IMI-Standpunkt 2021/042 - in: Telepolis (30.6.2021)
Verwundete in Mali: Informations- und Wahrnehmungsblockade
von: Christoph Marischka | Veröffentlicht am: 30. Juni 2021
Bereits im Frühjahr 2017 machte das Magazin des Reservistenverbandes mit dem zunächst eindeutigen Namen „loyal“ den Einsatz der Bundeswehr in Mali zur Titelstory. Auf dem Cover der Ausgabe prangte in großen Buchstaben der Titel „Im malischen Treibsand“. Der dazugehörige Beitrag im Magazin unter der Überschrift „Mission Impossible“ zitiert einen 28-jährigen Hauptfeldwebel der Bundeswehr, der damals im Rahmen des MINUSMA-Mandates in Mali stationiert war, mit den Worten: „… meinen Verwandten daheim kann ich nicht erklären, warum ich in Mali bin und was wir hier erreichen wollen“. Das war Anfang 2017. 2016 hatte die Bundeswehr in Gao, im Norden Malis, mit Camp Castor ein eigenes Feldlager von den Niederlanden übernommen und ausgebaut. Das deutsche Mandat zur Beteiligung an MINUSMA wurde im Januar 2017 von 650 auf 1.000 erhöht, mittlerweile umfasst es bis zu 1.100 Kräfte. 300 Angehörige der Bundeswehr waren damals außerdem für den Einsatz im Rahmen der 2013 begonnenen EU-Ausbildungsmission EUTM Mali weiter im Süden mandatiert – heute sind es 650.
Parallel zur eher moderaten Erhöhung der deutschen Kontingente hat sich die Sicherheitslage in ganz Mali kontinuierlich und deutlich verschlechtert. Das malische Militär, das zwischenzeitlich fast vollständig Lehrgänge im Rahmen der EUTM durchlaufen hatte, putschte zwei Mal zwischen August 2020 und Mai 2021. Nach dem zweiten Putsch verweigerte die französische Regierung dem Putschregime die Anerkennung und ihre Anti-Terror-Mission Barkhane stellte die Zusammenarbeit mit dem malischen Militär ein – befindet sich aber weiter vor Ort und jagt vermeintliche Terroristen. Im Januar 2021 hatte Barkhane dabei laut Darstellung der MINUSMA versehentlich eine Hochzeitsgesellschaft bombardiert – mit 19 zivilen Opfern. Mittlerweile hat Frankreich angekündigt, sein Engagement bei der Bekämpfung des Terrorismus zurückzufahren, um es verstärkt an die EU zu delegieren. Mit der Bundesregierung, die ihr „Engagement“ in Mali bislang primär mit der „Solidarität mit Frankreich“ begründet hatte, war diese Ankündigung offenbar nicht abgesprochen und sie blieb von deutscher und europäischer Seite auch weitgehend unkommentiert. Ebenso wie die Bombardierung von Zivilisten und die von Frankreich akzeptierte Machtübernahme einer Militärjunta im Tschad im April 2021. Tschad ist nicht nur der wichtigste Partner der französischen Truppen vor Ort: Im Mai 2020 wurde auch die EU-Ausbildungsmission in Mali auf die Angehörigen u.a. des tschadischen Militärs ausgedehnt.
Von Anfang an gab es nicht nur von internationalen Denkfabriken wie der International Crisis Group (ICG) deutliche, sondern auch von regierungsnahen Thinktanks wie der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) verhaltene Kritik am (fehlenden) und auf die Aufrüstung der Region fokussierten Gesamtansatz des deutschen und europäischen „Krisenmanagements“ im Sahel. Diese wurde zuletzt immer deutlicher. Im Februar 2021 veröffentlichte die SWP eine Studie von Wolfram Lacher, in der bereits in der Zusammenfassung von „erfolglose[n] oder sogar kontraproduktive[n] Strategien Deutschlands und Frankreichs“ in Mali die Rede ist. Dort heißt es außerdem, dass zumindest „Frankreichs Politik oftmals nachweislich zur weiteren Destabilisierung beigetragen“ habe.
Nachdem am frühen Morgen des 25. Juni 180km nördlich von Gao zwölf Angehörige der Bundeswehr zum Teil schwer verletzt wurden, zeigte sich auch Markus Kaim von der SWP „sehr skeptisch, was die Mission in Mali betreffe“ – so die Zusammenfassung des Deutschlandfunks. Wörtlich sagte er am Tag nach dem Anschlag im Interview u.a., dass „die Legitimität des Partners vor Ort, der malischen Regierung, … de facto gar nicht mehr gegeben [ist]. Von daher bin ich sehr zurückhaltend, was den weiteren Einsatz betrifft“. Zwei Tage später antwortete die deutsche Verteidigungsministerin, ebenfalls im Deutschlandfunk, auf die Frage, ob man „diesen Einsatz grundsätzlich noch einmal auf den Prüfstand“ stellen sollte: „Nein, wir sind vor Ort, und alle unsere Soldaten, aber auch die Vertreter des Auswärtigen Amtes sagen noch einmal ganz deutlich, unsere Präsenz, unsere Arbeit dort ist wichtig für diesen Versöhnungsprozess, der läuft auch weiter.“ Welchen „Versöhnungsprozess“ sie angesichts der zunehmend zerrütteten Verhältnisse in Mali meint, bleibt dabei offen. Trotzdem betont sie, „dass dieser Einsatz nach wie vor Sinn macht“. Denn „Es kann nicht im europäischen, auch nicht im deutschen Interesse sein, dass wir in der Sahelzone eine Region haben, die komplett instabil wird und die komplett Terroristen und kriminellen Gruppen anheimfällt“. Genau diese Tendenz zeichnet sich jedoch seit Jahren zumindest trotz, vielleicht aber auch aufgrund des „kontraproduktiven“ Krisenmanagements durch Deutschland, Frankreich und die EU ab. Und bereits seit Jahren wird das nicht nur (Kramp-Karrenbauers obiges Zitat genau genommen Lügen strafend) in wachsenden Teilen der Bundeswehr, sondern auch in den Kreisen der politischen Berater*innen so wahrgenommen. Dessen ungeachtet hält die Bundesregierung an ihrem militärischen Ansatz fest und erhält für die tendenziell wachsende Präsenz der Bundeswehr vor Ort immer wieder Zustimmung aus dem Bundestag.
Letztlich scheint dies primär mit Desinteresse begründbar. Die Debatten im Bundestag zu den Mandatsverlängerungen sind v.a. bei den zustimmenden Parteien von Floskeln und Ignoranz geprägt. Die angesprochene Bombardierung von Zivilisten (offenbar alle männlich) im Januar durch französische Truppen – mit denen sich die Bundeswehr vor Ort Informationen, Essen und medizinische Betreuung teilt – fand in Deutschland kaum Aufmerksamkeit. Auch hinsichtlich der offenen und anhaltenden Kooperation mit Putschregierungen – gerade im besonders sensiblen Bereich der unmittelbaren militärischen Ausbildung und kostenlosen „Ertüchtigungshilfe“ der lokalen Militärs – wird im Sahel mit deutlich anderen Maßstäben gemessen, als wenn es um das Handeln anderer Akteure in anderen Weltgegenden geht. Auch die von der Bundesregierung im April diesen Jahres (inmitten von Putschen und Eskalationen vor Ort) an die Parlamentarier*innen verschickte, neue „Strategische Ausrichtung des Sahel-Engagements“ sorgte für keine neuen Diskussionen unter den Adressaten. Dabei wären dabei mindestens zwei Tatsachen bemerkenswert gewesen: Erstens hätte das Dokument inhaltlich ebenso zehn Jahre alt sein können und ging nicht im geringsten auf die aktuellen Entwicklungen ein. Zweitens wird darin die Sahel-Region offiziell zum „geostrategischen Vorfeld Europas“ erklärt. Vor zehn Jahren war noch eher hinter vorgehaltener Hand von einem „Hinterhof“ die Rede gewesen. Dazu passt eigentlich ganz gut, dass in ganz Europa niemand – zumindest niemand mit nennenswerter öffentlicher Resonanz – die Frage nach der völkerrechtlichen Legitimität der französischen Anti-Terror-Operation Barkhane, ihrem europäischen Pendant Takuba und der EU-Ausbildungsmission EUTM zu stellen scheint.
Das Desinteresse bzw. die Wahrnehmungsblockade ist jedoch nicht auf die Politik beschränkt, sondern betrifft v.a. auch die Medien. Natürlich waren zwölf deutsche Verwundete, darunter drei Schwerverletzte, hierzulande erstmal eine Schlagzeile wert – die jedoch schnell von einem Amoklauf in Würzburg verdrängt wurde, welcher reflexartige Diskussionen zum Thema Migration animierte. Auch in den folgenden Tagen berichteten die Leitmedien brav über die neuesten Informationshäppchen, die ihnen das Bundesverteidigungsministerium hinwarf. Diese begrenzten sich weitgehend auf den Transport der Verwundeten nach Deutschland und ihre anschließende Verlegung in Bundeswehr-Krankenhäuser. Da konnte man fast live dabei sein. Das erscheint auf eine Art nachvollziehbar und selbstverständlich, überdeckt aber – man könnte vermuten: absichtlich – letztlich wichtigere Fragen. So hatte z.B. die MINUSAM ursprünglich berichtet, dass die deutschen Einheiten einen Konvoi des malischen Militärs begleitet hätten, um ihn zu schützen. Dieser Umstand – obgleich vermutlich zutreffend – wird vom BMVg und den Medien bislang fast vollständig ausgeblendet und tw. verleugnet. Hier ist stattdessen immer wieder von einer Aufklärungsmission bzw. Patrouille die Rede. Ähnlich war es bereist beim Absturz eines deutschen Kampfhubschraubers im Juli 2017 gewesen, bei dem beide Piloten umgekommen waren. Hier hatte das BMVg beharrlich von einem „Routineeinsatz“ gesprochen, während die UN eine Verbindung mit Gefechten am Boden (die beobachtet werden sollten) nahelegten. In beiden Fällen kann beides zugleich richtig sein. Auch damals beschränkte sich die öffentliche Diskussion (wie nun beim Verwundetentransport) schnell auf rein technische Aspekte – ohne Auftrag und konkrete Tätigkeiten der Bundeswehr in Mali einzubeziehen.
Ein weiterer völlig ungeklärter Aspekt besteht darin, dass die Deutschen offenbar in einer temporären Basis angegriffen wurden, wo sie – vermutlich mit den malischen Kräften – die Nacht verbracht hatten. Warum diese Basis genau dort errichtet wurde, wo bereits kurz zuvor Anschläge auf internationale Kräfte verübt wurden, bleibt in Rätsel. Seltsam auch, wie es einem mit Sprengstoff beladenen Fahrzeug gelingen konnte, nahe genug an eine entsprechend gut gesicherte Basis heranzukommen, um derart viel Schaden anzurichten; und dass dabei nach hiesiger Rezeption ausschließlich deutsche Kräfte und ein belgischer Soldat verwundet wurden. Die MINUSMA hatte anfangs von 15 Verwundeten gesprochen. Waren darunter auch malische Kräfte, die hierzulande schlichtweg keiner Erwähnung wert sind? Auch die Frage, wer sich zu dem Anschlag bekannt hat oder dahinter stecken könnte, wird in der deutschen Medienlandschaft kaum erörtert.
Das liegt auch daran, dass sich die deutschen Medien kaum eigene Expertise und Quellen in Bezug auf Mali und die Sahel-Region aufgebaut haben. Das ist bemerkenswert angesichts der Tatsache, dass die Bundeswehr bereits seit 2013 (offiziell und mandatiert) vor Ort ist und die Lage seit dem immer weiter eskaliert. Selbst die Rezeption der etwas intensiver berichtenden französischen oder afrikanischer Medien scheint aus der Mode gekommen zu sein. Die erkennbaren Bemühungen, temporär diese strukturellen Defizite zu überwinden, bestätigen sie grundsätzlich. „Expertise“ wird bei den üblichen Verdächtigen eingeholt: eben der SWP und dem Leiter des Büros der Konrad-Adenauer-Stiftung im Sahel mit Sitz in Bamako, Thomas Schiller, der in den vergangenen Tagen offenbar einige Interviews gegeben hat. Aussagen von Expert*innen aus Frankreich oder gar der Sahel-Region selbst sind fast so selten, wie Berichte von Anwohner*innen oder Augenzeugen vor Ort. Das kommt einem schon fast normal vor. Bedenkt man allerdings, wie schnell z.B. in Syrien unter vergleichbar schwierigen Bedingungen immer wieder entsprechende Aussagen und Aufnahmen zur Hand waren, ist das doch bemerkenswert.
Zuletzt lassen sich die Wahrnehmungsblockade oder journalistischen Defizite jedoch auch abseits der fehlenden Informationskanäle in die Region feststellen. Grundsätzlich sollte es z.B. möglich sein, Informationen über Art und Grad der Verletzungen, über die Einheiten und Stationierungsorte der Betroffenen investigativ zu ermitteln. Natürlich steht so etwas in einem Spannungsverhältnis mit der von Qualitätsmedien eingeforderten Pietät bzw. Ethik. Allerdings sucht man diese Pietät in vielen Medien bei anderen Themen vergeblich und lassen sich Informationen zu den Verwundeten, die über die Stellungnahmen der Regierung herausgehen, auch pietätvoll ermitteln und darstellen – zumindest könnte man das vom Qualitätsjournalismus erwarten. Das gleich gilt für Spekulationen, denen sich die deutsche Medienlandschaft im Bezug auf den – mutmaßlichen – Anschlag in Mali, anders als beim Amoklauf von Würzburg, gerne enthalten. Und so kommt es, dass ausgiebiger über die Motive eines – ebenfalls mutmaßlichen – Einzeltäters diskutiert wird, als über ein unfassbares Debakel der deutschen und europäischen Außenpolitik. Und so kommt es, dass sich dieses vermutlich fortsetzen wird.