IMI-Analyse 2021/03 (Update: 19.2.2021)

Glutkern des Westens

NATO-Manifest aus der Böll-Stiftung

von: Jürgen Wagner | Veröffentlicht am: 27. Januar 2021

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Von den Kommandohöhen der grünennahen Böll-Stiftung wird seit vielen Jahren immer wieder scharf auf die letzten ohnehin recht kümmerlichen friedenspolitischen Reste der Partei geschossen. Die Stiftung spielt damit eine wichtige Rolle, die Grenzen dessen, was als satisfaktionsfähige Positionen innerhalb grüner Debatten akzeptiert wird, Schritt für Schritt immer weiter in eine pro-militaristische Richtung zu verschieben. Jüngstes Beispiel ist das Thesenpapier „Transatlantisch? Traut Euch!“, ein Pro-NATO-Manifest, das unter maßgeblicher Beteiligung von Ellen Ueberschär zustande kam, die seit 2017 als eine von zwei Vorständen der Böll-Stiftung fungiert. Im Kern wird in dem von Ueberschär mitverfassten Papier ein massives Aufrüstungspaket gefordert, das in vor Pathos teils nur so triefende Liebeserklärungen an das westliche Kriegsbündnis eingewickelt ist: „In Deutschland haben zu viele zu lange die NATO als amerikanische Institution begriffen. Wir Deutsche sollten verstehen: Diese NATO ist unsere NATO; die NATO aller Mitgliedstaaten. Deutschland hat es mehr als jede andere Nation in der Hand, durch mehr Initiative und verstärkte Beiträge die Allianz so zu formen, dass sie als Glutkern des Westens weiter lodert und nachhaltige Antworten auf die sicherheitspolitischen Fragen gibt, die sich Deutschland stellen.“

Stelldichein der Transatlantiker

Veröffentlicht wurde das von der Böll-Stiftung eifrig beworbene Papier „Transatlantisch? Traut Euch! Für eine neue Übereinkunft zwischen Deutschland und Amerika“ am 20. Januar 2021. In ihm fordert eine „überparteiliche Gruppe von Expertinnen und Experten für Amerika-Politik“ die Bundesregierung zu einer „Überholung und Neuausrichtung der transatlantischen Beziehungen“ auf.

Unter den zwanzig Unterzeichnenden finden sich so waschechte Hardliner wie Brigadegeneral a.D. Rainer Meyer zum Felde (heute ISPK) oder der frühere Beigeordnete Generalsekretär der NATO für Verteidigungspolitik, Generalleutnant a. D. Heinrich Brauß (heute DGAP). Versammelt wurden zudem vor allem noch VertreterInnen der prominentesten transatlantischen Denkfabriken, etwa der Atlantik-Brücke (David Deißner), des Aspen Institutes (Stormy-Annika Mildner), des German Marshall Fund (Lena Ringleb) oder der Münchener Sicherheitskonferenz (Boris Ruge). Als einzige weitere Parteistiftung wurde ausgerechnet die Hans-Seidel-Stiftung der CSU durch Andrea Rotter vertreten.

Bemerkenswert ist darüber hinaus vor allem auch die Beteiligung von Thomas Kleine-Brockhoff und Constanze Stelzenmüller, die beide eine maßgebliche Rolle bei dem Projekt „Neue Macht – Neue Verantwortung“ gespielt haben. Mit ihm wurde der einschneidende Auftritt des damaligen Bundespräsidenten Joachim Gauck bei der Münchner Sicherheitskonferenz 2014 und die von da ab verbreitete Kernbotschaft vorbereitet, Deutschland müsse sich schleunigst von seiner „Kultur der militärischen Zurückhaltung“ verabschieden (siehe dazu ausführlich IMI-Studie 2015/02).

Verfasst wurde das Papier von zwei Autoren: von Patrick Keller und Ellen Ueberschär. Keller ist kein Unbekannter, sondern fällt seit Jahren immer wieder aus friedenspolitischer Perspektive unangenehm auf. Heute ist er Vizepräsident der Bundesakademie für Sicherheitspolitik, zuvor rühmt er sich selbst, sei er Hauptredenschreiber für Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer gewesen. Keller veröffentlichte früher unter anderem auch für das NATO Defence College und die glühende Leidenschaft für das westliche Militärbündnis merkt man auch dem „Traut-Euch-Pamphlet“ bei jeder Zeile an. Die zweite im Bunde ist, wie gesagt, Ellen Ueberschär, die seit 2017 einen der beiden Vorstandsposten der Böll-Stiftung innehat. Als ihren Tätigkeitsbereich gibt die Stiftung an: „Sie ist verantwortlich für die Inlandsarbeit der Stiftung sowie für Außen- und Sicherheitspolitik, Europa und Nordamerika, die Türkei und Israel.“

Bedingt abwehrbereit?

Besonders die Kapitel zur NATO stoßen in dem „Traut-Euch-Papier“ unangenehm auf, wobei zunächst einmal das unglaublich verklärende Bild von der „Rolle Amerikas“ als „Friedensbewahrer Europas“ ins Auge sticht. Dementsprechend positiv ist auch das Bild, das von der NATO gezeichnet wird: „Ohne dieses Bündnis lässt sich weder ein stabiles Europa bauen, noch die internationale Ordnung gestalten.“

Das Problem sei jedoch, dass Europa selbst nur „bedingt verteidigungsbereit“ sei, es könne seine Verteidigung selbst „nicht gewährleisten“. Russlands „wachsendes militärisches Potential“ erfordere ein „amerikanisches Gegengewicht“, wobei Washington nur durch verstärkte europäische Rüstungsanstrengungen dazu motiviert werden könne, die Europäer nicht hängen zu lassen, so der Tenor. Die hier herbeifabulierte russische Aufrüstung bildet sich zumindest nicht im Verteidigungshaushalt ab, der im Falle Russlands zwischen 2015 (66,4 Mrd. Dollar) und 2019 (65 Mrd. Dollar) sogar sank, während die Ausgaben der europäischen NATO-Staaten im selben Zeitraum von 254 Mrd. Dollar auf 301 Mrd. Dollar (307 Mrd. im Jahr 2020) deutlich anstiegen.

Die unterstellte Verteidigungsunfähigkeit wäre also eher ein Fall für den Rechnungshof als für die Finanzminister, zumal eine jüngst veröffentlichte Studie des renommierten Militärexperten Barry Posen zu dem Ergebnis gelangte, dass die europäischen Staaten im Zweifelsfall durchaus in der Lage wären, einen russischen Angriff abzuwehren. Selbst wenn man die Frage nach der Motivation – weshalb sollte Russland einen europäischen Staat angreifen? – gänzlich außen vor lässt, stehen die Aussagen des Papiers also auf extrem wackligen Füßen, bilden aber nichtsdestotrotz die Rechtfertigung für die darauf folgenden recht weitgehenden Forderungen.

Aufrüstungspaket unter deutscher Führung

Das „Traut-Euch-Papier“ fordert eine deutsche Schlüsselrolle bei umfassenden Rüstungsanstrengungen der NATO ein – und zwar kurioserweise ausgerechnet mit der Begründung, so sollten die USA zur Beibehaltung der nuklearen Teilhabe ermuntert werden, deren Beendigung eigentlich (noch) fester Bestandteil der Grünen Programmatik ist. So heißt es im Grünen Grundsatzprogramm vom November 2020, es brauche „ein Deutschland frei von Atomwaffen und damit ein zügiges Ende der Nuklearen Teilhabe“. Weiter weg von solchen Aussagen könnten die Forderungen von Ueberschär und Keller kaum sein: „Das kann nur durch eine ambitionierte neue Übereinkunft gelingen, die im Kern besagt: Die europäischen NATO-Staaten – mit Deutschland an erster Stelle – erhöhen ihre Fähigkeiten zur konventionellen Verteidigung erheblich. Dadurch entlasten sie die USA in Europa und erleichtern es ihnen, sich auf den Indo-Pazifik zu konzentrieren und dort die Interessen der liberalen Demokratien zu schützen. Im Gegenzug bekräftigen die USA ihr Bekenntnis zur Verteidigung des gemeinsamen Bündnisgebietes und untermauern es durch ihre nukleare Schutzzusage sowie ihre dauerhafte militärische Präsenz in Europa.“

Selbstredend müsse dabei „Deutschland die Schlüsselrolle“ spielen, was aber eine „beschleunigte und vollständige Umsetzung der vereinbarten NATO-Streitkräfteziele“ erfordere. Damit ist die deutsche Zusage gemeint, bis 2027 eine schwere Division (15.000-20.000 SoldatInnen) und bis 2032 drei schwere Divisionen zum NATO-Kräftedispositiv beizusteuern. Aktuell ist man davon – geschweige denn von der in dem NATO-Manifest geforderten beschleunigten Umsetzung – allerdings relativ weit entfernt (siehe IMI-Standpunkt 2021/002). Und weil das auch Keller und Ueberschär bekannt ist, stellen sie mit Blick auf ihre Forderung nach einem schnelleren Aufbau der Divisionen fest: „Das setzt die substantielle Erhöhung des Verteidigungshaushaltes voraus, die Modernisierung der Beschaffungsprozesse sowie die Bereitschaft, Deutschland bei der Rüstungszusammenarbeit für seine NATO-Partnern [sic!] berechenbar zu machen.“

Während selbst Bundeswehr-Generalinspekteur Eberhard Zorn kürzlich meinte, der Verteidigungshaushalt und damit auch die Streitkräfteziele müssten coronabedingt wohl nach unten korrigiert werden, schlagen Keller und Ueberschär hier die Flucht nach ganz weit vorn vor. Wie weit nach vorn in Zahlen, erschließt sich aus der Warnung vor den „deutschen Versäumnissen“, wozu der „Mangel an Verlässlichkeit (Abrücken von der 2%-Zusage)“ gezählt wird. Nach all den drastischen Erhöhungen der Rüstungsausgaben in den letzten Jahren von 24,3 Mrd. Euro im Jahr 2000 auf 45,2 Mrd. Euro im Jahr 2021 fordert hier also die Vorständin der Böll-Stiftung einen Militärhaushalt von 2 Prozent des BIP, was 2020 satten 66 Mrd. Euro entsprochen hätte (und das wäre aufgrund des coronabedingten Rückgangs des BIP noch vergleichsweise niedrig gewesen).

Russland, China, überall!

In dem „Traut-Euch-Papier“ kennt der Ruf nach einer deutschen Führungsrolle buchstäblich kaum Grenzen: „Eine deutlich verbesserte militärische Handlungsfähigkeit allein genügt aber nicht. Notwendig ist eine politische Kraftanstrengung: Initiativen, mit denen Deutschland seinen Beitrag zur Lastenteilung erhöhen sollte. Das betrifft vor allem die Peripherie von EU und NATO. Vom Hohen Norden über die Ostsee, Belarus und die Ukraine, den Westbalkan und den Kaukasus bis zum Mittelmeerraum des Nahen Ostens und Nordafrikas.“

Als Hauptfeinde werden aber China und – das schien ja bereits durch – Russland ausgemacht: Es bedürfe einer Neufassung des Strategischen Konzeptes der NATO, da in ihm „von Russland nur als Partner und von China gar nicht die Rede ist.“ China sehen die beiden Autoren als „strategischen Herausforderer“, der „auf Kosten der USA und des Westens insgesamt“ an Macht und Einfluss gewinne, was problematisch sei: „Denn diese machtpolitische Konkurrenz ist von einer systemisch-ideologischen Konkurrenz grundiert.“

Auch Deutschland und die NATO sollten sich hier stärker einbringen, so die Forderung – und zwar unter anderem über eine verstärkte Präsenz im Indo-Pazifik, einer Region, die schon seit einiger Zeit zunehmend auch in den Fokus von NATO-Strategen gerät (siehe IMI-Studie 2019/2): „Nicht zuletzt sollte Deutschland in der NATO anregen, die Partnerschaften mit liberalen Demokratien in aller Welt, aber vor allem im Indo-Pazifik zu intensivieren. Statt eines passiven Angebots braucht die NATO maßgeschneiderte, proaktive Programme, um strategische Partner wie Australien, Japan und Südkorea enger an den Kern des Westens zu binden. Auch bei diesen Maßnahmen sollte wechselseitige Nützlichkeit angestrebt werden, nicht bloß wohlfeile Freundschaftsbekenntnisse.“

Mittelfinger für die Basis

Selbst im Grünen Hausblatt war man nicht begeistert ob der transatlantischen Liebeserklärung aus der Böll-Stiftung – „Böll für die Bombe“ titelte die taz. Und auch Teile dessen, was sich als „Parteilinke“ versteht, taten ihr Missfallen kund – das dürfte es aber einmal mehr auch gewesen sein. Deren Position fasste die Süddeutsche Zeitung Ende Januar mit den Worten zusammen: „Von einem irritierenden ‚Meinungsartikel‘ ist da die Rede, von fehlender ‚Neuaufstellung‘ bei der Heinrich-Böll-Stiftung und davon, dass ein Haufen eher rechtsdrehender Sicherheitsexperten jetzt ausgerechnet in der Denkfabrik der Grünen Unterschlupf gefunden habe. Nun werde Unsachgemäßes zur Verteidigungspolitik verbreitet.“

Doch der hier erweckte Eindruck, es handele sich um einen mehr oder weniger einmaligen Ausrutscher, ist grob irreführend. Schon Ueberschärs Vorgänger als Böll-Vorstand, Ralf Fücks, nutzte die Stiftung, um eine militaristische Breitseite nach der anderen in den Parteidiskurs abzufeuern. Und auch die „Impulspapiere“, mit denen aus der Stiftung heraus im letzten Jahr die „Debatte um das nächste Grundsatzprogramm“ beeinflusst werden sollte, bewegten sich teils hart am Rande und teils auch deutlich jenseits der politischen Programmatik der Partei (siehe IMI-Analyse 2020/31). Die Böll-Stiftung leistet damit einen wichtigen Beitrag, dass zunehmend militaristische Forderungen satisfaktionsfähig werden, während antimilitaristische und pazifistische Positionen vollständig marginalisiert werden. Das hatte bislang keine Konsequenzen – mutmaßlich ist das auch genauso gewollt – und es ist auch damit zu rechnen, dass dies auch im jüngsten Fall nicht der Fall sein wird.

Es besteht zwar wenig Hoffnung, aber vielleicht regt sich auch einmal die Grüne Basis angesichts der Dreistigkeit, mit der ihr mit dem „Traut-Euch-Papier“ der Mittelfinger gezeigt wird. Vielleicht sind es dabei nicht einmal die militärpolitischen Passagen, die das Fass zum Überlaufen bringen lassen, sondern zum Beispiel die Stellen zum Transatlantischen Investitions- und Handelsabkommens (TTIP). Gegen dieses Abkommen gingen bei den bundesweiten Demonstrationen 2016 über 200.00 Menschen auf die Straße – nicht wenige davon Mitglieder der Grünen. Auch das „Traut-Euch-Papier“ ist gegen eine Neuauflage des Abkommens, die Begründung sollte man sich aber auf der Zunge zergehen lassen: „Es ergibt deshalb derzeit keinen Sinn, das Projekt eines transatlantischen Investitions- und Handelsabkommens (TTIP) neu aufzulegen. Dieser Versuch kann gegenwärtig nur scheitern, weil die Meinungsunterschiede, die das Projekt während der Präsidentschaft Barack Obamas zum Misserfolg machten, inzwischen nur noch gewachsen sind, besonders was Landwirtschaft und Lebensmittel-Standards betrifft. Auch steht zu befürchten, dass die politische Elite Deutschlands erneut nicht die Kraft und den Führungswillen aufbringt, wirksam für dieses Projekt zu werben. Ein wiederholtes Scheitern würde aber neuen Schaden anrichten.“