IMI-Standpunkt 2020/040

Atomwaffenverbotsvertrag unterzeichnen – ein Zeichen gegen das atomare Wettrüsten setzen!

Rede zum 75. Hiroshima-Jahrestag in Herrenberg

von: Jürgen Wagner | Veröffentlicht am: 6. August 2020

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Liebe Freundinnen und Freunde,

wir wissen alle, weshalb wir heute hier sind: heute jährt sich der Tag des US-amerikanischen Bombenabwurfes auf die japanische Stadt Hiroshima zum 75mal.

Schon immer steht deshalb der Hiroshima-Tag unter dem Zeichen, dass sich solch eine Katastrophe nie wieder wiederholen darf.

Ich bin sehr froh, dass auch die äußeren Umstände uns nicht abhalten, auch heute hieran zu mahnen!

Denn eine solche Katastrophe ist leider so wahrscheinlich wie schon lange nicht mehr.

Ein Blick auf die berühmt-berüchtigte Weltuntergangsuhr genügt, um zu zeigen, wie heikel die Lage ist.

Im Januar 2020 wurde die Weltuntergangsuhr des Bulletin for the Atomic Scientsts, der Vereinigung US-amerikanischer Atomwissenschaftler, auf 100 Sekunden vor der Katastrophe vorgestellt.

Liebe Freundinnen und Freunde,

das sollte uns sehr zu denken geben: Nicht während der Kuba-Krise, nicht in der Zeit des NATO-Doppelbeschlusses, kurz: zu keinem Zeitpunkt während des gesamten Kalten Krieges wurde die Gefahr eines atomaren Schlagabtausches so bedrohlich eingestuft wie heute!

Ein wichtiger Grund hierfür ist, das Verhalten der US-Regierung seit dem Amtsantritt von Donald Trump: Für sie ist jede vertragliche Vereinbarung im Atomwaffenbereich Teufelszeug, weshalb sie sich auf einen Kreuzzug gegen die Rüstungskontrolle begeben hat.

Wir stehen deshalb derzeit vor einem neuen Wettrüsten, nein wir sind bereits mittendrin in einem neuen Wettrüsten, das jederzeit eskalieren kann!

Und dieses Wettrüsten spielt sich auf allen beiden Ebenen ab: Bei den Strategischen Waffen mit einer Reichweite von über 5.500 Kilometer. Und nicht besser sieht es bei den sogenannten Taktischen Waffen mit geringerer Reichweite aus.

Ich möchte einmal mit den taktischen Waffen anfangen:

Es war ein großer Erfolg, als 1987 die Sowjetunion und die USA den INF-Vertrag unterzeichneten. Von da ab war der Besitz und Bau atomarer landgestützter Kurzstreckenraketen mit einer Reichweite zwischen 500 und 5.500 Kilometern verboten.

Seit einiger Zeit hatten aber die USA und Russland damit begonnen, sich gegenseitig des Vertragsbruchs zu bezichtigen.

Russland bot daraufhin Vor-Ort-Inspektionen an, mit denen hätte geklärt werden können, ob an den US-Anschuldigungen etwa dran war. Doch davon wollte Washington nichts wissen!

Stattdessen stieg die Trump-Regierung letztes Jahr aus dem Vertrag aus.

Liebe Freundinnen und Freunde,

ich weiß nicht, ob Russland nicht doch den Vertrag verletzt hat, wie die USA behaupten.

Ich weiß aber, dass es eine Reihe von Experten gibt, die zu Protokoll geben, eine russische Vertragsverletzung wäre durch Vor-Ort-Inspektionen eindeutig feststellbar gewesen.

Es mag ja sein, dass die Anschuldigungen, Russland würde hier nur tricksen, zutreffen.

Dass aber das russische Angebot, hier alle Zweifel aus dem Weg zu räumen, ausgeschlagen wurde, hinterlässt doch einen sehr faden Beigeschmack.

Das Verhalten erweckt doch ziemlich den Eindruck, als hätte der Vertrag ohnehin auf der Abschussliste gestanden und es sei nur eine Ausrede dafür gesucht worden, sich von ihm zu verabschieden.

Und tatsächlich, nur einen Tag nachdem der INF-Vertrag ins Aus befördert wurde, meldete die FAZ: „Die Vereinigten Staaten streben die baldige Stationierung neuer konventioneller Mittelstreckenraketen in Asien an. Auch für Europa wird solch eine konventionelle Nachrüstung, die in Wahrheit eine Aufrüstung ist, immer wieder ins Spiel gebracht, nun nachdem der INF-Vertrag hier keinen Riegel mehr vorschiebt.“

Liebe Freundinnen und Freunde,

das  alles ist brandgefährlich.

Denn in den USA haben derzeit diejenigen das Sagen, die der irren Vorstellung anhängen, je glaubhafter man mit einem Atomwaffeneinsatz drohen könne, desto unwahrscheinlicher werde er.

Im Juni 2019 fand die geheime Joint-Publication 3-72 ihren Weg ins Internet. Sie belegt, dass die US-Nuklearstrategie im Ernstfall den frühzeitigen Einsatz von Atomwaffen vorsieht.

Also genau das, was Russland vorgeworfen wird, obwohl die russische Nukleardoktrin den Einsatz von Atomwaffen nur für den Fall einer lebensbedrohlichen Situation für den Staat vorsieht.

Auch die NATO hat den frühzeitigen Einsatz von Atomwaffen in ihre Strategieplanung aufgenommen. Im Juni 2020 titelte die FAZ: „Die Nato kann früher mit Atomschlägen drohen“ – und weiter: „Die Allianz zieht Konsequenzen aus der russischen Einsatzdoktrin für Nuklearwaffen. Ihre Mitglieder einigen sich auf ein Konzept, wie es seit den heißesten Zeiten des Kalten Krieges nicht existiert hat.“

Diese atomaren Kriegsplanungen schlagen sich auch in konkreten Rüstungsvorhaben nieder: So wurde 2018 in der neuen Nuclear Posture Review, der US-Nuklearstrategie, die Einführung sogenannter Miniatomwaffen angekündigt.

Ihre Sprengkraft ist skalierbar, wodurch sie aufgrund der geringeren Sprengkraft weniger Kollateralschäden erzeugen und damit „besser“ auf einem Schlachtfeld einsetzbar sein sollen.

Bekanntlich lagern 150 bis 200 der taktischen US-Atomwaffen in Europa – 20 davon in Deutschland, in Büchel.

Über die Codes verfügen nur die USA, im Ernstfall würden die Atomwaffen aber im Rahmen der Nuklearen Teilhabe der NATO von deutschen Piloten mit deutschen Flugzeugen ins Ziel geflogen.

Diese Waffen werden aktuell „modernisiert“ wie es so schön heißt – also aufgerüstet. Sie werden lenkbarer, zielgenauer und durschlagskräftiger gemacht – kurz: sie werden einsatzfähiger gemacht.

Befürworter dieser Nuklearen Teilhabe führen zwei Argumente ins Feld:

1.) Nur über die Lagerung von US-Atomwaffen und die Bereitstellung der Flugzeuge erhalte man sich den Einfluss in der Nuklearen Planungsgruppe der NATO;

2.) Durch die Kontrolle der Atombomber könne ein unerwünschter Einsatz von taktischen Atomwaffen der USA verhindert werden.

Beides stimmt so nicht!

Eine Teilnahme an der Nuklearen Planungsgruppe hängt nicht davon ab, ob US-Atomwaffen in einem Land stationiert sind. Außerdem ist der Einfluss, der darüber auf die US-Nuklearstrategie ausgeübt werden kann, gelinde gesagt begrenzt.

Und was das Argument anbelangt, da es sich bei den Waffen der Nuklearen Teilhabe um die einzigen US-Atomwaffen in Europa handele, habe man hier Mitsprachemöglichkeiten – nun, auch das ist inzwischen buchstäblich Geschichte.

Denn im Februar 2020 wurde gemeldet, das US-U-Boot „USSTennessee“ sei erstmals mit Miniatomwaffen in See gestochen.

Wenn die USA aber flexibel wählen können, ob sie taktische Atomwaffen im Rahmen der Nuklearen Teilhabe oder im Alleingang einsetzen, macht das Ganze noch weniger Sinn als ohnehin bereits.

Der Atomwaffenexperte Otfried Nassauer sagte dazu – Zitat: „Für die NATO und deren System der nuklearen Teilhabe und Konsultationen hat diese Entwicklung wahrscheinlich erhebliche Konsequenzen. Denn die Ausgangslage für europäische Wünsche nach Mitspracherechten beim Einsatz atomarer Waffen in Europa verändert sich grundlegend. […] Die mit der nuklearen Teilhabe verbundene Erwartung der Europäer, man könne ggf. Einfluss nehmen auf einen Ersteinsatz von US-Atomwaffen, dürfte durch die Modernisierung des Nukleararsenals hinfällig werden. Damit wird der geplante Kauf von nuklearfähigen US-Kampfflugzeugen aber zum Selbstbetrug. Er erfüllt seinen eigentlichen Sinn nicht mehr.“

Liebe Freundinnen und Freunde,

wie man es dreht und wendet, für den Verbleib dieser Waffen in Deutschland gibt es kein vernünftiges Argument. Sie sind gefährlich! Sie müssen weg!

Stattdessen will das Verteidigungsministerium Unsummen für neue atomare Trägersysteme ausgeben, die die alternden Tornados ersetzen sollen.

Erst vor wenigen Tagen errechnete eine Studie, dass die 45 F-18, die in diesem Zusammenhang angeschafft werden sollen, zwischen 7,7 Mrd. und 8,8 Mrd. Euro kosten dürften!

Liebe Freundinnen und Freunde,

das sind gruselige Summen, gerade in Coronazeiten, wo doch einmal mehr offensichtlich geworden ist, dass wir Gelder für ganz andere Dinge als das Militär benötigen.

Noch schlimmer sieht es im Bereich der strategischen Atomwaffen mit einer Reichweite von über 5.500km.

Auch hier „modernisieren“ die USA ihr Arsenal – auch hier machen sie es zielgenauer und treffsicherer und durschlagskräftiger.

Die Schätzungen reichen hier von Kosten von 300 Mrd. bis hin zu 1000 Mrd. Euro.

Auch Russland modernisiert seine Atomwaffen und entwickelt neue Hyperschallwaffen.

Das einzige, was uns derzeit noch vor einem neuen Atomaren Wettrüsten bewahrt, ist der New Start Vertrag.

Er legt Obergrenzen für die strategischen Atomwaffen der USA und Russlands fest: 1550 Atomsprengköpfe und maximal 800 Trägersysteme.

Dieser New Start-Vertrag läuft am 5. Februar 2021 aus. Aktuell hat es nicht den Anschein, als würde er verlängert werden.

Beide Seiten haben zudem tausende von Sprengköpfen eingelagert, die ohne Vertrag schnell wieder scharf gemacht werden könnten.

Liebe Freundinnen und Freunde,

die Uhr tickt: es droht uns also die reale Gefahr, dass im Februar der letzte große Vertrag zur Eindämmung eines atomaren Wettrüstens den Gang der Geschichte geht.

Vor diesem Hintergrund sind Äußerungen wie die des Rüstungskontrollbeauftragten der US-Regierung Marshall Billingslea überaus Besorgnis erregend: „Wir wissen, wie man ein Wettrüsten gewinnt und wir wissen, wie man einen Gegner in die Vergessenheit rüstet.“

Und wie reagiert nun Deutschland auf dieses neue atomare Wettrüsten?

Regelrecht gruselig empfinde ich es, wie offen in jüngster Zeit auf die ein oder andere Art und Weise wieder eine deutsche Atombewaffnung gefordert wird.

Da zitierte etwa der Chefkommentator der Welt zustimmend einen Kollegen, der die deutsche Unterzeichnung des Atomaren Nichtverbreitungsvertrages als die „größte Eselei der deutschen Nachkriegsgeschichte“ bezeichnete.

Tatsächlich fordert etwa ein relativ prominenter und medial präsenter Politikwissenschaftler wie Christian Hacke inzwischen ganz direkt eine deutsche Atombewaffnung.

„Putin ist ein erstklassiger Machiavellist, der genau weiß, wie er die russische Stärke wieder aufbaut. […] Das ist alles brandgefährlich. Und dann sind wir in einer Situation, brutal ausgedrückt, realistisch, sind wir Hammer oder sind wir Amboss? Und wir sind als Nicht-Nuklearmacht einfach Amboss. Und wir sind von anderen abhängig und wenn man drüber diskutiert, dann geht es vor allem um unsere eigene, um unsere nationale Sicherheit.“

Andere, nicht zuletzt der Leiter der Münchner Sicherheitskonferenz, Wolfgang Ischinger, propagieren eine Art Europäisierung der französischen Atomwaffen.

Liebe Freundinnen und Freunde,

ich denke unsere Haltung ist klar: Wir wollen keine amerikanischen, wir wollen keine europäischen und schon gar nicht wollen wir deutsche Atomwaffen. Basta!

Gerade mit Blick auf das drohende Ende des New Start-Vertrags sollte Deutschland, sollte Herrenberg nicht untätig herumsitzen.

Deutschland sollte endlich den Atomwaffenverbotsvertrag unterzeichnen, statt ihn weiter zu sabotieren.

Der Vertrag wurde u.a. von der Gruppe ICAN vorangetrieben und es haben ihn bislang über 80 Staaten unterzeichnet.

Das wäre ein großartiges Signal mit einiger Symbolwirkung, indem dem drohenden Ende der russisch-amerikanischen Rüstungskontrolle eine Stärkung der multilateralen Rüstungskontrolle entgegengesetzt würde!

Da sich hier mit unter anderem auch die Nukleare Teilhabe erledigt hätte, wird sich die Bundesregierung so ohne weiteres nicht dem Atomwaffenverbotsvertrag anschließen.

Gerade deshalb ist es wichtig, dass sich mehr und mehr Städte dem ICAN-Städteapell anschließen, mit dem die Bundesregierung genau hierzu aufgefordert wird.

Darin heißt es – Zitat:

„Unsere Stadt/unsere Gemeinde ist zutiefst besorgt über die immense Bedrohung, die Atomwaffen für Städte und Gemeinden auf der ganzen Welt darstellen. Wir sind fest überzeugt, dass unsere Einwohner und Einwohnerinnen das Recht auf ein Leben frei von dieser Bedrohung haben. Jeder Einsatz von Atomwaffen, ob vorsätzlich oder versehentlich, würde katastrophale, weitreichende und lang anhaltende Folgen für Mensch und Umwelt nach sich ziehen. Daher begrüßen wir den von den Vereinten Nationen verabschiedeten Vertrag zum Verbot von Atomwaffen 2017 und fordern die Bundesregierung zu deren Beitritt auf.“

Bislang haben sich 96 Städte und vier Bundesländer dem Apell angeschlossen – Herrenberg fehlt hier noch und vielleicht liefert der heutige Tag ja den Anstoß, das zu ändern.