IMI-Analyse 2019/019 - in: W&F Dossier 88

Überprüfung des Zerlegungsprozesses von Atomwaffen

von: Dr. Simon Hebel und Manuel Kreutle | Veröffentlicht am: 18. Juni 2019

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Dieser Artikel erschien im Dossier 88 „Verifikation Nuklearer Abrüstung“ von Wissenschaft & Frieden.

 

 

In Zeiten erneuter Spannungen zwischen Russland und den USA, in denen mit der Aufkündigung des Vertrags über nukleare Mittelstreckensysteme (Intermediate-range Nuclear Forces, INF) die Entwicklung und Stationierung neuer Atomwaffen droht, sollte nicht vergessen werden, dass Artikel VI des nuklearen Nichtverbreitungsvertrages (NVV) alle Vertragsstaaten nach wie vor zur Abrüstung ihrer Atomwaffenarsenale verpflichtet.

Obwohl im NVV weder das Wann noch das Wie eines derartigen Unterfangens geregelt wurde, ist die Entwicklung von Mechanismen, Techniken und Technologien, die zur Verifikation von nuklearer Abrüstung nützlich oder nötig sein könnten, ein unumgänglicher Schritt in Richtung einer Welt ohne Atomwaffen.

Im Folgenden sollen die zentralen Schritte der Verifikation des Zerlegungsprozesses von Atomwaffen, die damit einhergehenden Herausforderungen und die aktuell diskutierten Methoden vorgestellt werden. Im Anschluss beschreiben wir einige Projekte, die sich mit dem Gebiet befassen.

Der Abrüstungsprozess

Für eine verifizierte Abrüstung muss zunächst eine Deklaration der Bestände erfolgen. Atomwaffenstaaten müssen anderen Atom- sowie Nicht-Atomwaffenstaaten Einsicht in den Umfang ihres nuklearen Arsenals geben sowie eine Überprüfung der Angaben ermöglichen, beispielsweise durch Vor-Ort-Inspektionen.

In der Vergangenheit gab es bereits bilaterale Verträge zwischen den USA und der Sowjetunion bzw. Russland, die im Ansatz derartige Elemente umfassten. Allerdings wurde mit den bisherigen Verträgen (z.B. START, START II oder New START) lediglich die Anzahl der Sprengköpfe auf startbereiten Trägersystemen reduziert, nicht aber das Arsenal an Sprengköpfen insgesamt. Entsprechend wurden im Rahmen dieser Abkommen keine Sprengköpfe zerlegt und keine Verifikationssysteme für die Beseitigung von Sprengköpfen entwickelt. Ein umfassendes Abrüstungsabkommen sollte außerdem multilateral gestaltet sein, um alle Atomwaffenstaaten mit einzubinden. Auch haben Nicht-Atomwaffenstaaten ein offensichtliches Interesse daran, dass der Abbau der Waffenarsenale tatsächlich erfolgt, und werden deshalb an der Verifikation ebenfalls teilhaben wollen.

Nach Abschluss eines (multilateralen) Abrüstungsvertrags, in dem unter anderem Umfang und Fristen geregelt werden müssen, und nach der Deklaration der Bestände kann die eigentliche Abrüstung der Nuklearwaffen erfolgen. Dazu muss sichergestellt werden, dass alle Sprengköpfe vollständig deklariert wurden und dass es sich bei den deklarierten Objekten wirklich um nukleare Sprengköpfe handelt. Ein vertrauenschaffender Weg wären hier die überwachte Abnahme des Sprengkopfes von einem zuvor aktiven Trägersystem (z.B. Atom-U-Boot oder Rakete in zugehörigem Silo) sowie radiometrische Messungen. Ab diesem Zeitpunkt muss ebenfalls sichergestellt werden, dass kein Spaltmaterial aus dem Sprengkopf abgezweigt werden kann. Nach der Abnahme erfolgt der Transport des Sprengkopfes in eine zur Demontage vorgesehenen Anlage. In dieser Anlage wird der Sprengkopf demontiert und die Komponenten werden separat gelagert. Der Abrüstungsprozess ist jedoch erst dann komplett abgeschlossen, wenn das Spaltmaterial irreversibel zerstört oder umgewandelt wurde.

Die Herausforderungen

Das zentrale Problem, das ein Verifikationsregime für die Abrüstung nuklearer Sprengköpfe lösen muss, ist die Geheimhaltung. Diese Anforderung rührt nicht nur daher, dass fast alle Eigenschaften einer Kernwaffe als uneingeschränkte Militärgeheimnisse und als kritisch für die nationale Sicherheit gelten. Artikel I des NVV regelt außerdem, dass Atomwaffenstaaten unter keinen Umständen Atomwaffen oder Informationen über deren Aufbau und Zusammensetzung an Nichtatomwaffenstaaten weitergeben dürfen. Umgekehrt verpflichten sich die Nichtatomwaffenstaaten gemäß Artikel II des NVV, dass sie unter keinen Umständen versuchen, Atomwaffen oder sensibles Wissen darüber zu erlangen. Somit darf im Zuge der Inspektionen möglichst nichts über die verwendete Menge an Spaltmaterial, die Isotopenzusammensetzung, den Zündmechanismus, den Sprengstoff, die Container für Lagerung und Transport oder ähnliches bekannt werden.

Die Ausgangssituation ist also für Inspektor*innen die folgende: Sie sollen verifizieren, dass ein Objekt, über das sie eigentlich nichts erfahren dürfen, so demontiert wurde, dass aus den verbleibenden Bestandteilen kein weiterer militärischer Nutzen zu ziehen ist.

Neben dem radioaktiven Spaltmaterial enthält der Sprengkopf auch hochexplosiven Sprengstoff. Beides unterliegt sehr strengen Sicherheitsvorschriften, und der Umgang damit ist nur in dafür vorgesehenen Anlagen durch speziell ausgebildetes Personal gestattet. Mitglieder eines inspizierenden Staates werden daher die Überprüfungsmaßnahmen und Messungen nicht selbst durchführen, sondern lediglich vom Atomwaffenstaat dafür bereitgestelltes Personal dabei beobachten dürfen.

Obwohl davon auszugehen ist, dass ein Staat, der einen Abrüstungsvertrag unterzeichnet, auch wirklich an der Abrüstung seines Arsenals interessiert ist, müssen andere Staaten sicherstellen, dass kein Spaltmaterial abgezweigt werden kann, mit dem im Geheimen neue, nicht deklarierte Atomwaffen gebaut werden könnten. Der Fokus auf Spaltmaterial ist naheliegend, da es die ausschlaggebende und am schwersten zu beschaffende Komponente von Atomwaffen darstellt. Eine zentrale Herausforderung ist daher, an bestimmten Stellen die Anwesenheit von nuklearem Material sicherzustellen und dazwischen eine kontinuierliche Beweiskette (chain of custody) zu gewährleisten, um eine potentielle Abzweigung zu verhindern.

Im Detail gestaltet sich dies folgendermaßen: Ist sichergestellt, dass zu Beginn des Abrüstungsprozesses wirklich ein echter nuklearer Sprengkopf vorliegt und keine Attrappe, muss die Identität und Integrität dieses Objekts ohne Unterbrechung bis zum Moment der Zerlegung nachverfolgt werden können. Durch die Verwendung moderner Siegel und Identifikationstechniken kann zuverlässig festgestellt werden, ob ein Container geöffnet wurde. Mithin sind Transport und Lagerung auch dann relativ leicht zu überwachen, wenn keine Inspektoren vor Ort sind. Die eigentliche Demontage findet in einem abgeschlossenen Raum unter absoluter Geheimhaltung statt. Ausgerechnet an dem Punkt, an dem die technische Überwachungskette unterbrochen ist, dürfen also auch keine Inspektoren anwesend sein.

Diesem Problem wird mit einer gründlichen Absicherung aller möglichen Abzweigungspfade begegnet (mehr dazu unten). Im Anschluss an die Demontage bleiben lediglich diverse Container übrig: der nun leere Transportcontainer, in dem der Sprengkopf eingetroffen ist, Container mit dem Spaltmaterial, Container mit dem Sprengstoff und Abfallcontainer mit dem restlichen Material. Keiner der Container darf von den Inspektor*innen geöffnet werden, da sowohl Inhalt als auch der Aufbau der Container selbst der Geheimhaltung unterliegen. Nur der dafür vorgesehene Container darf Spaltmaterial enthalten. Außerdem muss sichergestellt werden, dass kein Spaltmaterial in dem Raum, in dem die Demontage stattfand, zurückbleibt, oder dass es diesen Raum auf anderem Wege verlässt als in dem dafür vorgesehenen Container. Anschließend müssen die Container versiegelt werden, so dass die Überwachungskette wieder hergestellt ist.

Methoden der Verifikation

Elementares Mittel, um sicherzustellen, dass beim Transport und während einer möglichen Lagerung kein Spaltmaterial abgezweigt werden kann, sind die Container. Besonderes Augenmerk liegt auf dem Erhalt der Integrität des Containers und auf der eindeutigen Identifizierung. Ersteres stellt sicher, dass niemand den Behälter geöffnet oder manipuliert hat; Letzteres gewährleistet, dass der Container nicht durch ein leeres Duplikat ersetzt wurde.

In diesem Bereich greifen zunächst klassische Verfahren, wie Siegel, die durch mechanische Einwirkung ihre Oberfläche verändern (»gebrochen werden«) und somit anzeigen, ob jemand versiegelte Container oder Türen geöffnet hat. Ebenfalls simpel, aber effektiv, ist die Kennzeichnung des Containers mit in klebender Flüssigkeit gelösten, reflektierenden Partikeln, die nach einmaligem Auftragen eine zufällige und eindeutige Signatur generieren, die praktisch nicht zu fälschen ist. Diese Technik dient besonders der eindeutigen Identifizierung von Containern und anderen Objekten. Darüber hinaus gibt es weiterreichende Technologien. So könnten Container etwa durch eingebettete Glasfasern verstärkt und so gegen mögliche Manipulationen, z.B. Bohren, geschützt werden; in diesem Fall schickt ein Gerät einen Laserpuls durch die Glasfasern und misst am Faserende das Ausgangssignal. Änderungen im Signal weisen auf eine mögliche Manipulation des Containers hin. Viele weitere Techniken zur Inspektion von Containern, Lagerungsorten und anderen Anlagen werden bereits im Bereich »Safeguards« (Sicherungsmaßnahmen) der Internationalen Atomenergieorganisation, die die Einhaltung des Nichtverbreitungsvertrages kontrolliert, verwendet und könnten auch bei der Abrüstungsverifikation Anwendung finden.

Genauso relevant wie zu verhindern, dass Material aus Transport- und Lagerungscontainern abgezweigt wird, ist es zu überprüfen, dass kein Spaltmaterial den Raum verlässt, in dem der Sprengkopf demontiert wird. Besonders wichtig ist dabei ein so genannter Portalmonitor am Ein- bzw. Ausgang des Raums. Dieser Detektor untersucht Personen, Material und Container, die den Kontrollbereich passieren, auf die An- und Abwesenheit von strahlendem Material. So können auch kleinere Mengen Plutonium und Uran festgestellt werden. Der Ausgang ist jedoch nicht der einzig mögliche Abzweigungspfad. Um sicherzustellen, dass nicht über einen versteckten Weg, z.B. einen Lüftungsschacht oder einen Abfluss, Material entfernt wird, sollten alle möglichen Wege versiegelt werden. Um sicherzustellen, dass nicht einfach Spaltmaterial im Raum zurückgelassen und nach Abzug der Inspektor*innen entfernt wird, sollte der Raum nach Abtransport des Spaltmaterialcontainers mittels Strahlungsdetektoren untersucht werden. Bei diesem Verfahren hilft Wissen über den Aufbau des Raums und der Anlage. Im Zuge einer Inspektion sollte folglich überprüft werden, ob die relevanten Räume wirklich die zuvor deklarierten Abmessungen aufweisen.

Trotz all dieser Techniken ist für eine Verifikation der Abrüstung früher oder später unabdingbar, nicht nur die Abwesenheit, sondern auch die Anwesenheit des abzurüstenden nuklearen Materials festzustellen. Hierfür wurde eine Reihe von Techniken entwickelt, die unter dem Begriff »Informationsbarrieren« zusammengefasst werden. Dies sind Geräte, welche sensitive, d.h. geheimzuhaltende, Informationen messen und in eine nicht-sensitive Information überführen, wie ein einfaches »Ja/Nein«. So kann beispielsweise eine Strahlungsmessung an einem Container durchgeführt werden, und dem Inspektor wird lediglich mitgeteilt, ob nukleares Waffenmaterial anwesend ist oder nicht. Informationsbarrieren lassen sich im Wesentlichen in drei Techniken einteilen.

1. Bei »Template«-Informationsbarrieren wird am Container eine Messung durchgeführt und abgespeichert; das ist das Template, das nicht einsehbar ist. Später wird die Messung wiederholt und die Informationsbarriere zeigt lediglich an, ob die neue Messung dem Template entspricht, der gemessene Gegenstand also gleich oder gleichartig ist.

2. Eine »Attribute«-Informationsbarriere führt eine Messung am Container durch und analysiert das gemessene Signal, beispielsweise ein Neutronen- oder Gammaspektrum, auf bestimmte Eigenschaften hin. Dies kann eine Isotopenzusammensetzung, Reinheit oder eine Mindestmasse des Spaltmaterials sein. Anschließend teilt die Informationsbarriere nicht die Messwerte mit, sondern lediglich, ob die Messung den geforderten Eigenschaften entspricht.

3. Die dritte Art von Informationsbarrieren sind sogenannte »Zero knowledge«-Messtechniken, die so gestaltet sind, dass das Messergebnis selbst keine Rückschlüsse auf geheimzuhaltende Eigenschaften des gemessenen Materials zulässt.

Forschungsprojekte

Obwohl bislang keine Abkommen zur Abrüstung von Sprengköpfen vorliegen, gibt es bereits eine Reihe von Forschungsprojekten, die sich des Themas annahmen, auch unter Beteiligung von Nuklearwaffenstaaten, die derartige Unterfangen als Abrüstungsbemühungen im Sinne von Artikel VI des Nichtverbreitungsvertrages begreifen.

Die »Trilateral Initiative« zwischen Russland, den USA und der Internationalen Atomenergieorganisation untersuchte im Rahmen der sich verbessernden Beziehungen in den 1990er Jahren Methoden, die sich vor allem auf die Verifikation des Waffenplutoniums vor und nach dem Abrüstungsprozess beziehen, inklusive der Entwicklung einer ersten Informationsbarriere. Es wurde auch ein gemeinsamer Entwurf für ein Verifikationsabkommen ausgearbeitet, der leider nie publiziert wurde.

Unter dem Titel »US-UK Cooperation to Address Technical Challenges in Verification« firmiert eine ganze Reihe von Projekten, in denen die Nuklearwaffenstaaten USA und Vereinigtes Königreich einzelne Methoden und Technologien zur Abrüstungsverifikation entwickelten und testeten, leider auch ohne eine ausführliche öffentliche Dokumentation.

Umfassend dokumentiert ist hingegen die »UK-Norway Initiative«, in welcher das Vereinigte Königreich zusammen mit Norwegen in ausführlichen Übungen eine Abrüstungsinspektion zwischen einem Kernwaffenstaat und einem Nichtkernwaffenstaat in einer realistischen Umgebung simulierte, mit Fokus auf der Demontage des Sprengkopfes. Diese Übung wird in reduzierter Form immer noch regelmäßig mit Studierenden wiederholt, beispielsweise im Rahmen eines Seminars, welches das Zentrum für Naturwissenschaft und Friedensforschung der Universität Hamburg anbietet. Aus der UK-Norway Initiative ist auch die »Quad Exercise« unter Beteiligung von Norwegen, Schweden, Vereinigtem Königreich und USA hervorgegangen, die detailliert den verifizierten Transport von Sprengköpfen simulierte.

Seit 2014 tagt regelmäßig das Programm »International Partnership on Nuclear Disarmament Verification« (IPNDV), in dem mehr als 25 Staaten auf Initiative der USA ein umfassendes Modell für Abrüstungsverifikation sowie zahlreiche Technologiedemonstrationen entwickeln. Die Abgesandten setzen sich dabei aus Wissenschaftler*innen aus den Bereichen der Friedens- als auch der Rüstungsforschung sowie politischen Vertreter*innen aus diversen Ministerien (z.B. Außen-,Verteidigungs- oder Energieministerien) zusammen. Hieraus geht auch die von Deutschland (Auswärtiges Amt) und Frankreich (Außen- und Verteidigungsministerium) ausgerichtete »NuDiVe«-Übung hervor, die eine robuste Verifikation einer Sprengkopfdemontage demonstrieren will und unter anderem von Mitarbeiter*innen des Forschungszentrums Jülich und des Zentrums für Naturwissenschaft und Friedensforschung der Universität Hamburg organisiert wird.

 

Dr. Simon Hebel ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Zentrum für Naturwissenschaft und Friedensforschung der Universität Hamburg. Neben der Abrüstungsverifikation beschäftigt er sich mit der Anwendung radioaktiver Edelgasisotope für Verifikationszwecke und arbeitet an der Entwicklung der NuDiVe-Übung.

Manuel Kreutle studiert an der Universität Hamburg Physik im Master und forscht im Rahmen seiner Tätigkeiten am Zentrum für Naturwissenschaften und Friedensforschung an nuklearer Abrüstungsverifikation. Ein Teil der Arbeit stellt dabei die Entwicklung der NuDiVe-Übung dar, ein anderer Fokus liegt auf der Simulation von Messungen an Plutonium durch Vergleich mit experimentellen Daten.