IMI-Analyse 2020/13 - in: AUSDRUCK (März 2020)
Digitalisierung der Bundeswehr
Weg in die (Tech)Aufrüstungsspirale
von: Martin Kirsch | Veröffentlicht am: 17. März 2020
Dieser Artikel erschien in der März-Ausgabe des IMI-Magazins AUSDRUCK (hier zur PDF-Version des Artikels).
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Seit der Aufstellung eines eigenen Truppenteils für den Cyber- und Informationsraum im Jahr 2017 wird in der Bundeswehr verstärkt über das Thema Digitalisierung geredet. Während die Landstreitkräfte bei diesem Technologiesprung – außer mit vereinzelten Rüstungsprojekten – lange eher im Hintertreffen waren, haben sie sich mit dem Heer an der Spitze in den letzten Jahren zunehmend zur politischen und technischen Triebfeder entwickelt. Ausgehend vom Szenario einer Konfrontation mit einem ebenfalls modern gerüsteten Gegner (Russland) soll sich jedoch nicht nur die Technik der Truppe ändern.In drei Thesenpapieren, die zwischen Herbst 2017 und Frühjahr 2018 im Kommando Heer entstanden, sollen auch die Struktur der Truppe und der gesamte Rüstungsprozess grundlegend neu aufgestellt werden. Neben mehr Geld soll ein besonderes Augenmerk auf ein Rüstungsmodell gelegt werden, das sich an der Softwareentwicklung orientiert und eine schnellere Aufrüstung ermöglichen soll. Dafür fordern die Thesenpapiere auch mehr Kompetenzen für das Militär bei Auswahl, Tests und Kaufentscheidungen für neues Material.
Military Internet – Das Tactical Edge Network
Kern der aktuellen Aufrüstungsbestrebungen der Landstreitkräfte ist es, ein umfassendes Kommunikationsnetzwerk zu errichten, das auch unter Kriegsbedingungen an der Front noch in der Lage ist, digitale Daten- und Sprachverbindungen herzustellen.
Dieses Netzwerk („Military Internet“) ist die digitale Basisinfrastruktur, um perspektivisch rund 25.000 Fahrzeuge und 50.000 Soldat*innen miteinander zu vernetzen und neue Anwendungen wie autonome (Waffen-)Systeme, Künstliche Intelligenz, Big Data, Advanced Analytics oder eine digitale Lagekarte für die Truppe nutzbar zu machen. Ziel ist ein sogenanntes ‚gläsernes Gefechtsfeld‘, das durch überlegene Aufklärung, Geschwindigkeit und in Echtzeit koordinierte Waffenwirkung geprägt ist.
Nach mehrfacher Umbenennung der Vorläuferprojekte wurde im Juni 2019 in Brüssel ein Vertrag zwischen deutschem und niederländischem Verteidigungsministerium unterzeichnet, der den gemeinsamen Aufbau eines „Tactical Edge Network“ (TEN) regelt.[1] Tactical Edge (taktische Kante, sowie taktischer Vorteil) steht dabei für die letzten Kilometer zwischen dem Gefechtsstand im Feld und der unmittelbar umkämpften Front, die mit einem engmaschigen Kommunikations- und Datennetz überzogen werden sollen.
Einen Schritt weiter ist die Bundeswehr bereits damit, die Verwaltung, Logistik und den Grundbetrieb in Deutschland – die sogenannte weiße (nicht-militärische) IT – auf den neuesten Stand zu bringen. Dieses Großprojekt mit dem Namen „Herkules“ wurde von der eigens dafür geschaffenen BWI GmbH umgesetzt. Zwischen 2006 und 2016 wurden deutlich über 7 Mrd. Euro in die Modernisierung aller Computer, Telefone, Netzwerke, Server und Rechenzentren der Bundeswehr in Deutschland gesteckt und ein eigenes Glasfasernetz aufgebaut.[2] Seitdem der Netzaufbau abgeschlossen ist und die Industriepartner Siemens und IBM wieder aus der Tochtergesellschaft des Bundes ausgestiegen sind, mausert sich diese nach eigener Darstellung zu einem „führenden IT-Systemhaus“. Dabei beschränkt sich die BWI mittlerweile nicht mehr auf die weiße IT, für die sie ursprünglich eingerichtet wurde, sondern steigt seit 2018 verstärkt in die unmittelbar militärische (grüne) IT ein. Beispielhaft dafür stehen die Übernahme der Kommunikationsstruktur für den Einsatz der Bundeswehr im Kosovo 2018, die eigenständige Entwicklung von 5G-Anwendungen für die Kampftruppe und der Einstieg in die „Systempflege“ der Führungsinformationssysteme der Bundeswehr – inklusive der deutschen Anteile am „Afghanistan Mission Network“ – seit Januar 2020.[3]
Eine Personalie, die dieses Zusammenwachsen von BWI und der Digitalisierung der Landstreitkräfte verkörpert, ist der ehemalige Dreisternegeneral Frank Leidenberger. In seiner letzten Verwendung bei der Bundeswehr bis Mitte 2018 maßgeblich an der Entwicklung des Projekts „Digitalisierung Landbasierter Operationen“ (D-LBO) beteiligt, ist er mittlerweile Chief Strategy Officer (CSO) und Mitglied der vierköpfigen Geschäftsleitung der BWI GmbH.[4]
General Leidenberger – Von Afghanistan zum „Mister Digitalisierung“
Frank Leidenberger begann seine Karriere in der Bundeswehr in den 1980er Jahren und studierte im Rahmen seiner Offiziersausbildung Wirtschafts- und Organisationswissenschaften an der Bundeswehruni in München. Nach einem Umweg über den Auslandsgeheimdienst BND nahm er leitende Funktionen in nationalen und multinationalen Führungsstäben ein, bevor er 2008 in den Generalsrang befördert wurde. Im Rahmen seiner Bundeswehrkarriere absolvierte er zwischen 1998 und 2016 einen Auslandseinsatz in Bosnien und drei Einsätze in Afghanistan, in denen er jeweils Führungsfunktionen übernahm.[5]
Der wohl wichtigste Einsatz für Leidenberger war seine Verwendung als Kommandeur des deutschen Einsatzkontingents in Afghanistan und Regionalkommandeur Nord der ISAF-Truppenin den Jahren 2009 und 2010. Hier führte Leidenberger monatelange gemeinsame Kampfeinsätze von afghanischer Armee und NATO-Truppen und war an der Umstellung der Bundeswehrmission auf das Paradigma der Aufstandsbekämpfung beteiligt. Hier lernte er den Krieg aus der Nähe kennen.
Ausgehend von diesen Erfahrungen wurde er Teil der sogenannten „Afghanistan-Connection“[6], einem Netzwerk aus rund 30 Afghanistanoffizieren, die sich in den Einsätzen kennengelernt hatten und es sich zur Aufgabe machten, Handlungsfähigkeit vor Vorschriften zu stellen. Geprägt von den Einsatzerfahrungen hielten sich die Beteiligten des Netzwerks nicht nur in Afghanistan, sondern auch bei der Besetzung von Posten in Deutschland gegenseitig den Rücken frei.
Um schnell an gewünschte Waffen und Ausrüstungsgegenstände für die Einsätze zu kommen, nutzte das Netzwerk den sogenannten „Einsatzbedingten Sofortbedarf“.[7] Kleine Mengen an Material, Fahrzeugen und Waffen wurden am regulären Beschaffungsprozess vorbei gekauft, um sie direkt im Einsatz zu testen. Hatten sich diese bewährt, wurde dann mit dem Argument, das Material hätte im Einsatz bereits Leben gerettet, politischer Druck ausgeübt, um die für gut befundene Ausrüstung in größeren Mengen zu beschaffen.
Zwischen den späteren Auslandseinsätzen war Leidenberger auf verschiedenen Posten in Ministerium und Bundeswehrführung mit Aufgaben rund um Transformation und Organisationsentwicklung betraut. Im September 2016, kurz nachdem im Weißbuch der Bundeswehr die Landes- und Bündnisverteidigung neben den Auslandseinsätzen wieder zur strategischen Priorität erklärt wurde, übernahm Leidenberger, mittlerweile im Rang eines Dreisternegenerals, den Posten als Kommandeur der deutschen Anteile der Multinationalen Korps und für die militärische Grundorganisation im Kommando Heer. In dieser Funktion war er für alle Aufgaben vom Grundbetrieb über Beschaffung und Ausbildung, bis zur Landes- und Bündnisverteidigung zuständig, die nicht unmittelbar mit den Auslandseinsätzen zusammenhängen. Auf diesem Posten leitete er eine Arbeitsgruppe zur Zukunft der Landstreitkräfte und zeichnete für drei Thesenpapiere verantwortlich.
Aufgrund der Thesenpapiere und weiterer Aussagen Leidenbergers, die die politische Führung um von der Leyen teils frontal angriffen, zog er sich im Spätsommer 2018, ohne Chancen auf Beförderung und mit drohender Entlassung, aus der Bundeswehr zurück.[8] Bei seiner offiziellen Verabschiedung wurde er vom damaligen Inspekteur des Heeres, Jörg Vollmer, als „Mister Digitalisierung“ der Bundeswehr bezeichnet.[9] Diese Rolle füllt Leidenberger, mittlerweile von seinem neuen Posten als Spitzenmanager bei der BWI, weiter aus.
Thesenpapiere aus dem Heer (I und II) – (Digitaler) Krieg der Zukunft
Zwischen Herbst 2017 und Frühjahr 2018 wurden im Kommando Heer unter der Führung von General Leidenberger drei Thesenpapiere erarbeitet, welche die Zukunft der Landstreitkräfte, deren Entwicklung, Ausrichtung und Digitalisierung in den letzten Jahren geprägt haben und weiterhin prägen.
Das erste der drei Papiere nimmt unter dem Titel „Wie kämpfen Landstreitkräfte künftig?“ „den Kampf gegen einen gleichwertigen Gegner als Grundstein der Überlegungen.“[10] Diesem Gedanken folgend wird ein Feind angenommen, der über Artillerie und Luftwaffe sowie Drohnen und Fähigkeiten zur Cyber- und Informationskriegführung verfügt und dem man auf einem digitalisierten, gläsernen Gefechtsfeld begegnet. Zudem beinhaltet das Papier ein fiktives Szenario „Zielbild Landstreitkräfte 2026+“,[11] das ausgehend von der Alarmierung der Schnellen Eingreiftruppe der NATO (Very High Readiness Joint Task Force, VJTF) unter deutscher Führung ein Kriegsszenario gegen Russland durchspielt. Darin „kommt es nach einer Phase von Desinformation, separatistischen Aktivitäten, lokalen Angriffen von Separatisten und verdeckt operierenden Special Operation Forces zum Angriff der gegnerischen Hauptkräfte.“[12] Eine Schlussfolgerung, die das Papier daraus zieht, ist die Relevanz der sogenannten „Golden Hour“ (goldene Stunde), in der in einer Kombination aus schneller Bewegung auf dem Gefechtsfeld, Cyberangriffen und Informationsoperationen ein entscheidender Angriffsvorteil gegenüber dem Gegner erzielt werden könne.
Um auf diese Bedingungen vorbereitet zu sein, versucht das zweite Thesenpapier bereits im Titel einen Teil der Antwort zu finden – die „Digitalisierung von Landoperationen“.
Dazu heißt es: „Die Digitalisierung wirkt auf allen Ebenen und ist mit der einhergehenden Automatisierung und Autonomisierung einer der Megatrends der Zukunftsentwicklung.“[13] Daher solle „das Heer eine konsequente digitale Vernetzung von LandSK [Streitkräften] und somit die Gestaltung der Digitalisierung der Streitkräfte vorantreiben.“ Leidenberger und sein Team argumentieren, dass digitale Landstreitkräfte „effizienter und effektiver“ agieren und langfristig Geld und Personal sparen würden. Den üblichen Managementsprechblasen, die in Politik und Wirtschaft zum Thema Digitalisierung geprägt werden, wird hier ein weiteres Argument hinzugefügt, das seit langem bei der Einführung neuer Waffensysteme zu hören ist. So wird behauptet, die „Digitalisierung fördert die Präzision“ und erhöhe das „operative Tempo“. Zudem ermögliche die Digitalisierung eine „Just-in-Time Wirkung“[14] – wobei sich hinter dem Begriff der Wirkung die Zerstörung durch Waffenanwendung verbirgt.
Als Herausforderungen der Digitalisierung werden u.a. die „Identifizierung von neuartigen Anwendungsoptionen der Informationstechnologie“, der „Mut zum Bruch mit bewährter Technik“, sowie der „Mut zum Erschließen disruptiver Innovationen“ gesehen. Außerdem sei die „Beherrschbarkeit digitaler Systeme unter Gefechtsstress“ sicherzustellen.[15]
Thesenpapiere aus dem Heer (III) – Rüstungswesen für den digitalisierten Krieg
Das dritte Thesenpapier – „Rüstung digitalisierter Landstreitkräfte“ – wurde auch in den Medien aufgegriffen[16] und kostete Leidenberger vermutlich seine militärische Karriere. An zentraler Stelle erhebt er darin folgenden Vorwurf: „Die Verfahren für Planung, Beschaffung und den Haushaltsvollzug sind regelmäßig zu langsam und gefährden so die äußere Sicherheit Deutschlands.“[17] Unter der Kapitelüberschrift „The Need for Speed!“ werden dann klare politische Forderungen gestellt, wie sich das Heer einen ihm genehmen Rüstungsprozess in Zukunft vorstellt: „Selbst auferlegte und weitgehend auf zivilen Vorgaben beruhende nationale Regelungen verhindern, dass die Landstreitkräfte mit der technologischen Entwicklung Schritt halten. Diese Regelungen und Bestimmungen können und müssen angepasst werden. Sie stehen dem Ziel der konsequenten Erneuerung der Landstreitkräfte entgegen.“[18] Damit wird der Kern der Probleme im zivilen Bereich verortet, der für die digitale Aufrüstung zunehmend unter militärisches Kommando genommen werden soll. Hier schlägt die Arroganz des Einsatzoffiziers Leidenberger voll durch, der gefälligst Beinfreiheit von zivilen Vorgaben und Einflussnahmen verlangt, um die Bundeswehr kriegsfähig machen zu können.
Während sich Zivilist*innen aus der konkreten Beschaffung weitgehend heraushalten sollen, wird der zivilen Forschung und Wirtschaft eine umso höhere Bedeutung zugeschrieben. So habe der Technologiesprung vom ersten internetfähigen Handy zum ersten Smartphone keine zehn Jahre gedauert, während die Bundeswehr in Teilen bis in die 2030er Jahre die letzte Generation der Analogfunktechnik aus den 1980er Jahren nutze – ein Innovationszyklus von über 40 Jahren. Aktuell seien Innovationen aus der zivilen Wirtschaft, wie Big Data, Künstliche Intelligenz und Advanced Analytics von großer Bedeutung: „Ein Großteil dieser Entwicklungen hat militärische Relevanz, sowohl als wachsendes Bedrohungspotenzial auf gegnerischer Seite, wie auch als militärischer Fähigkeitszuwachs eigener Streitkräfte.“[19] Um diese militärischen Potentiale zu realisieren, fordert das dritte Thesenpapier die Umsetzung vier konkreter Vorschläge, die den Rüstungsprozess der deutschen Nachkriegszeit grundlegend umkrempeln sollen, um dem digitalisierten Krieg der Zukunft gerecht zu werden.
Defence Innovation Hub
Ausgangspunkt der Überlegung ist das bereits seit 2017 existierende Cyber Innovation Hub (CIH) der Bundeswehr. Es ist dafür zuständig, in enger Zusammenarbeit mit Startups und Entwickler*innenszene neue Technologien für die Cybertruppe der Bundeswehr zu identifizieren. Folgt man den Plänen des dritten Thesenpapiers, soll diese Funktion auf die gesamte Truppe und damit auch auf die Landstreitkräfte übertragen werden.[20]
Ein künftiges Defence Innovation Hub (DIH) solle permanent einen Blick auf die Entstehung neuer Technologien werfen, um Forschung und Entwicklung auf militärisch wertvolle Ansätze und Ergebnisse zu durchleuchten. Hier sollen einerseits neue Technologien identifiziert werden, die bisher im Militär gar nicht bekannt waren und andererseits Probleme in der militärischen Entwicklung in der Startup- und Entwickler*innenszene bekannt gemacht werden, um deren Ideen anzuregen und sie, wenn brauchbar, für das Militär verwertbar zu machen.
Test- und Versuchsverband 4.0
Während das Defence Inovation Hub proaktiv nach neuen Entwicklungen suchen soll, rückt das nächste Vorhaben näher an den tatsächlichen Beschaffungsprozess der Bundeswehr heran: Mit einer kleinen Anzahl an Waffensystemen, Fahrzeugen, Soldat*innen und Techniker*innen soll mit dem Test- und Versuchsverband eine Truppe geschaffen werden, die in der Lage ist, Gefechtssituationen realitätsnah zu simulieren, um in dieser Umgebung die Brauchbarkeit bereits existierender Produkte für die Truppe zu überprüfen. „In künftigen Test- und Versuchsstrukturen wird idealerweise im Wettbewerb gegeneinander erprobt. Nutzernahe Validierung einerseits und die Vereinfachung möglicher Beschaffungen andererseits sind das Ziel.“[21] Das schnelle, intensive und gleichzeitige Testen mehrerer Optionen erlaube, nach der Logik des Thesenpapiers, auch zehn Systeme für gescheitert zu erklären. Wenn aber das elfte die Anforderungen erfülle, sei das relevante System gefunden. Solange ein hoher Durchsatz und eine gewisse Streuung beim Suchen vorhanden sei, würden gefundene Fehler zum Teil des Auswahlprozesses – ein Test- bzw. Investitionsmuster, das dem Vorgehen von Risikokapitalgebern für Startups sehr nah kommt.
Zudem solle das als Gewinner aus dem Test hervorgegangene Produkt dann ohne weitere große Hürden zeitnah beschafft werden. Ein Prozedere, das Beschaffungsbehörden, Materialprüfung und politisch-administrative Verfahren in den Hintergrund stellt, um auf schnellem Wege das zu beschaffen, was die Truppe für brauchbar hält.
„System Brigade“ im „Spiralmodell“
Um die im DIH oder nach Tests gefundenen Produkte schnell und funktional in die Truppe zu bringen, ist weiterhin vorgesehen, alle Entwicklungsschritte in Netzwerken und Großsystemen zu denken. Während in der bisherigen Projektrüstung ein Wunschzettel für einen neuen Panzer geschrieben wurde, dieser dann an die Industrie ausgeschrieben und z.T. in jahrzehntelanger Entwicklungsarbeit neu konzipiert wurde, um dann über lange Jahre vom Prototyp bis zum modifizierten Endprodukt in der Breite in die Truppe eingeführt zu werden, soll die Systemrüstung einen grundlegend anderen Ansatz verfolgen.[22]
Um diese Systemlogik im praktischen Prozess umsetzen zu können, orientiert sich Leidenberger am Spiralmodell aus der Softwareentwicklung. Dieses Modell durchläuft keine lineare Schrittfolge, um zu einem zuvor definierten Ziel zu gelangen. Vielmehr werden Teilschritte einer Spiralbewegung definiert, die zu einem nächsten Plateau führen, wo die Spiralbewegung von Neuem beginnt. In der Softwareentwicklung lauten diese Schritte: Zielbestimmung, Risikoanalyse, Programmieren und Testen. Übertragen auf den Rüstungsprozess einer Brigade (5.000 Soldat*innen samt Gerät) sieht das modifizierte Spiralmodell nach Leidenberger dann so aus: Innovationen beobachten, Anwendungen testen und in die aktuell älteste Brigade einrüsten. Eine Brigade als Gesamtsystem soll in diesem Durchgang auf den neuesten Stand gerüstet werden, um voll einsatzbereit zu sein. Währenddessen finden Weiterentwicklungen im Defence Innovation Hub und im Test-und Versuchsverband statt. Die nächste, jetzt älteste Brigade wird dann bereits auf den nächsthöheren Stand gerüstet, bis die perspektivisch zehnte und letzte Brigade dieses System durchlaufen hat. Zu diesem Zeitpunkt ist die erste Brigade bereits so veraltet, dass sie wieder in das System eingespeist wird. So entsteht eine permanente Aufrüstungsspirale, um immer eine Brigade auf das jeweils neuste technische Niveau zu bringen und sie aus der Sicht der Militärs erst damit einsatzbereit zu machen. Dieses Rüstungsmodell braucht allerdings auch eine spezifische Infrastruktur.
Werft fürs Heer – Systemzentrum Digitalisierung
Das „System Brigade“, das von Leidenberger in einer Rede 2018 in seiner Gesamtheit mit einer Fregatte, also einem Kriegsschiff, verglichen wird, brauche in dieser Analogie eine „Werft fürs Heer“.[23] Hinter diesem Bild verbirgt sich eine riesige Aufrüstungsfabrik, die das Material einer gesamten Brigade aufnehmen und auf den nächsten Stand rüsten kann.
In einem „Systemzentrum Digitalisierung Land“,[24] wie die Werft im Bundeswehrsprech heißen soll, würden Planer*innen, Beschaffer*innen, Truppe und ausgewählte Industriepartner zusammenarbeiten. In der Führungsetage solle ein sogenanntes „Lifecycle Program Management“ durchgeführt werden. Es wäre dafür verantwortlich, die Planung der jeweiligen Aufrüstungsschritte zu überblicken und mögliche Brüche in Systemkomponenten der bestehenden Brigaden zu identifizieren, die womöglich parallel ausgebessert werden müssten, um eine fehlende Kompatibilität mit neuen Systemen zu vermeiden. Mit dieser Werft in den Händen des Heeres würde, neben der dort betriebenen Aufrüstungsmaschinerie, auch der gesamte Rüstungsprozess vom Identifizieren neuer Technologien über das Testen bis zum endgültigen Einrüsten in bestehende Systeme, deutlich näher an die Truppe rücken und der Einfluss der Militärs auf diesen Bereich erheblich steigen.
2019 – Jahr der Umsetzung
Während General Leidenberger sich 2018 aus der Bundeswehr zurückgezogen hat, funktionieren seine Netzwerke weiter. So wurde er in der Umsetzung des Megaprojekts „Digitalisierung Landbasierter Operationen“ (D-LBO) von seinem vorherigen Vorgesetzten und Afghanistan-Buddy Jörg Vollmer flankiert. Vollmer erklärte in einem Newsletter des Förderkreises Deutsches Heer e.V. (FDH) das Jahr 2018 zum „Jahr der Wahrheit“[25] mit Blick auf die künftige Vollausstattung der Bundeswehr und die Digitalisierung der Landstreitkräfte. Im Dezember 2018 konnte er dann, zumindest für den Bereich der Digitalisierung, Vollzug melden. In der Offiziersschule des Heeres in Dresden wurde das Großprojekt D-LBO in einer Zeremonie offiziell vorgestellt und als erster konkreter Schritt die Einrichtung des geforderten Test- und Versuchsverbandes in Munster bekanntgegeben. Zudem legte das Kommando Heer einen „Plan Heer“ vor,[26] laut dem die von der Bundeswehr geführte NATO-Speerspitze (VJTF) 2023 als erste Systembrigade ausgestattet werden soll, um in weiteren Schritten bis 2032 das voll digitalisierte „Heer 4.0“ zu erreichen.
Auf diesen ersten Teilerfolg aufbauend ließ es sich Vollmer nicht nehmen, das Jahr 2019 zum „Jahr der Umsetzung!“[27] zu erklären. Im Laufe des Jahres hat der Test- und Versuchsverband ein „Battle Management System“, eine Führungssoftware für die digitalisierte Truppe, getestet, das für die VJTF 2023 angeschafft und dort erstmals im großen Maßstab angewendet werden soll. Damit ist das Heer auf dem besten Weg, die Funktionsweise des „einsatzbedingten Sofortbedarfs“ aus Afghanistan im Kontext der Landes- und Bündnisverteidigung und der regelmäßigen selbstgewählten NATO-Verpflichtungen (z.B. VJTF) zum Dauerzustand zu machen. Außerdem scheinen sich auch die Pläne für eine „Werft fürs Heer“ zu konkretisieren. In der „Roadmap Digitale Bundeswehr“ als Teil des „Ersten Berichts zur Digitalen Transformation“[28] des Verteidigungsministeriums aus dem Oktober 2019 wird die „Fortführung der Test- und Versuchsstrukturen, Experimentierfähigkeit und Erarbeitung der Grundlagen zum Aufbau eines bundeswehr- und streitkräftegemeinsamen ‚Systemzentrums Digitalisierung Land‘ am Standort Munster“ als eines von sechs aktuell zu erarbeitenden Projekten gelistet. Die vor zwei Jahren noch als offensive These vorgetragenen Pläne scheinen also konkret zu werden. Im Zuge der Vorstellung ihrer „Initiative Einsatzbereitschaft“ im Februar 2020 hat Verteidigungsministerin Kramp-Karrenbauer zudem klar gemacht, dass sie hinter der Idee steht, die regelmäßigen NATO-Verpflichtungen (VJTF) als Testrahmen für künftige Beschaffungsprozesse zu nutzen.[29] Damit ebnet sie den Weg, um das System des „einsatzbedingten Sofortbedarfs“ zum permanenten Rüstungsinstrument zu machen.
Unklar ist allerdings noch die Realisierung des „Defence Innovation Hub“. Das Cyber Innovation Hub als aktuelles Vorbild macht momentan eher durch Skandale auf sich aufmerksam[30] und eignet sich damit wenig als Werbung für weitere Vorstöße in diese Richtung. Momentan scheinen sich allerdings sowohl das in Planung befindliche Systemzentrum in Munster als auch Leidenbergers aktueller Arbeitgeber BWI auf den Weg zu machen, die Rolle des DIH zumindest in Teilen auszufüllen. Wofür das Cyber Innovation Hub allerdings bereits gut zu sein scheint, ist der pompöse Auftritt, mit dem die Bundeswehr an den ‚Spirit‘ der Startup-Szene anknüpfen und diese für sich gewinnen will. Ein Werbebanner des CIH nutzt das ehemalige interne Firmenmotto von Facebook und macht damit eine ‚Innovation‘ aus der zivilen Wirtschaft für das Militär nutzbar: Vor dem Bild eines schießenden Panzers prangt der Schriftzug: „Move fast and break things“ (Beweg dich schnell und zerstöre Dinge).[31] Mit diesem Sinnspruch, der ohne einen Funken von Zurückhaltung als Werbebotschaft genutzt wird, zeigt sich, welche gefährliche und hochgradig zerstörerische Mischung entsteht, wenn Digitalisierung, Startups und disruptive Technologie, bzw. Ideologie, auf Militär und Rüstungswirtschaft treffen, um einen militärisch-industriellen Technologiesprung herbeizusehnen.
Weg in die (Tech)Aufrüstungsspirale
Auf der „Land Warfare Conference“ 2018 in London[32] sprach Leidenberger vor den versammelten Generälen und Militärplanern verbündeter Streitkräfte, ausgehend von den Auseinandersetzungen in der Ukraine und einem Russland zugeschriebenen, bisher nicht aufgeklärten Cyberangriff auf den Bundestag, von einem „lauwarmen Krieg“, der bereits begonnen habe. Nimmt man diese Aussage, die Vorbereitung auf einen potenziellen Krieg gegen einen „gleichwertigen Gegner“ und die hier beschriebenen Aufrüstungspläne ernst, kann es hilfreich sein nach historischen Vorbildern dieser aktuell anlaufenden Rüstungsmaschine zu fragen.
In den Thesenpapieren wird ein Weg vorgezeichnet, das Rüstungswesen, das sich im Deutschland der Nachkriegszeit gebildet hatte, grundlegend umzustrukturieren und den Militärs darin mehr Einfluss zu verschaffen. Angestrebt ist das permanenten Scannen ziviler Forschung und Entwicklung auf militärische Verwertbarkeit, der Wille zur eigenständigen Weiterentwicklung durch das Militär, in enger Kooperation mit der wehrtechnischen Industrie, sowie das Testen der in Frage kommenden (Waffen)Systeme durch Kampftruppen. Darauf folgen soll die flächendeckende Aufrüstung am Fließband, um einen Angriffsvorteil und „Wirkungsüberlegenheit“ durch Technologie zu erlangen. Diese Strukturen für das schnelle nutzbar machen neuer Technologien sind nicht neu!
Nach einem ähnlichen Muster arbeiteten bereits die Heeresversuchsanstalten der Wehrmacht. Neben der bekanntesten Einrichtung in Peenemünde zur Erforschung von Raketentechnik (V2)[33] wurde in Hillersleben in Sachsen-Anhalt an Artillerie und Riesenkanonen (Dora) und in Kummersdorf-Gut in Brandenburg neben Panzern und Raketen auch an Atomenergie geforscht und gemeinsam mit der Industrie entwickelt.[34] Ein weiterer Standort war die Heeresversuchsstelle Munster-Nord in der Lüneburger Heide. Dort, wo das „Systemzentrum Digitalisierung Land“ der Bundeswehr eingerichtet werden soll, wurde bereits ab 1935 an Gasmunition für den bevorstehenden Zweiten Weltkrieg gearbeitet.[35] Neben Entwicklungen, die ihren Weg in die Kampftruppe fanden, überhoben sich die Heeresversuchsanstalten in ihrem Größenwahn, losgelöst von jeglichen zivilen Rückbindungen, allerdings auch an diversen Megaprojekten.
Ein Vorbild für das bisher nur auf dem Papier erdachte Defence Innovation Hub der Bundeswehr findet sich wiederum im militärisch-industriellen Komplex der US-Armee im Kalten Krieg. Die Defense Advanced Research Projects Agency (DARPA) wurde 1958 vom Pentagon gegründet, um den US-Streitkräften einen Technologievorsprung zu sichern. Das Beste aus Wissenschaft, Industrie und Militär sollte – und soll noch heute – hier zusammenkommen um, gefördert mit Milliardensummen, an der Zukunft des Krieges zu arbeiten. Aktuell wird dort u.a. an (teil)autonomen Kampf- und Logistikrobotern und Exoskeletten geforscht und versucht herausfinden, “wie Maschinen menschenähnliche Kommunikations- und Denkfähigkeiten”[36] erlangen können.
Die Bundeswehr ist, neben einer anderen politischen Ausgangslage, auch in puncto Personenstärke, Material- und Haushaltsumfang mit ihrem historischen Vorgänger, der Wehrmacht, und der US-Armee nicht zu vergleichen. Das hält sie aber nicht davon ab, immer aktiver nach (digitalen) Technologiesprüngen zu suchen, die eine „Wirkungsüberlegenheit“ im Kriegsfall ermöglichen sollen. Ein brandgefährliches Unterfangen, um in der Liga der Militärmächte mitspielen zu können. Aktuell entstehen in der Bundeswehr die Grundsteine einer (auf-)rüstungswirtschaftlichen Maschinerie, gebaut auf den Thesen des lauwarmen Kriegers Leidenberger, die sich mit einem bitterbösen Wort zusammenfassen lassen – Vorkriegszeit.
Ein Scheitern, wie das diverser Megaprojekte, wäre auch für die Digitalisierung der Bundeswehr wünschenswert. Diese Hoffnung ersetzt allerdings nicht die Notwendigkeit eines klaren Widerspruchs aus der Gesellschaft, gegen steigende Militärausgaben, Forderungen der Loslösung des Militärs von zivilen Vorgaben und die anlaufende Aufrüstungsmaschinerie in immer engerem Verbund mit (Tech-)Industrie und Wissenschaft.
Anmerkungen
[1] Dorothee Frank, Europäische Sicherheit & Technik, Deutschland und Niederlande beschließen gemeinsame Digitalisierung der Landstreitkräfte, 26. Juni 2019, esut.de
[2] Spiegel, Bundeswehr-Modernisierung – Milliardenauftrag für Siemens und IBM, 13.12.2006, spiegel.de
[3] BWI, Einsatznahe IT: BWI übernimmt Betreuung von HaFIS für die Bundeswehr, 31.01.2020, bwi.de
[4] BWI, Unser Management-Team, bwi.de
[5] Association of the United States Army, Lt. Gen. Frank Leidenberger – Commander, DEU Elements Multnational Corps and Basic Military Organization – German Army, ausa.org
[6] Tagesspiegel und Magazin FAKT(MDR) – Die Afghanistan-Connection, afghanistan-connection.de
[7] FAZ, Bundeswehr kauft Gewehre für Millionen – weil sie gerade zu haben sind , 27.09.2015, faz.net
[8] Spiegel, Leyen-kritischer General verlässt die Truppe, 03.08.2018, spiegel.de
[9] Presse- und Informationszentrum des Heeres, Amtswechsel im Kommando Heer: „Mister Digitalisierung“ meldet sich ab, 03.09.2018, presseportal.de
[10] Kommando Heer, Autorenteam, Thesenpapier I – Wie kämpfen Landstreitkräfte künftig?, S.5, via augengeradeaus.net
[11] KdoH, Thesen I, S. 17ff
[12] KdoH, Thesen I, S. 18
[13] Kommando Heer, Autorenteam, Thesenpapier II – Digitalisierung von Landoperationen, S. 4, via augengeradeaus.net
[14] KdoH, Thesen II, S. 6
[15] KdoH, Thesen II, S. 8f
[16] Thorsten Jungholt, Welt, Alarmruf aus der Kommandozentrale des Heeres, 02.04.2018, welt.de
[17] Kommando Heer, Autorenteam, Thesenpapier I – Rüstung digitalisierter Landstreitkräfte, S. 7, via augengeradeaus.net
[18] KdoH, Thesen III, S. 5
[19] KdoH, Thesen III, S. 8
[20] KdoH, Thesen III, S. 10
[21] KdoH, Thesen III, S. 11
[22] KdoH, Thesen III, S. 8ff
[23] Lt Gen Frank Leidenberger – How Allies Will Manoeuvre Beyond 2025: RUSILWC18, via youtube.com
[24] KdoH, Thesen III, S. 10
[25] Generalleutnant Jörg Vollmer, Inspekteur des Heeres, 2018 – Das Jahr der Wahrheit!, in: Infobrief Heer, Publikationsorgan des Förderkreises Deutsches Heer e.V. (FKH), Nr.1 Februar 2018, 22. Jahrgang, S. 1, fkhev.de
[26] Kommando Heer, Daniel Rasch, Die Umsetzung des Plans Heer beginnt, 06.12.18, deutschesheer.de, als PDF via augengeradeaus.net
[27] Generalleutnant Jörg Vollmer, Inspekteur des Heeres, 2019 – Das Jahr der Umsetzung!, in: Infobrief Heer, Publikationsorgan des Förderkreises Deutsches Heer e.V. (FKH), Nr.1 Februar 2019, 23. Jahrgang, S. 1, fkhev.de
[28] Bundesministerium der Verteidigung, Erster Bericht zur Digitalen Transformation des Geschäftsbereichs des Bundesministeriums der Verteidigung, Berlin, Oktober 2019, S. 29, bmvg.de
[29] BMVg, Rede von Kramp-Karrenbauer: „Bundeswehr fit machen für die Zukunft“, 06.02.2020, bmvg.de
[30] Uli Hauck, Tagesschau, Cyber-Innovationszentrum – Kritik an teurem Bundeswehr-Startup, 21.01.2020, tagesschau.de
[31] Cyber Innovation Hub der Bundeswehr, über den offiziellen Auftritt bei flickr.com
[32] Lt Gen Frank Leidenberger – How Allies Will Manoeuvre Beyond 2025: RUSILWC18, via youtube.com
[33] Günther Jikeli (Hrsg.): Raketen und Zwangsarbeit in Peenemünde. Die Verantwortung der Erinnerung. Friedrich-Ebert-Stiftung, Schwerin 2014, library.fes.de
[34] Solveig Grothe, Spiegel, Schießplatz Kummersdorf – Deutschlands gefährlichstes Denkmal, spiegel.de
[35] Michael Grube, Kampfstoff in Munster-Nord – Heeresversuchsstelle Raubkammer, geschichtsspuren.de
[36] Oliver Bünte, Heise, US-Verteidigungsministerium will 2 Milliarden US-Dollar in KI investieren, heise.de