IMI-Standpunkt 2021/009

„Narretei des Krieges“ – „Oase der Ehrlichkeit“

Münchner Sicherheitskonferenz gegen Russland, China und für mehr Militäreinsätze

von: Jürgen Wagner | Veröffentlicht am: 20. Februar 2021

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Die Pandemie und ihre Auswirkungen war, wie nicht anders zu erwarten, ein prägendes Thema der diesjährigen – umständehalber online und in abgespeckter Form abgehaltenen – Münchner Sicherheitskonferenz (MSC). Auf dem wohl wichtigsten Treffen der westlichen „sicherheitspolitischen Gemeinschaft“ wurde, wie nicht unüblich bei dieser Veranstaltung, auch diesmal kräftig die transatlantische Einigkeit beschworen – in diesem Jahr, nach der Abwahl Donald Trumps und dem Auftritt des neuen US-Präsidenten Joseph Biden, geschah dies allerdings mit besonderer Inbrunst. Gleichzeitig wurde noch einmal deutlicher als in den Jahren zuvor die „Systemkonkurrenz“ zwischen USA und EU auf der einen und China sowie Russland auf der anderen Seite hervorgehoben, für die es sich zu rüsten gelte. Bekräftigt wurden zu allem Überfluss auch noch die kurz zuvor beim Treffen der NATO-Verteidigungsminister getroffenen Entscheidungen, den eigentlich für April vorgesehenen Truppenabzug aus Afghanistan bis auf Weiteres auf Eis zu legen und die Zahl der NATO-SoldatInnen im Irak massiv zu erhöhen. Als neuer Vorschlag kam dann auch noch Angela Merkels Idee daher, einen „robusten“ UN-Einsatz in der Sahelzone auf den Weg zu bringen.

Wenn auch häufig etwas verklausuliert, bestätigten die meisten RednerInnen damit den von CSU-Chef Markus Söder in seiner Begrüßung beschriebenen Markenkern der Veranstaltung, sie sei eine „Oase der Ehrlichkeit“, indem dort den einmal mehr couragiert vorgetragenen Forderungen von UN-Generalsekretär António Guterres, der „Narretei des Krieges“ abzuschwören, eine klare Absage erteilt wurde.

Rufer im Walde

Den Auftakt der MSC bestritt UN-Generalsekretär António Guterres, der allen, die es hören wollten, einmal mehr eine Menge sinnvoller Vorschläge mit auf den Weg gab. Vehement mahnte er einen solidarischen Umgang bei der Bewältigung der Pandemie an, was interessanterweise auch in relativ vernünftiger Weise im MSC-Begleitbericht „Polypandemie“ gefordert wurde. Darin wurde wenige Tage vor Beginn der Sicherheitskonferenz geschrieben: „Die gesamte Finanzierungslücke für die Pandemiebekämpfung in Afrika wird für jedes der nächsten drei Jahre auf 100 Milliarden US-Dollar geschätzt. Die Debatte unter den wohlhabenden Ländern, wie diese Lücke zu schließen ist, sollte zum frühestmöglichen Zeitpunkt beginnen – und europäische Regierungen sollten diese Diskussion vorantreiben. In der Zwischenzeit muss Europa sicherstellen, dass Entwicklungszusammenarbeit und humanitäre Hilfe nicht dem Rotstift zum Opfer fallen – auch und vor allem angesichts des wachsenden Drucks auf die Staatshaushalte.“

Auch diverse RednerInnen griffen dieses Thema auf der MSC auf – allerdings auch gerne garniert mit dem Seitenhieb, wenn der Westen hier nicht aktiv werde, eröffne dies nur China und Russland weitere Möglichkeiten sich unbotmäßig in westlichen Einflusssphären breit zu machen. Was außerdem vermieden wurde war die Frage, woher die Gelder für die Pandemiebekämpfung stammen sollen. Wenn man den Reden auf der Sicherheitskonferenz lauschte, konnte man jedenfalls über eines sicher sein: nicht aus den Verteidigungsbudgets.  

Stattdessen stellte sich US-Präsident Joseph Biden hin und forderte in voller Kontinuität zu seinem Vorgänger größere Rüstungsanstrengungen von den Verbündeten und Kanzlerin Angela Merkel freute sich in Richtung Übersee vermelden zu können, dass Deutschland in Sachen Erhöhung des Militärhaushaltes voll auf Kurs sei: „Ich kann heute sagen, dass wir in diesem Jahr bei 1,5 Prozent angekommen sind, nachdem wir 2014 1,1 Prozent Verteidigungsausgaben hatten. Wir fühlen uns dem 2-Prozent-Ziel natürlich weiterhin verpflichtet und werden auch weiter daran arbeiten.“

In Zahlen referierte Merkel damit die Entwicklung des deutschen Militärbudgets, das in den letzten Jahren nach NATO-Kriterien von 35 Mrd. Euro (2015) auf 53 Mrd. Euro (2021) kometenhaft angestiegen ist. Gleiches gilt für die NATO als Ganzes, deren Mitglieder 2015 „nur“ 895 Mrd. Dollar für ihr Militär ausgaben, während es 2020 schon 1092 Mrd. Dollar waren. Die Frage, woher die Gelder für die Pandemiebekämpfung (und andere sinnvolle Dinge) kommen sollten, wäre somit recht einfach zu beantworten gewesen – doch darüber verlor auf der Sicherheitskonferenz niemand ein Wort.

Auch andere Impulse von Guterres wurden geflissentlich ignoriert: Schon im März letzten Jahres ergriff er die Initiative, um alle Länder gerade im Zeichen der Pandemie zu einem „Globalen Waffenstillstand“ aufzufordern. In seiner damaligen Rede Die Raserei des Virus offenbart die Narretei des Krieges“ forderte er einen „unverzüglichen, globalen Waffenstillstand in allen Ecken der Welt“. Dabei appellierte er an sämtliche Konfliktparteien: „Ziehen sie sich von allen Kampfhandlungen zurück. Verabschieden sie sich von Misstrauen und Feindseligkeiten. Bringen sie die Gewehre zum Schweigen, Stoppen sie die Artillerie, beenden sie die Luftschläge“.

Diesen Appel wiederholte Guterres auch auf der Münchner Sicherheitskonferenz, den die NATO-Verteidigungsminister aber bereits kurz zuvor auf ihrer Tagung mit Entscheidungen zur Ausweitung bzw. Beibehaltung der Einsätze im Irak und Afghanistan in den Wind schlugen. Und leider genauso wenig Resonanz erfuhren Guterres‘ Warnungen in seiner MSC-Rede vor einem wachsenden „militärischen und geostrategischen Riss“ wie auch sein Plädoyer „geopolitische Spannungen abzubauen“.

Der Neue Kalte Krieg

Der mit großem Brimborium angekündigte erste große Auslandsauftritt des neuen US-Präsidenten Joseph Biden hatte viel von einem Déjà-vu. Wie schon Barack Obama als Nachfolger des in Europa zumeist nicht eben beliebten George W. Bush trat auch Biden als derjenige auf, der nach den dunklen Jahren der transatlantischen Zerwürfnisse unter Donald Trump nun wieder zum freundschaftlichen Schulterschluss bereit sei.

Und tatsächlich, dass Biden ankündigte, die USA würden versuchen, das Atomabkommen mit dem Iran wiederzubeleben, ist sicher ebenso zu begrüßen wie der – öffentlichkeitswirksam am selben Tag wie die MSC selbst offiziell vollzogene – Wiederbeitritt der USA zum Pariser Klimaabkommen. Abseits dessen sieht es aus friedenspolitischer Sicht aber eher düster aus, sowohl was Bidens Positionierung als Hardliner in Sachen China und Russland anbelangt als auch mit Blick auf die ersten Entscheidungen bezüglich diverser Militäreinätze und Stationierungen.

Wie bereits angedeutet, hatte sich Biden schon seit einiger Zeit als Hardliner in Sachen China und Russland positioniert. Und auch auf der Sicherheitskonferenz blieb der neue US-Präsident diesem Ruf treu. Man sei an einem „Scheidepunkt“ und befinde sich in einem „langfristigen Wettbewerb mit China“, der „intensiv werden“ könne. Aber: „ich glaube an das globale System, das die USA und ihre Bündnispartner aufgebaut haben.“

Gleich im Anschluss griff Kanzlerin Merkel diesen Ball in ihrer Rede bereitwillig auf, China sei ein „systemischer Wettbewerber“, der an „globaler Schlagkraft“ gewinne. Dies bedürfe eines transatlantischen Schulterschlusses, da hier die größten Übereinstimmungen seien, das zu schützen, was seit einigen Jahren gerne als „Regelbasierte Ordnung“ bezeichnet wird: „Aber vom Grundansatz, von der Wertebasis, von der Überzeugung, von der Demokratie und ihrer Handlungsfähigkeit her haben wir ein breites, gutes, gemeinsames Fundament. Wir müssen zeigen, dass wir Länder nicht in Abhängigkeiten bringen wollen, sondern dass wir Länder von unserer Art zu leben und von unserer Art Politik zu machen überzeugen wollen.“

Die Sache mit den Regeln

Anknüpfend an die Reden Bidens und Merkels wusste dann auch noch NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg in seiner Rede zu verkünden, der Westen müsse die „Regelbasierte Ordnung verteidigen“, da „China und Russland versuchen, die Regeln neu und umzuschreiben, um ihren Interessen zu dienen.“ Nun ist es wirklich nicht zwingend erforderlich, China und Russland jeglicher militärisch-machtpolitischer Ambitionen freizusprechen. Dass aber der Westen – freundlich formuliert – maßgeblich zu dem beigetragen hat, was heute als militärisch aufgeladene neue Großmachtkonkurrenz bezeichnet wird, steht ebenso außer Frage. Stattdessen wird aber nur allzu gerne ohne einen Hauch der Selbstkritik auf die „Systemrivalen“ verwiesen, die einen regelrecht zwingen würden, trotz allem Widerwillen aufrüsten zu müssen. Der Versuch, sich in die Sichtweise des „Gegners“ zu versetzen, spielt leider inzwischen überhaupt keine Rolle mehr. Ein „schönes“ Beispiel hierfür ist das „Positionspapier: Gedanken zur Bundeswehr der Zukunft“, das Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer und Bundeswehr-Generalinspekteur Eberhard Zorn am 9. Februar 2021 veröffentlichten: „Wir selbst denken nicht in den Kategorien von Machtpolitik und Dominanz, doch andere tun es und handeln danach. […] China ist von einer aufstrebenden Volkswirtschaft zu einem machtvollen und immer häufiger sichtbar ausgreifenden Akteur geworden. […] Russland definiert sich als Gegenmacht zum Westen. Immer deutlicher hat Moskau seine militärischen und politischen Drohungen in jüngster Zeit verschärft und internationale 2 Verträge wissentlich verletzt. Russland wendete in den vergangenen Jahren in seiner Nachbarschaft militärische Gewalt an und rüstet massiv konventionell und nuklear auf. […] Wir setzen uns konsequent für die regelbasierte internationale Ordnung ein, in NATO und EU und Kooperation mit unseren Verbündeten und Wertepartnern weltweit.“

Wenn die Münchner Sicherheitskonferenz vor diesem Hintergrund überhaupt je irgendeinen ­Nutzen hatte, dann bestand er darin, dass in früheren Jahren stets auch die ein oder andere vereinzelte Stimme aus Russland oder China zu Wort kam, um deren Sichtweise wenigstens in Ansätzen Gehör zu verschaffen. Über diese Einladungen wurde vormals wenigstens eine gewisse Dialogbereitschaft signalisiert – nicht so aber bei der diesjährigen Veranstaltung.

Hätte man zum Beispiel jemanden wie Sergey Karaganov, der als einer der engsten Berater des russischen Präsidenten gilt, zu Wort kommen lassen, hätte man eine gänzlich andere Sichtweise über die vielbejubelte Regelbasierte Ordnung erhalten können: „Die Krise von 2008 hatte neben anderen Dingen gezeigt, dass das westliche Wirtschaftsmodell nicht in der Lage ist, mit fairer Konkurrenz umzugehen, wenn es nicht durch militärische Vorherrschaft abgesichert ist. Von der liberalen Handels- und Wirtschaftsordnung profitierten vornehmlich diejenigen, die ihre Regeln auf Grundlage ihrer militärischen und maritimen Überlegenheit entworfen haben, zuerst das Vereinigte Königreich, dann die Vereinigten Staaten. Ihre überlegenen Waffen und Kriegsschiffe machten es neben einer effizienten militärischen Organisation möglich, Kolonien auszuplündern und Handelsregeln zu diktieren. Das plastischste Beispiel hierfür ist die Reihe von Kriegen im 19. Jahrhundert, die China zwangen, sich am Opiumhandel mit Britisch Indien zu beteiligen, der sich für Großbritannien als überaus erfolgreich erwies, aber große Teile der chinesischen Gesellschaft vergiftete und ihren Ruin beschleunigte.“

Flucht nach vorne: Ausbau der Kriegseinsätze

Auch wenn der transatlantische Schulterschluss gegen China und Russland bei der Münchner Sicherheitskonferenz dominierte, wurden auch einige kurz zuvor gefällte Beschlüsse bestätigt. Dazu gehört einmal den eigentlich für April 2021 beschlossenen Truppenabzug aus Afghanistan auf Eis zu legen. Als Grund dient der Verweis auf die schwierige Sicherheitslage, woran die westliche Truppenpräsenz allerdings nicht ganz unschuldig sein dürfte – dass Deutschland im Übrigen trotz dieses Befundes weiter Menschen nach Afghanistan abschiebt, ist ein Skandal, von dem leider kaum Notiz genommen wird. Außerdem wurde beschlossen, das NATO-Kontingent im Irak von derzeit 500 SoldatInnen auf bis zu 4.000 deutlich vergrößert, was auf der MSC ebenfalls die ungeteilte Zustimmung der westlichen Staats- und Regierungschefs fand, während US-Präsident Joseph Biden gleichzeitig ankündigte, den geplanten US-Truppenabzug aus Deutschland wieder einzukassieren.

Und schließlich brachte Kanzlerin Angela Merkel noch einen „robusten“ UN-Einsatz in der Sahel-Zone ins Spiel, wo die letzten Wochen, Monate und Jahre eigentlich einmal mehr hätten zeigen sollen, dass das Militär hier kein Teil der Lösung, sondern des Problems ist: „Wir unterstützen auch die G5-Sahel-Initiative, und ich würde mich dafür einsetzen, mit den Vereinigten Staaten von Amerika jetzt noch einmal darüber zu sprechen, ob wir diesen Ländern im Kampf gegen den Terrorismus nicht dadurch helfen sollten, dass wir gemeinsam ein Kapitel-VII-Mandat der Vereinten Nationen beschließen; denn das würde diesen Ländern noch einmal sehr viel mehr Unterstützung und Hilfe im Zusammenhang mit ihrem wirklich schwierigen Kampf gegen den islamistischen Terrorismus geben.“