IMI-Analyse 2021/52 - in: AUSDRUCK (Dezember 2021)

Sehenden Auges – Die Offenbarungen der Afghanistan Papers

von: Dominik Wetzel | Veröffentlicht am: 16. Dezember 2021

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Artikel im IMI-Magazin AUSDRUCK (Dezember 2021)

“Die Geschichte des militärischen Konflikts in Afghanistan [ist] geprägt von anfänglichen Erfolgen, gefolgt von langen Jahren des Zauderns und schließlich des Scheiterns. Wir werden diesen Fehler nicht wiederholen.”

—  George W. Bush in einer Rede am Virginia Military Institute (17. April 2002), Übersetzung: IMI

„Wie konnte das passieren?“

Diese Frage stellten sich viele, als im August dieses Jahres klar wurde, dass die Taliban in kürzester Zeit Afghanistan vollständig unter ihre Kontrolle gebracht und Kabul eingenommen hatten. Die NATO-Truppen, die zum 11. September 2021 abziehen wollten, mussten Hals über Kopf das Land verlassen und die Bilder vom Kabuler Flughafen brannten sich ins kollektive Gedächtnis.

Wer den Afghanistankrieg aufmerksam verfolgt hat, hat spätestens mit Erscheinen der „Afghanistan Papers“ Anfang Dezember 2019 gewusst, dass der Krieg nicht nur für die Bevölkerung katastrophal ist, sondern auch strategisch desaströs geführt wird. Diese vor zwei Jahren von der Washington Post veröffentlichten Dokumente und Interviews zeigten, dass unter diesen Zuständen weder Menschenrechte noch Demokratie gedeihen konnten. John Sopko, der Spezialgeneralinspektor für Afghanistans Wiederaufbau, kurz: SIGAR, war 2008 vom US Kongress damit beauftragt worden, eine Lageeinschätzung über Verschwendung und Betrug in den Wirren des Krieges abzugeben. Zwischen 2014 und 2018 führte seine Behörde dazu über 400 Interviews mit politisch Verantwortlichen. Der Zugang zu den Dokumenten musste erst vor Gerichten erstritten werden, diese wurden dann von der Washington Post als „Afghanistan Papers“ veröffentlicht.[1]

In den 20 Jahren sahen sich die NATO und ihre Verbündeten einer Unzahl an Herausforderungen ausgesetzt. Jahr für Jahr sprachen Generäle, Politiker und Präsidenten von Fortschritten, Siegen und Erfolgen. Dieses über Jahrzehnte anhaltende Vertuschen eines Totalversagens auf so vielen Ebenen wurde mit dem schieren Verdampfen des Afghanischen Staatsapparats dieses Jahr für alle evident. Ein Bild verfestigte sich: die Öffentlichkeit wurde über Jahre hinweg belogen.

Die Ursache darin liegt zum größten Teil an den Fehlinformationen, die von den militärisch Verantwortlichen an die Öffentlichkeit gelangten. Jeder US-Präsident, der während des Krieges im Amt war, erzählte von Fortschritten, die errungen wurden. Alle zusammen logen damit 20 Jahre lang, dass der Krieg bald gewonnen wäre, obwohl die Lage am Boden jedes Jahr dramatischer wurde und mit den beispiellosen Bombardements durch Trump ihren zerstörerischen Höhepunkt fand.[2]

In den Dokumenten beschreibt z.B. Bob Crowley, Oberst der US Armee, dass Daten die Ränge hoch geschönt wurden, um ein bestmögliches Bild von der Lage präsentieren zu können. Untersuchungen waren dadurch „total unzuverlässig“ aber unterstützten die Wahrnehmung, dass alles, was sie taten, richtig wäre.[3]

Das erklärt unter anderem, wie die aufwändigsten Spionage- und Geheimdiensteinrichtungen der Welt so falsch liegen konnten mit der Einschätzung von Anfang August, der afghanische Staat würde noch etwa 3 Monate halten.[4] Auch die New York Times arbeitete im September 2018 auf, wie sehr sich die Presseerklärungen der US-Regierungen von der Realität am Boden unterschieden.[5]

Korruption

„Wir haben Straßen ins Nirgendwo gebaut … Mit dem, was wir ausgegeben haben, sollte Afghanistan aussehen wie Deutschland 1955.“

— Berater der US-Spezialkräfte in einem Interview vom 22. Januar 2016.[6]

Aus den Dokumenten wird deutlich, wie sehr das besetzte Land an der ausufernden Korruption krankte. Zunächst gab die US-Regierung „nette Geschenke“ an die Delegierten aus, die 2002/03 Washingtons Haltung zu Menschenrechten und Frauenrechten in die neue Verfassung Afghanistans einarbeiteten.[7] Christopher Kolenda, Oberst der US-Armee, beschreibt, wie sich die afghanische Regierung bis 2006 in eine „Kleptokratie“ verwandelt hatte.[8] Um Präsident Karzai herum baute sich ein Apparat auf, der die meiste Zeit damit beschäftigt war, sich selbst an der Macht zu halten und zu bereichern. Die Wahlen von 2009 waren komplett gefälscht.[9] Laut Washington Post kam es zu Betrug „epischen Ausmaßes“. Unter anderem sollen eine Millionen Stimmen für Karzai, (ein Viertel aller gezählten Stimmen) illegal gewesen sein.[10] Nach den Interviews resultierte das Ausmaß an Korruption daraus, dass man das Land in Hilfsgeldern und Rüstungsdeals ertränkt hatte. Es gab einen derartigen von den Steuerzahlern finanzierten Exzess, dass „die Möglichkeiten für Bestechung und Betrug fast grenzenlos“ wurden.[11]

Die Dokumente sind voll mit Berichten darüber, wie Steuergelder in Milliardenhöhe einfach im Sumpf aus Betrug und Korruption versickert sind. Ein Programm,[12]das der Kongress bewilligt hatte, stellte $3,7 Milliarden bereit. Laut einem NATO-Verantwortlichen wurden davon zwar $2,3 Milliarden ausgegeben, doch es wurden nur bei $890 Millionen davon Details darüber bekannt, wohin das Geld wirklich floss. Gert Berthold, ein forensischer Rechnungsprüfer, analysierte zwischen 2010 und 2012 etwa 3.000 Verträge des Verteidigungsministeriums in Höhe von ca. $106 Milliarden, um zu sehen, wer davon profitiert hatte. Das Ergebnis war: 40% gingen an transnationale Kriminalität und Aufständische wie Taliban und das Haqqani Netzwerk sowie Regierungskorruption. Ehemalige Minister sagten dazu, diese Zahlen seien unterbewertet.[13]

Warlords

Zu Beginn der Invasion war das Ziel klar, nach 9/11 einen Gegenschlag gegen Al-Quaida zu führen, um ähnliche Angriffe zu verhindern. Doch der Fokus rückte schnell auf die Zerschlagung der an den Anschlägen unschuldigen Talibanregierung und auf den Aufbau einer neuen Regierung mit dazugehörigem Staatsapparat.

Bereits einen Monat nach der Invasion, im November 2001, ermordeten regierungstreue Einheiten etwa 2000 Kriegsgefangene. Truppen, die dem Warlord Abdul Rashed Dostum unterstanden, erschossen und verschlossen gefangene Talibankämpfer luftdicht in Containern. Die Opfer wurden später im Wüstensand vergraben. Dieses Massaker von Dascht-i Leili wurde 2002 aufgedeckt, nachdem die Physicians for Human Rights das Massengrab entdeckten.[14]

In einem Brief zum darauffolgenden Neujahr an Präsident Bush wird Dostum als Krieger, mit dem die US Truppen „sehr gut zusammenarbeiten“, bezeichnet.[15] Aus einem Interview mit einem unbekannten UN-Mitarbeiter aus dem Jahr 2015 geht hervor, dass Dostum, der zwischenzeitlich Vize-Präsident des Landes war, von den USA und der internationalen Gemeinschaft pro Monat mehr als $100.000 erhielt, „um keinen Ärger zu machen“.[16]

Polizei

In den Interviews wird niemand geschont. Die afghanischen Polizeieinheiten werden vor allem als schlecht trainiert, inkompetent und korrupt bezeichnet. Prof. Thomas Johnson von der US Navy sagte 2016, dass die meisten Afghanen die Polizei als Banditen wahrnähmen, und nannte sie „die am meisten gehasste Institution“ in Afghanistan.[17] Die Korruption und Erpressung, die von der Polizei ausging, führte dazu, dass viele nicht sagen konnten, ob denn die Taliban oder die afghanische Regierung schlimmer seien. In einem Interview berichtet Shahmahmood Miakhel, ehemaliger Berater des afghanischen Innenministeriums, von einem Fall in Helmand, wo die örtliche Polizei die Bevölkerung nicht schützte, sondern vor allem damit beschäftigt war, mit dem Verkauf von Treibstoff und Waffen Geld zu verdienen. Die Bevölkerung blieb deswegen im Kampf zwischen korrupter Regierung und Taliban neutral und wartete ab, wer den Krieg gewinnen würde.[18]

Drogen

Obwohl die USA über $9 Milliarden für die Bekämpfung des Problems ausgegeben hatten, wuchs die Opiumproduktion zu einem solchen Ausmaß, dass Afghanistan mit über 80% des weltweit produzierten Opiums Weltmarktführer wurde und vor allem Europa, Iran und andere Teile Asiens mit Heroin und Morphium versorgte. Das herausragende Scheitern, die Opiumproduktion in Afghanistan in den Griff zu bekommen oder überhaupt zu drosseln, war so gigantisch, dass sich unvermeidbar die Frage stellt, ob die NATO mit Absicht so viel Opium produzieren ließ. Im Frühjahr 2002 zahlten die Briten $700 pro Acre (4047 m²), wenn die Bauern ihren Mohn verbrannten. Das $30 Millionen schwere Programm löste einen Rausch aus. Bauern bauten so viel Mohn an, wie sie konnten, verbrannten einen Teil für die britischen Gelder und verkauften einen anderen am Markt. Andere ernteten das Opium kurz bevor sie ihre Pflanzen zerstörten und bekamen das Geld trotzdem. Das Phänomen nennt sich Kobra-Effekt und zeugt von totalem Staatsversagen. Ironischerweise war in den Jahren kurz vor der Invasion der NATO der Opiumanbau unter dem Talibanherrscher Mullah Omar fast zum Erliegen gekommen.[19]

Das Bild eines unfassbaren Fiaskos.

Stephen Hadley, Sicherheitsberater der US-Regierung, sagte auch mit Blick auf die Kriege in Irak, Syrien, Libyen, Jemen, Haiti und Somalia: „Wir haben kein Nachkriegsstabilisierungsmodell, das funktioniert“.[20]

In den 20 Jahren hat allein die US-Regierung etwa 2.000 Mrd. US$ in den afghanischen Staat gepumpt, knapp $275 Millionen US$ pro Tag.[21] Der Krieg war damit deutlich teurer als der Marshall-Plan, der Westeuropa nach dem zweiten Weltkrieg wiederaufbaute. Doch das ist nur Afghanistan und damit bloß die Spitze des Eisbergs. Aus dem „Costs of War“-Paper der Brown Universität in Providence geht hervor, dass das Pentagon seit Beginn des Afghanistankriegs 2001 über 14 Billionen Dollar ausgegeben hat. Ungefähr ein Drittel bis die Hälfte dieser Summe floss an die Waffenindustrie. Wegen eines Mangels an Transparenz bei den Ausgaben des Pentagon lassen sich diese Werte nicht genauer ermitteln. Ein Viertel bis ein Drittel aller Pentagon-Verträge gingen dabei an nur fünf Waffenlieferanten: Lockheed Martin, Boeing, General Dynamics, Raytheon und Northrop Grumman.[22] Vier der letzten fünf US-Verteidigungsminister waren bei ebendiesen Waffenschmieden angestellt. James Mattis (Vorstandsmitglied bei General Dynamics), Patrick Shanahan (Manager bei Boeing), Mark Esper (Vorstand für Regierungsbeziehungen bei Raytheon) und der amtierende Lloyd Austin (Vorstandsmitglied bei Raytheon Technologies).[23] Julian Assange sagte dazu 2011 in einem Interview, das Ziel des Afghanistankriegs sei es, Geld aus den Steuertöpfen der USA und Europa zu waschen und es an eine transnationale Sicherheitselite umzuverteilen. Das Ziel sei ein endloser Krieg, nicht ein erfolgreicher.[24] Dieses Statement erklärt den Krieg bestimmt nicht vollumfassend, aber die Umverteilung hat auf jeden Fall stattgefunden.


Die Enthüllungen der Afghanistan Papers haben bis heute im deutschen Mainstream nahezu keinen Anklang gefunden. Bei der jetzigen Aufarbeitung des Krieges sollten unter anderem diese Dokumente – wie auch die Pentagon Papers zum Vietnamkrieg – die Basis jeder Auseinandersetzung mit den letzten 20 Jahren Krieg in Afghanistan bilden.

Anmerkungen


[1]     Whitlock, Craig; “How The Post unearthed The Afghanistan Papers”; WashingtonPost; 9.12.19, www.washingtonpost.com.

[2]     Vanden Brook, Tom; “Bombs, missiles falling at record pace in long-running Afghanistan war”; USA Today; 18.11.19; eu.usatoday.com.

[3]     Bob Crowley, Lessons Learned interview, 8/3/2016; S. 2f.; Washington Post;

www.washingtonpost.com.

[4]     Lamothe, Dan/ Hudson, John/ Harris, Shane/ Gearan, Anne; „U.S. officials warn collapse of Afghan capital could come sooner than expected“; WashingtonPost; 10.08.21; www.washingtonpost.com.

[5]     Abed, Fahim/ Ngu, Ash/Nordland, Rod; “How the U.S. Government Misleads the Public on Afghanistan”; NewYorkTimes; 18.09.18; www.nytimes.com.

[6]     U.S. Special Forces adviser, Lessons Learned interview, 1/22/2016; S.4; Washington Post; 9.12.19; www.washingtonpost.com.

[7]     U.N. official, Lessons Learned interview, 7/31/2015; S.4.; WP; The Afghanistan Papers; 9.12.19; www.washingtonpost.com.

[8]     Christopher Kolenda, Lessons Learned interview, 4/5/2016; S.2; WP; The Afghanistan Papers; 9.12.19; www.washingtonpost.com.

[9]     Glantz, Aaron; „Jimmy Carter: ‚Hamid Karzai Has Stolen the Election‘“; Huffpost; 15.11.09; www.huffpost.com.

[10]   Whitlock, Craig; “Part 4: Consumed by corruption”; WP; The Afghanistan Papers; 9.12.19; www.washingtonpost.com.

[11]   [There was so much excess, financed by American taxpayers, that opportunities for bribery and fraud became almost limitless, according to the interviews.]; Whitlock, Craig; “Part 4: Consumed by corruption”; WP; TheAfghanistanPapers; 9.12.19; www.washingtonpost.com.

[12]   Commanders‘ Emergency Response Program, (CERP).

[13]   Gert Berthold, Lessons Learned interview, 10/6/2015; S.5; WP; The Afghanistan Papers; 9.12.19;  www.washingtonpost.com.

[14]   Wikileaks; The Dasht-e-Leili Massacre of Taliban prisoners of war, US FOIA, part I, 2002-2008;  22.07.09; www.wikileaks.org.

[15]   “Rumsfeld snowflake” 2002; WP; TheAfghanistanPapers; 9.12.19; https://www.washingtonpost.com.

[16]   U.N. official, Lessons Learned interview, 8/27/2015; S. 3; [„to not cause trouble“]; WP; The Afghanistan Papers; 9.12.19; www.washingtonpost.com.

[17]   Thomas Johnson, Lessons Learned interview, 1/7/2016; S. 13; WP; The Afghanistan Papers; 9.12.19;  www.washingtonpost.com.

[18]   Shahmahmood Miakhel, Lessons Learned interview, 2/7/2017; S. 6; WP; The Afghanistan Papers; 9.12.19;

www.washingtonpost.com.

[19]   Whitlock, Craig; “Part 6: Overwhelmed by opium“; WP; The Afghanistan Papers; 9.12.19; washingtonpost.com.

[20]   Stephen Hadley, Lessons Learned interview, 9/16/2015; WP; The Afghanistan Papers; 9.12.19; www.washingtonpost.com.

[21]   Helman, Christopher/ Tucker, Hank; “The War in Afghanistan Cost America $300 Million per day for 20 Years, with big bills yet to come”; Forbes; 16.08.21; www.forbes.com.

[22]   Hartung, William; “Profits of War:Corporate Beneficiaries of the Post-9/11Pentagon Spending Surge”; Center for International Policy; Brown University; 13.09.21; S.4; web.archive.org.

[23]   ebd; S.21; web.archive.org.

[24]   Wikileaks; “Julian Assange speaking in 2011…”;18.08.21; 11:44; Twitter; web.archive.org.