IMI-Studie 2015/01

Der Irak im Vielfrontenkrieg

„Islamischer Staat“, irakischer Aufstand und das Erbe der Besatzung

von: Joachim Guilliard | Veröffentlicht am: 27. Januar 2015

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Nach zweieinhalbjähriger Pause greifen US-amerikanische Kampfjets seit dem 8. August 2014 wieder Ziele im Irak an. Wenn Anfang 2015 die von Obama bereits autorisierte   Truppenaufstockung abgeschlossen sein wird, werden wieder über 3000 US-Soldaten offen in dem Land operieren werden, das sie Ende 2011 verlassen mussten.[1] Im Bündnis mit anderen Nato-Staaten und den arabischen Golfmonarchien weiteten sie ihre Angriffe im Rahmen ihres Kampfes gegen den „Islamischen Staat“ auf syrisches Territorium aus. Syrien wurde so nach Afghanistan, Pakistan, Jemen, Somalia, Libyen und Irak zum siebten Land der islamischen Welt, das US Präsident und Friedensnobelpreisträger Barack Obama in seiner sechsjährigen Amtszeit bombardieren lässt.

Im Unterschied zu seinem Vorgänger, George W. Bush, erhält US Präsident Obama für seine neuen Kriegseinsätze breite Unterstützung bis hinein in die Linke. Dramatische Berichte über die Vertreibung von Christen und Yeziden durch die brutale Miliz „Islamischer Staat“, die im Norden Iraks bis fast an die Grenzen des kurdischen Autonomiegebietes vorgerückt ist, hatten ihre Wirkung nicht verfehlt. Sogar von „Völkermord“ war schon wieder die Rede.

Nun waren die in der Region meist noch mit dem bisherigen Namen „Islamischer Staat im Irak und der Levante“ (ISIL oder arabisch Daish) bezeichneten al-Qaeda nahen Dschihadisten keine neue Erscheinung. Doch solange sie ihre Blutspur allein in Syrien zogen, hat man sie nur verbal verurteilt, faktisch aber weiterhin ‒ als Teil der gegen die Assad-Regierung kämpfenden Allianz ‒ unterstützt.[2] Zur zu bekämpfenden Bestie wurde ISIL erst, als seine Vorstöße im Irak bis in die, von den irakischen Kurdenparteien KDP und PUK kontrollierten Gebiete reichten und damit unmittelbar die sich dort befindlichen Öl- und Gasfelder bedrohten, auf denen westliche Ölkonzerne aktiv sind.

Mit der direkten militärischen Intervention und der erneuten Stationierung eigener Truppen im Irak will die Obama-Regierung nicht nur die aus dem Ruder gelaufene Miliz zurechtstutzen und das Regime in Bagdad stabilisieren, sondern auch den geschwundenen Einfluss im Land wieder stärken. Die irakisch-kurdischen Partien nutzen die Gelegenheit, um die faktische Unabhängigkeit der von ihnen kontrollierten Gebiete weiter voranzutreiben.

Indem das ganze Geschehen, wie schon wäh­rend der US-Besatzung, auf die Aus­einander­setzung mit islamistischen Terrortruppen redu­ziert wird, wird erneut der Kampf breiter Be­völkerungsschichten gegen das von der Besat­zung geschaffene Regime ausgeblendet. Genauso verhält es sich mit der brutalen Gewalt irakischer Regierungs­kräfte und regierungsnaher schiitischer Milizen, die der von ISIL kaum nachsteht und bisher wesentlich mehr Todesopfer forderte. Durch die Fokussierung auf den zur Inkarnation des Bösen hochstilisierten ISIL konnte auch die öffentliche Zustimmung für ein direktes militä­risches Eingreifen in Syrien gewonnen werden, das ein Jahr zuvor noch aufgrund der breiten Opposition abgeblasen werden musste.

In Syrien bombardieren die Staaten, die haupt­sächlich für die eskalierende Gewalt dort ver­antwortlich sind – also eine „Koalition der Schuldigen“[3] ‒ nun in erheblichem Maß auch die syri­sche Infrastruktur, während sie gleichzeitig weiterhin die islamistischen Milizen, die gegen die As­sad-Regierung kämpfen, unterstützen und das Nato-Mitglied Türkei die Grenzen auch für ISIL-Kämpfer und ihren Nachschub sowie deren umfangreichen Schmuggel mit syrischen Öls offen hält.

Auch die Bundesregierung ist diesmal mit dabei. CDU und SPD nutzten die Stimmung, um eilig 600 Tonnen Kriegsgerät (darunter 120 Panzerfäuste, 20 Boden-Boden-Raketen vom Typ Milan und 4.000 Sturmgewehre) an die irakische Demokratische Partei Kurdistans (KDP) zu liefern,[4] die im kurdischen Autonomiegebiet regiert. Zusätzlich billigte das Kabinett Mitte Dezember 2014 die – verfassungswidrige, wie etwa der Völkerrechtler Stefan Talmon kritisierte[5] – Entsendung von 100 Bundeswehrsoldaten zur Ausbildung kurdischer Kämpfer. Durch diese Unterstützung eines nichtstaatlichen Akteurs in ein Krisen­ge­biet, mit der die Bundesregierung am Parlament vorbei in einen bewaffneten Konflikt intervenierte, fegte sie gleich drei bis­herige militärische Selbstbeschränkungen deutscher Politik zur Seite ‒ und demonstrierte so deut­lich, wie sie sich die seit einiger Zeit so vehement geforderte Übernahme „größerer Verantwortung“ durch Deutschland konkret vorstellt.

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Inhaltsverzeichnis

ISIL ‒ ein Produkt des Westens
Kämpfer „made in America“
Zurück ins Mittelalter
Willkommenes Monster

Mehr als „ISIL“ – Volksaufstand in sunnitischen Provinzen
Vom gewaltfreien Protest zum Aufstand
Gewalt gegen zivile Protestbewegung
Der dritte Feldzug gegen Falludscha
Wiederbelebung des bewaffneten Widerstands
Machtverhältnisse im Aufstandsgebiet
Pakt mit dem Teufel?
Stärke heruntergespielt
„Amman Konferenz zur Rettung Iraks“
US-Luftangriffe auch gegen sunnitische Opposition

Jenseits von ISIL ‒ Gräueltaten regierungsnaher Milizen
Teufelskreis religiös motivierter Gewalt
Schiitische Milizen und Peschmergas ‒ Verbündete und Gegner

Im Aufwind ‒ die Kurden
„Umstrittenen Gebiete“
Eigenmächtige Ölgeschäfte
Verlässlichster Partner des Westens

Krieg gegen den Wiederaufbau eines einigen, souveränen Irak
Regierungswechsel ‒ Chancen für eine politische Lösung?
USA und Iran einig gegen Wiedererstarken Iraks

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Anmerkungen

[1] Kedar Pavgi, 5 Months of Air Strikes in Iraq and Syria in 4 Charts, Defense One, 8.1.2014, Obama to Send 1,500 More Troops to Assist Iraq, NYT, 7.11.2014, Knut Mellenthin, Wenn Präsidenten schwören ‒ Obamas Versprechen, keine Bodentruppen in den Irak zu schicken, und die Realität, jW, 19.9.2014

[2] s. u.A. Seymour M. Hersh, The Red Line and the Rat Line – Hersh on Obama, Erdoğan and the Syrian rebels, London Review of Books, April 6, 2014, Nafeez Ahmed, Follow the Money; Follow the Oil: How the West Created the Islamic State, Counterpunch, 12.9.2014

[3] Mahdi Darius Nazemroaya, US’s ‚Coalition of the Guilty‘ part of Iraq, Syria problem, RT, 18.11,2014

[4] Waffenlieferung von Waren in den Nordirak, NDR, 18.9.2014

[5] Stefan Talmon, Eine Koalition der Willigen reicht nicht, FAZ, 8.1.2015