Quelle: Informationsstelle Militarisierung (IMI) e.V. - www.imi-online.de

Dokumentationen - diverse -

Repression im Cyber Valley

(25.11.2020)

Heute fand ein erster Prozess gegen die Menschen statt, die vor einem Jahr im Tübinger Gemeinderat gegen das Amazon-Entwicklungszentrum im Cyber Valley protestiert hatten. Betroffen war ein IMI-Beirat und -Autor. Wir dokumentieren hier Beiträge der Berichterstattung aus dem Prozess und von der Solidaritäts-Kundgebung.

Abschlusstatement des angeklagten Aktivisten: Prozesserklärung – Hausfriedensbruch – 25.11.20

Unabhängig davon, was mir vorgeworfen wird, am 14.11.2019 getan zu haben, möchte ich zu den in besagtem Gemeinderat verhandelten Inhalten Stellung nehmen.

Es ging um die Ansiedlung eines KI-Forschungszentrums des Amazon-Konzerns in Tübingen.

In der vorhergegangenen Debatte wurde aus der Tübinger Bürgerschaft Kritik laut, das geplante KI-Forschungscluster Cyber Valley könne auch der Erforschung von militärisch relevanten KI-Anwendungen dienen. Diese Kritik wurde immer wieder als unbegründet, teils sogar als Verschwörungstheorie, abgetan.

Mittlerweile ist öffentlich bekannt, dass am Cyber Valley beteiligte Forscher*innen mit der Forschungsagentur der US-Geheimdienste IARPA, der auch US-Militärgeheimdienste angehören, kooperiert haben. Der Amazon-Konzern selbst nimmt gern Aufträge des US-Militärs in den Bereichen KI und Cloud-Computing an. Zudem hat der japanische IT-Konzern NEC, der ebenfalls im Überwachungs- und Militärsektor tätig ist, sein Interesse bekunde, sich am Cyber Valley zu beteiligen.

Die deutsche Bundeswehr sagt zu ihrer Ambition im Bereich der Kriegführung mittels Künstlicher Intelligenz: “KI ist eine Hochtechnologie, die erhebliche Expertise und Entwicklungsaufwand erfordert, um zu leistungsstarken und einsatztauglichen Lösungen zu gelangen. Hierbei ist die Nutzung von Dual-use Produkten und Anwendungen sowie neusten zivilen Forschungsergebnissen der Schlüssel zur Schaffung von bezahlbaren und konkurenzfähigen Lösungen.”

Eben diese Dual-use-Anwendungen Künstlicher Intelligenz werden hier im Cyber Valley in Tübingen auch mit Hilfe des Amazon-Konzerns entwickelt.

Alle am Cyber Valley und dessen Entstehung beteiligten müssen sich eben diese Kritik gefallen lassen.

Das Schwäbische Tagblatt berichtete um 14:43:

Das Bündnis gegen das Cyber Valley hatte für den heutigen Mittag zu einer Kundgebung vor dem Gericht aufgerufen. Rund 80 Menschen waren diesem Aufruf gefolgt, sie trugen etwa Plakate mit den Aufschriften „Freispruch!“ oder „Wissenschaft für alle Menschen. Nicht aber für die Industrie, Überwachung und Krieg“ herum. Damit wollten sie ihre Solidarität bekunden, da sie die Strafbefehle als „Nachtreten“ werten.

Ein Redebeitrag des „Bündnis gegen das Cyber Valley“ begann mit der Zitation eines Leserbriefes, der kurz zuvor erschienen war:

Leserbrief von Ralph Barta. Das Schwäbische Tagblatt hatte zurvor berichtet: „Das Tübingen KI-Konsortium Cyber Valley arbeitet künftig mit den NEC Laboratories Europe zusammen, einem weiteren führenden Akteur auf dem Gebiet der Künstlichen Intelligenz (20. November)“:

War doch klar, dass sich immer mehr Rüstungsproduzenten auf dem Zauberbuckel (cyber hill) tummeln, nachdem eine hieb- und stichfeste Zivilklausel für unseren Stadtrat ein zu heißes Eisen war. Der japanische Konzern NEC wird vom schwedischen Rüstungsforschungsinstitut SIPRI unter den oberen Hundert der relevanten Unternehmen gelistet.

Militärs sind scharf auf KI, weil Algorithmen komplexe Sachverhalte soweit simplifizieren, dass Berechenbarkeit entsteht. Ethik, Moral und Gewissen bleiben als Kollateralschäden auf der Strecke. Denn: Nicht alle Soldaten sind Mörder! Vorteilhaft sind Maschinen. Sie sind weitgehend vor allem dumm und gnadenlos, erleben absolut nichts, erst recht kein Trauma.

Bitte sehr, ich erwarte mehr kritischen Journalismus und Skepsis im Stadtrat; oder ist, Pardon: mir ist schon bewusst, dass solcher Sarkasmus in Coronazeiten völlig daneben sei, den Zauberlehrlingen die Maske zu weit nach oben gerutscht?

Der Redebeitrag des „Bündnis gegen das Cyber Valley“ begann mit der Zitation dieses Leserbriefes und schloss daran an:

Liebe Freundinnen und Freunde,

Ralph Barta hat das kommen sehen. Wir haben das kommen sehen. Die Linke Gemeinderatsfraktion hat das kommen sehen und jede Menge anderer hat das kommen sehen. Nur unsere „besten Köpfe“, die beteiligten Wissenschaftler*innen und ihre Kommunikationsmanager*innen, der Rektor der Universität und der Redaktionsleiter des Tagblatts – die haben es nicht kommen sehen. Oder sie haben es nicht kommen sehen wollen. Sie haben es nicht nur nicht kommen sehen wollen, sie haben es geleugnet, als Hirngespinst, als Verschwörungstheorie abgetan. Viele im Gemeinderat haben ihnen geglaubt oder vielmehr nachgeplappert. Alle waren sie plötzlich Expert*innen, die uns zu erklären versuchten, dass Künstliche Intelligenz die Zukunft, die einzige Zukunft und nicht nur die einzige sondern auch die wünschenswerteste Zukunft für Tübingen, Deutschland und Europa sei. Und sie haben gleich unter Beweis gestellt, wie intelligent sie selbst sind und ein Grundstück in bester Lage, im ansonsten fast ausverkauften, angeblich weltweit strahlenden und prosperierenden Technologiepark verkauft. Für eine halbe Millionen Euro. Was für eine smarte Stadt. Hier ist man bereit für den Weltmarkt. Mal wieder denkt man, bereit für den Weltmarkt zu sein, wäre irgendwie was tolles. Die Zukunft halt, die einzige Zukunft. Von der alle profitieren. Amazon wollte man haben, weil es die „besten Köpfe“ anziehe. Vielleicht bekommen wir die besten Köpfe in dem, was man maschinelles Lernen nennt. Ich wage es zu bezweifeln. Aber offensichtlich müssen wir erst etwas geben: Unseren Grund und Boden, unsere Stadt, unser Ökosystem, unsere Kontrolle, unsere Selbstverwaltung und unsere Selbsbeherrschung.

Liebe Freundinnen und Freunde

Wir bräuchten Amazon, so wurde uns klar gemacht, als Leuchtturm, um die „besten Köpfe“ anzuziehen. Das hat auch der Redaktionsleiter des Tagblatts gerne wiedergekäut. Die „besten Köpfe fliegen offenbar – vielleicht beseelt von Künstlicher Intelligenz – wie Motten in das Licht. Nun berichtet das selbe Tagblatt, das Cyber Valley zitierend: „Zu den Stärken von NEC gehöre, meldet das Cyber Valley, originäre Forschung im Bereich der KI und deren angewandter Einsatz. Hiesigen Entwicklern biete die Kooperation ‚eine globale Perspektive‘ in KI-Forschung und Biotechnologie“.

Ein Schelm, wer Übles dabei denkt. Globale Konzerne wie Amazon, Bosch und NEC bauen hier Forschungszentren im öffentlich geförderten Forschungscampus und von überall her strömen die „besten Köpfe“. Dass es vielmehr darum geht, die öffentlich geförderte Forschung, ihre Ergebnisse und ihr „Humankapital“ dem Markt auszuliefern und zuzuführen, „eine globale Perspektive“ zu geben, ist mindestens genauso die Wahrheit.

Liebe Freundinnen und Freunde,

Wenn es diese Technologien und das sie begleitende Humankapital schon gibt, ist es mir zumindest ziemlich egal, wohin das geht. Wir werden ohnehin nicht profitieren. Mir ist es egal, ob Bosch und NEC ihre Smart Cities, ihre Kameraüberwachung und KI-gestützte Anomalie-Erkennung zuerst in Tokio, Kabul, Berlin oder Portland umsetzen, ob Amazon seine Gesichtserkennung von Seattle oder Tübingen aus exportiert. Auch das ist Internationalismus. Nationalismus hingegen ist es, wenn man uns erzählt, man müsse diese Technologien hier entwickeln, damit sie irgendwie moralischer würden und mit dieser Mär ein Ökosystem bewirbt, das die schnelle Kommerzialisierung öffentlich geförderter Forschung über Startups, Risikokapital und internationale Großkonzerne zum Ziel hat. Liebe Leute: genau so gibt man die Kontrolle ab – und zwar nicht nur über die Kontrolle von bereits entwickelten Technologien, sondern auch die Kontrolle darüber, was für Technologien wie entwickelt werden, was unsere Zukunft ist und wie wir leben werden.

Liebe Freundinnen und Freunde,

wir haben diese Kontrolle nicht abgegeben als wir gewählt haben. Als wir nicht diese Bundesregierung, diese Landesregierung und auch nicht diesen Bürgermeister gewählt haben. Wir haben sie auch nicht abgegeben, als von der Landesregierung ein handverlesener Ethikbeirat eingerichtet wurde – von dem seither kaum noch die Rede ist. Wir konnten den Gemeinderat nicht überzeugen, gegen Amazon zu stimmen. Aber wir können weiterhin dagegen sein und dagegen unsere Stimme erheben. Dass sie das nun – obwohl sie ihren Beschluss doch durchgesetzt haben – noch kriminalisieren, zeigt, dass sie es ernst meinen. Dass wir heute hier sind zeigt, dass auch wir es weiterhin ernst meinen.

Und es gibt viel zu tun. Mittlerweile wurde bekannt, dass auch die US-Geheimdienste hier in Tübingen mitforschen. Aktuell gibt es einige Aufregung darum, dass in Deutschland gerade das CIA-nahe Investment-Unternehmen In-Q-Tel auf Shoppingtour unterwegs ist und Startups aufkauft, die mit öffentlichen Geldern aufgebaut wurden und für die Geheimdienste relevante Technologien entwickelt haben. Das Unternehmen Atos, das auch hier in der Tübinger Weststadt ein Startup übernommen hat, implementiert die Software Fire Weaver in den Kommunikationssystemen der Bundeswehr. Dieses System „verbessert [laut Herstellerangabe] die menschliche Analyse und Entscheidungsfindung, indem es automatisch und sofort den relevantesten Effektor für jedes Ziel auswählt, unter Berücksichtigung der Einsatzregeln, des Standortes, der Sichtlinie, des aktuellen Munitionsstatus und vieler anderer Parameter“. Dabei kommen „die fortschrittlichen Algorithmen der künstlichen Intelligenz“ zum Einsatz und „verarbeite[n] die Kampfdaten, analysier[en] sie und priorisier[en] die Feuerzuweisung“. Liebe Freundinnen und Freunde, genau darum geht es im Bundeswehr-Thesenpapier „Künstliche Intelligenz in den Landstreitkräften“, aus dem dem Gemeinderat gegen seinen Willen vorgelesen wurde. Die meisten wollten es nicht hören. Sie schrien und manche geiferten fast schon, als die störende Wahrheit von der Polizei aus dem Sitzungssaal entfernt wurde. Manche stellten der willfährigen Presse auch noch private Aufnahmen zur Verfügung, um die Protestierenden danach nochmal richtig an den Pranger zu stellen. An den Pranger gestellt gehören aber diejenigen, die im Namen einer smarten Stadt eine dumme Entscheidung getroffen haben und die Gegenargumente nicht hören wollten. Und das werden wir tun, zumindest solange sie unseren Protest mit Repression und Prozessen überziehen.

Solidarität mit den Angeklagten Protestierenden aus dem Tübinger Gemeinderat.

Gegen die smarte Stadt, Amazon, das Cyber Valley, den digitalen Kapitalismus und seine Vollstrecker.

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