über ein Eilverfahren beschafft werden. Sie wollten ihre jeweiligen Industrien mehr eingebunden wissen, und so verwarf 1997 die Konferenz der Nationalen Rüstungsdirektoren (CNAD) diese Idee. Lange wurde die Beschaffung von anfänglich zwölf angepassten Airbus A321 Flugzeugen favorisiert. Man rechnete zu der Zeit mit Kosten von etwa 4,8 Mrd. US-Dollar. Das war einigen Staaten (u.a. Deutschland) zu teuer. Aus Kostengründen wurde die Anzahl der A321 reduziert; der letzte gemischte Plan sah noch vier Flugzeuge vor. Aber 2007 wurden die A321 letztlich ganz aus dem AGS gestrichen und stattdessen mit den Global Hawk Großdrohnen ergänzt bzw. ersetzt, wobei auch hier erst vier, dann nach dem Aus für die Airbus Maschinen acht Drohnen eingeplant wurden. Mit diesem Schritt reduzierte sich das Preisschild von 4,8 Mrd. US-Dollar auf 1,4 Mrd.. Den Zuschlag für den Bau der Aufklärungssensorik erhielt das Multi-Platform Radar Technology Insertion Program (MP-RTIP) von Northrop Grumman und Raytheon mit Bewegtzielanzeige, Radar mit synthetischer Apertur, Luftraumverfolgung, geführter Suche und hochauflösendem Bodenradar. Nach dem Schritt stiegen einige europäische Staaten aus dem Programm aus, da ihre nationalen Industrien nicht länger beteiligt wurden.[3]

Drei größere europäische Unternehmen sind aber weiterhin als Unterauftragnehmer beteiligt: So liefert Airbus sechs mobile Bodenstationen (MGGS). Auch der italienische Rüstungskonzern Leonardo ist beteiligt. Von ihm stammen die Elemente für das Mission Operation Support (MOS), zwei transportable Bodenstationen (TGGS) sowie der Wide Band Data Link (WBDL) für die Kommunikation auf Sichtlinie (Line-of-Sight) mit den Drohnen. Das Datenarchiv für die gesammelten Sensordaten, genannt System Master Archival/Retrieval Facility (SMARF), wird vom größten norwegischen Rüstungsunternehmen Kongsberg hergestellt.[4]

Und das war es noch nicht mit den europäischen Beteiligungen: So ist z.B. noch mit GovSat ein luxemburgisches Unternehmen für die Bereitstellung der Satellitenkommunikation (SATCOM) primär für die Sensordaten, die eine hohe Bandbreite benötigen, beteiligt. Die Bereitstellung der Bandbreite wird durch Luxemburg selbst für 10 Jahre finanziert.[5]

Die Anzahl der Global Hawks wurde letztlich von acht auf fünf reduziert, am Preis von etwa 1,4 Mrd. US-Dollar änderte sich aber nichts mehr, die Kosten drohten zu steigen und da man das Budget nicht sprengen wollte, reduzierte man die Bestellung. Die Aufklärungsdaten können von allen 30 NATO-Mitgliedstaaten genutzt werden. Finanziert wird das System jedoch hauptsächlich von 15 Nationen, wobei die USA (42 %), Deutschland (33 %) und Italien (15 %) den Löwenanteil (insg. 90 %) stellen. Die Betriebskosten betragen etwa 76 Mio. € pro Jahr (mit Preisstand von 2011).[6] Die übrigen, nicht direkt an der Beschaffung beteiligten 15 Staaten beteiligen sich an den laufenden Kosten, mit der Ausnahme von Frankreich, das stattdessen eigene Aufklärungsmittel einbringen will. Auch Großbritannien wollte sich zunächst durch die Bereitstellung nationaler Systeme beteiligen. Doch die dafür in Frage kommenden britischen Raytheon Sentinel R1 Maschinen wurden Anfang 2021 außer Dienst gestellt. Nun ist die britische Regierung mit der NATO im Gespräch, sich dennoch personell und finanziell am AGS zu beteiligen.[7]

Auch wenn das AGS mehr ist als nur die fünf Drohnen, so ist die Anzahl des Personals beträchtlich: 550 Personen sollen vor Ort im Einsatz sein, dazu weiteres Personal in Mons, Belgien bei einem der beiden strategischen militärischen Kommandos der NATO, dem Allied Command Operations (ACO) und in Ramstein im Allied Air Command (AIRCOM), welches für die Führung von Luftstreitkräften im gesamten NATO-Bereich und für Luftoperationen in NATO-Einsätzen verantwortlich ist.[8] Deutschland wird mit Stand 2019 129 Dienstposten stellen, davon 122 auf der Basis Sigonella. Acht Pilot*innen für das AGS sind von der Bundeswehr.[9]

Die Wahl der Basis Sigonella – digitaler Hub als Standortentscheidung?

Einige Staaten hatten Angeboten, als Haupteinsatzbasis für das AGS fungieren zu können: Deutschland, Griechenland, Portugal, Rumänien, Slowenien, Spanien und die Türkei. Die Wahl fiel aber Anfang 2009 auf die Naval Air Station (NAS) Sigonella, die auf Sizilien liegt. Der Stützpunkt wird von der italienischen Luftwaffe, der US Navy und der NATO genutzt. Die US Navy ist seit 1959 hier präsent. Der Stützpunkt soll die sechste Flotte der US Navy unterstützen, die das Mittelmeer und den östlichen Atlantik abdeckt. Doch nicht nur die Navy nutzt Sigonella und ist hier vor Ort: Mehr als 34 andere US-Kommandos sind hier aktiv.[10] Strategisch ist die Lage aus mehreren Gründen interessant: Für die USA ist der Flugplatz mit seinen zwei Rollbahnen, die auch große Transportmaschinen des Typs C-17 Globemaster und C-5 Galaxy nutzen können als Truppen- und Materialumschlagsplatz für sämtliche Teilstreitkräfte der USA für Militäreinsätze im Nahen und Mittleren Osten und im indischen Ozean gut gelegen. Doch nicht nur als Knotenpunkt für physische Dinge ist die Lage Sigonellas geographisch günstig, auch für den Empfang und die Verteilung von Daten trifft dies zu. Hier ist sowohl die Nähe zu Unterseekabeln zu nennen, als auch Installationen für eine leistungsfähigere Satellitenkommunikation wie das Mobile User Objective System (MUOS), ein aus fünf Satelliten bestehendes Kommunikationsnetzwerk der US Navy.[11] Deshalb bietet sich die Basis als Operationsbasis für Drohnen an. Die italienische Luftwaffe fliegt von hier aus MQ-1C Predator Drohnen, die US Air Force RQ-4B Global Hawk und die US Navy MQ-4C Triton, die auch auf der Global Hawk basieren. Dadurch, dass man sowohl NATO als auch die US-Drohnen gleichen Typs vor Ort hat, erhoffte man sich einen Synergieeffekt.[12]

Für die AGS-Entscheidung der NATO dürfte gerade die gute Lage als digitaler Hub entscheidend gewesen sein. Seit dem ersten Testflug Mitte 2020 waren die Drohnen Richtung Libyen und an den Grenzen des NATO-Bündnisgebiets Richtung Osten am Schwarzen Meer unterwegs.[13] Auch kann ein Flugkorridor über Deutschland hin zur Ostsee genutzt werden, den auch schon die RQ-4B der US Air Force nutzen. Bislang ist noch unklar, ob die AGS-Drohnen auch in Lufträumen eingesetzt werden sollen, wo sie weniger willkommen wären. Zwar fliegen die Drohnen hoch, sind aber doch ungeschützt, also haben keine Gegenmaßnahmen an Bord und sind auch nicht besonders wendig. Je nach Einsatzziel ist es auch nicht nötig weit in feindliche Gebiete zu fliegen, denn die Sensoren können abhängig von der Höhe bis zu 200 km ins Land blicken.[14]

Anmerkungen


[1] NATO (2021): NATO Alliance Ground Surveillance Force achieves Initial Operational Capability. In: shape.nato.int, 15.2.2021.

[2] NATO (2021): Alliance Ground Surveillance (AGS). In: NATO.int, updated: 23.2.2021.

[3] Nelson, Jack A. (2014): Alliance Ground Surveillance and the Future of NATO’s Smart Defense [Masters Thesis], S. 26-30.

[4] Kongsberg (2015): AGS SMARF, kongsberg.com.

[5] GovSat (2016): PRESS RELEASE: NATO AGS CONTRACT AWARDED TO GOVSAT, govsat.lu.

[6] Bundestag (2019): Drucksache 19/8411. Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Abgeordneten Andrej Hunko, Heike Hänsel, Christine Buchholz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE. – Drucksache 19/7534 – Beginn des NATO-Drohnenprogramms in Sigonella/Sizilien im Jahr 2019, S. 4. dipbt.bundestag.de

[7] Ripley, Tim (2021): UK looks to increase contribution to NATO AGS. In: janes.com, 21.4.2021.

[8] NATO (2021): Alliance Ground Surveillance (AGS). In: NATO.int, updated: 23.2.2021.

[9] Bundestag (2020): Drucksache 19/21642. Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Abgeordneten Andrej Hunko, Sevim Dağdelen, Ulla Jelpke, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE. – Drucksache 19/21171 – Weitere Verzögerung des NATO-Drohnenprogramms in Sigonella/Sizilien, S. 2 f. dserver.bundestag.de

[10] US Navy (o.D.): About. Welcome to Naval Air Station Sigonella, cnic.navy.mil.

[11] Andres, Jaqueline (2017): US-Militärbasen im Mittelmeer. In: IMI-Ausdruck 2/2017, S. 3-5.

[12] Kington, Tom (2009): NATO Chooses Sicily for Global Hawk AGS Base. In: DefenseNews [via Nexis], 26.1.2009.

[13] Nachzusehen u.a. bei itamilradar.com mit dem Callsign MAGMA.

[14] Monroy, Matthias (2021): Libya and Russia: NATO spy drones fly first missions. digit.site36.net, 15.1.2021.