IMI-Analyse 2018/02 - in: AUSDRUCK (Februar 2018)

‚Freiheit, Würde, Arbeit‘

Ein leeres Versprechen von neun tunesischen Regierungen

von: Nabil Sourani | Veröffentlicht am: 12. Februar 2018

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Verzerrtes Narrativ auf internationaler Ebene

Außergewöhnlich, gar einzigartig – mit diesen Wörtern beschreibt ein Großteil der internationalen Medienlandschaft die Entwicklung Tunesiens seit der Revolution. Die Ursprünge des ‚Arabischen Frühlings‘ liegen in Sidi Bouzid, einer ländlichen Region des tunesischen Inlands, wo sich der Obsthändler Mohamed Bouazizi im Dezember 2010 selbst verbrannte und damit eine Protestwelle gegen Staatswillkür loslöste, die in dem Sturz Ben Alis gipfelte. Rasch breitete sich die Idee einer demokratischen Revolution in den Nachbarländern Tunesiens aus und brachte die herrschenden Diktatoren und Autokraten ins Wanken, an die lautstark die Forderung nach ‚Freiheit, Würde und Arbeit‘ gestellt wurde. Infolge von Unruhen endete die mehr als 23-jährige Alleinherrschaft Zine El Abidine Ben Alis und seiner Entourage am 14. Januar 2011 mit seiner Flucht nach Saudi-Arabien. Tunesien verhinderte als einziges Land eine Konterrevolution wie in Ägypten und einen Bürgerkrieg wie in Libyen, Syrien und Jemen. Stattdessen entwickelte sich Tunesien zu einer partizipatorischen Demokratie, Parteien formierten sich, eine neue Verfassung wurde verabschiedet und 2014 fanden die ersten freien und kompetitiven Wahlen statt. Seither stellen internationale Leitmedien und auch Vertreter_innen der EU Tunesien als Vorzeigeland des ‚Arabischen Frühlings‘ und der ganzen Region dar. Gestützt wird dieses Narrativ einer außergewöhnlichen Erfolgsgeschichte zudem durch den Friedensnobelpreis, der dem tunesischen Dialogquartett, bestehend aus dem Gewerkschaftsdachverband UGTT, dem Unternehmerverband (UTICA), der Anwaltskammer und der Menschenrechtsliga (LTDH) 2015 in Oslo verliehen wurde. Nachdruck wurde dem 2018 mit der Klassifizierung Tunesiens als einzigem freien Staat im Maghreb durch das Freedom House verliehen. Allgemein verweisen Vertreter_innen des tunesischen Erfolgsmodells auf die progressive neue politische Elite und ihre beachtlichen Leistungen: zum Beispiel dem in der Konstitution von 2014 niedergeschriebenen Recht der freien Meinungsäußerung, der Eröffnung eines LGBT-Radiosenders oder der vorgeschlagenen Gesetzesänderungen zu Gunsten der Frauenrechte. Allerdings müsse noch eine klare Wirtschafts- und Finanzstrategie ausgearbeitet und die Korruption unter Kontrolle gebracht werden. Trotz der genannten Defizite handele es sich um einen stabilen demokratischen Staat in einer von Chaos geprägten Region, den es auf allen Ebenen zu unterstützen gilt.

So schmücken internationale Medien und Regierungen weltweit, vor allem aber innerhalb der EU, die Geschichte Tunesiens aus. Und dass, obwohl Zivilpersonen weiterhin für Verleumdungen von hochrangigen Militärs und Politikern vor ein Militärgericht gezerrt werden. Systematisch wird über die derzeit aussichtslose Lebenssituation großer Teile der marginalisierten Bevölkerung hinweg gesehen. Alternative Politik- und Wirtschaftsmodelle, die sich im Land entwickeln, werden ausgeblendet. Nicht nur eine Romantisierung der Umbrüche und des gesellschaftlichen Status quo im Land wird hierdurch forciert – auch der gesamte Transformationsprozess wird dadurch erheblich behindert.

Damit diesem ‚Leuchtturm‘ Nordafrikas nicht ein ähnlich desaströses Schicksal wie Libyen, Syrien oder dem Jemen widerfährt, entschieden sich neben den USA auch einige Staaten EUropas, den tunesischen Sicherheitsapparat finanziell sowie mit Ausbildungs- und Ausrüstungsmaßnahmen zu unterstützen. Offiziell solle die Regierung Tunesiens hierdurch in die Lage versetzt werden, Extremismus und Terrorismus zu bekämpfen, denn die Sicherheit und Stabilität Tunesiens wirke sich auch positiv auf den direkten Nachbarn Libyen aus. Diese ‚Hilfe zur Selbsthilfe‘ strebt allen voran die deutsche Bundesregierung an. Tunesien, als demokratisches Land mit einzigartiger Symbolwirkung, sei ein verlässlicher Partner für die Ertüchtigungsinitiative.[1] Maßnahmen zur Stärkung des tunesischen Sicherheitssektors laufen bereits seit Jahren auf Hochtouren. Eine Abkehr von dieser Strategie ist auch unter der sich derzeit neu bildenden Bundesregierung nicht zu erkennen. Eine Teildemokratisierung kann als fortschrittlich erachtet werden; jedoch beruht sie nicht auf einer tatsächlichen demokratischen Freiheit, wenn eine materielle Gleichheit ausbleibt. Wie bereits angeklungen: Die wirtschaftliche Situation im Land ist desolat.

Wirtschaftliche Erholung aussichtslos[2]

Seit den ersten Strukturanpassungsprogrammen in den 1980er Jahren, die Tunesien von internationalen Finanzinstitutionen – maßgeblich dem Internationalen Währungsfonds und der Weltbank – für Finanzhilfen auferlegt wurden, sind keine Änderungen in der Wirtschaftsstrategie des Landes vorgenommen worden. Auswirkungen der neoliberalen Neuausrichtung der tunesischen Wirtschaft führten zu Proletarisierungsprozessen, einer Verschärfung der Marginalisierung der Regionen im Inland, Landflucht und einer Erodierung sozioökonomischer Rechte. Der sozioökonomische Status quo wurde bis heute nicht nur aufrechterhalten, sondern der neoliberale Kurs seit der Absetzung Ben Alis 2011, von allen (mittlerweile neun) Folgeregierungen auch weiter intensiviert. Erst 2016 einigte sich der IWF mit der tunesischen Regierung unter Premierminister Youssef Chahed auf einen weiteren Kreditrahmen von 2,9 Mrd. US Dollar. Diese asymmetrischen Kredite dienen derzeit jedoch lediglich der Deckung des Haushaltsdefizits und stellen keine sozialen oder wirtschaftlichen Investitionen dar. Die Auslandsverschuldung stieg seit der Umbrüche innerhalb von sieben Jahren von 40 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) auf etwa 80 Prozent des BIPs (2017). Zudem grassiert der informelle Sektor, dem mit 54 Prozent mehr als die Hälfte des BIPs zugerechnet werden, weiterhin, wodurch wichtige Staatseinnahmen ausbleiben. Von Seiten der EU wurde eine Ausweitung von bereits bestehenden Freihandelsabkommen erreicht und eine weitreichende und umfassende Freihandelszone (DCFTA) angestrebt. Das Handelsdefizit steigt weiter an – u.a. durch die Währungsabwertung des tunesischen Dinars um 20 Prozent gegenüber dem Euro im vergangenen Jahr. Insgesamt sind der sich langsam erholende Tourismus, die im Vergleich zu den Vorjahren hohen landwirtschaftlichen Erträge sowie das Wachstum in der Phosphatproduktion unwesentlich für die Gesamtbilanz. Eine jährliche Inflationsrate von 6,3 Prozent lässt zudem die Kaufkraft der tunesischen Bevölkerung sinken. Zeitgleich schießen die Preise für Produkte des Grundbedarfs rasant in die Höhe (vgl. Djaziri 2018). Simultan steigt die Arbeitslosigkeit innerhalb der jungen Bevölkerung weiter an und liegt inzwischen bei etwa 40 Prozent, zu denen als ein nicht zu unterschätzender Teil Universitätsabsolvent_innen zählen – für Frauen liegt sie weit höher (vgl. ebd.). Die Abwärtsspirale der wirtschaftlichen und sozialen Lage im Land dreht sich schneller. Aufgrund der ausbleibenden grundlegenden polit-ökonomischen Reformen liegt eine positive Entwicklung in weiter Ferne. Chahed beschwichtigt, die Tunesier_innen müssten Opfer für ihr Land bringen: „Die wirtschaftliche Lage ist schwierig, aber wir sollten nicht übertreiben“ (Mourad 2018), 2018 würde mit drei Prozent Wachstum das letzte schwierige Jahr für Tunesien werden – fünf Prozent Wachstum seien bis 2020 vorgesehen. Dabei ist aufgrund der exorbitanten Staatsverschuldung und dem damit einhergehenden Druck von IFI mit noch tiefgreifenderen Austeritätsmaßnahmen in den kommenden Jahren zu rechnen. Erstes Indiz für den Beginn eines Sparkurses sieht die unabhängige tunesische Beobachtungsstelle für Wirtschaft (OTE) insbesondere in dem im Januar 2018 in Kraft getretenen neuen Finanzgesetz.

Die exportorientierte Ausrichtung der gesamten Volkswirtschaft einerseits, sowie die ökonomische Integration und der Wettbewerbsdruck mit den südeuropäischen Nachbarstaaten und anderen Niedriglohnländern andererseits, spitzt das Abhängigkeitsverhältnis Tunesiens von Europa zu. Dabei verhindern Kredite der IFI mit den damit einhergehenden expliziten Regelungen eine Abkehr von diesem Kurs. Aufgrund der enormen Staatsverschuldung benötigt Tunesien diese Finanzhilfen allerdings dringend und muss sich folglich dem externen Druck beugen, um auch zukünftig Refinanzierungskredite sicherzustellen. In andere Worte gefasst: Der Weg für eine wirtschaftliche Rekolonisation wird weiter geebnet.

Januar 2018: ‚Monat des Zorns‘

Wie in den Jahren zuvor, entlud sich auch 2018 die Enttäuschung und Wut großer Teile der Bevölkerung bereits zu Jahresbeginn. Am 7. Januar gingen landesweit Menschen in den verarmten Städten marginalisierter Regionen auf die Straßen. Auslöser für die Proteste ist das Anfang des Jahres neu in Kraft getretene Finanzgesetz, das weitere Preissteigerungen für Produkte des täglichen Grundbedarfs, sowie höhere Abgaben von der Bevölkerung abverlangen und maßgeblich die zerfallende Mittelschicht und Armen des Landes trifft.[3] In der Nacht zum 8. Januar weiteten sich die Demonstrationen auf 16 Regierungsbezirke aus und Auseinandersetzungen zwischen Protestierenden und Sicherheitskräften eskalierten. Letztere rückten in gepanzerten Fahrzeugen aus und beantworteten die Zusammenstöße mit den Protestierenden mittels ‚starker Hand‘ und Tränengas. Dabei kam in der Nähe von Tunis, in Tébourba, ein Mensch ums Leben – der Obduktionsbericht wurde bisher nicht veröffentlicht. Das Innenministerium spricht von einer chronischen Atemwegskrankheit, die gepaart mit Tränengas zum Erstickungstod geführt haben soll. Sein Bruder kann dieser Darstellung jedoch keinen Glauben schenken. So versuche der Sicherheitsapparat die Hintergründe des Todes wie zu alten Zeiten zu vertuschen. Man habe die Akte seines Bruders mit der seinigen bewusst vertauscht, denn nur er leide an Asthma. Der Staat versuche damit vor allem Entschädigungszahlungen aus dem Weg zu gehen, erklärte er in einem Interview (vgl. Reuters 2018). Vereinzelt kam es auch zu Plünderungen von Supermärkten, Vandalismus, sowie Brandstiftungen an Polizeistationen und Poststellen. Worauf der Gründer der Partei Machrouu Tounes[4] (Projekt Tunesien) Mohsen Marzouk die Regierung sogar aufrief, eine Ausgangssperre in der Nacht zum 9. Januar zu verhängen, wozu es allerdings nicht kam. Kurzzeitig rückte das tunesische Militär nahe der Stadt Thala an der algerischen Landesgrenze aus, um Protestmärsche aufzuhalten. Inzwischen wurde es mit der Sicherung von Banken, Postämtern und öffentlichen Gebäude beauftragt. Zugeständnisse von Seiten der Regierung sollen die Bevölkerung besänftigen. Hierfür wurden Mittel in Höhe von 170 Mio. Dinar (57 Mio. Euro) freigegeben, die 250.000 Familien zu Gute kommen sollen. Außerdem soll die medizinische Versorgung für Arbeitslose künftig kostenlos und für alle Tunesier_innen garantiert sein. Darüber hinaus sollen Bürgschaften den Wohnungskauf unterstützen und Wohnkredite leichter vergeben werden. Oppositionsparteien aus dem ‚linken‘ Spektrum, u.a. die Volksfront (FP), und der Gewerkschaftsdachverband (UGTT) riefen daraufhin zu weiteren Kundgebungen und Protesten auf, da sie diese zu kurz kommenden Zuschüsse als weiteren Affront werteten. Auch eine Woche später gingen noch Menschen in der Stadt Métlaoui gegen die Austeritätspolitik auf die Straßen und errichteten Blockaden. Die Demonstrationen wurden seit Anfang Januar für mehr als zwei Wochen aufrechterhalten. Dabei wurden um die 800 Menschen von Sicherheitskräften verhaftet, wovon etwa 200 zwischen 15 und 20 Jahre alt waren.

Die legitimen Forderungen der Protestierenden nach ‚Freiheit, Würde und Arbeit‘ sind noch genauso allgegenwärtig wie die leeren Versprechen der mittlerweile neun Folgeregierungen seit den Umbrüchen von 2011. Damit die Sicherheitskräfte in Fällen zukünftiger Proteste gegen die staatliche Politik besser durchgreifen können, wurde bereits im Vorjahr darüber diskutiert, ein entsprechendes Gesetz zu erlassen. Es soll u.a. die Straffreiheit von Sicherheitskräften stärker stützen, indem es ihnen Immunität vor strafrechtlicher Verfolgung bei der Anwendung unnötiger exzessiver Gewalt zusichert und Kritik an Sicherheitskräften unter Strafe stellt.[5]

Die Eskalation der Ausschreitungen schiebt sich die politische Elite dabei gerne auch gegenseitig in die Schuhe. Außerdem sei dem neuen Finanzgesetz gemeinsam im Parlament zugestimmt worden. Betont wird dabei auch, dass die hohen Staatsausgaben und die massive Verschuldung des Landes ebendieses notwendig machten. Im Gegenzug werden Gesetzesentwürfe – wie das Korruptions-Amnestie-Gesetz – formuliert, das Geschäftsleuten, die der Korruption zu Zeiten Ben Alis beschuldigt sind, die Strafe erlassen soll. Auch aktuelle Korruptionsvorwürfe gegen mitregierende Politiker, deren Verstrickungen im Grenzschmuggel bekannt sind, werden von Abgeordneten innerhalb der Regierung gedeckt.

Überhaupt führte die ‚Revolution‘ bisher ausschließlich zu einer tiefgreifenden Verschlechterung der Lebensbedingungen weiter Teile der tunesischen Bevölkerung. Einer im November 2017 durchgeführten Studie des Internationalen Republikanischen Instituts (IRI) zufolge, empfinden 83 Prozent der befragten Tunesier_innen, dass der Weg des Landes in seiner Gesamtheit in eine falsche Richtung weist. Zudem, erstmals seit 2011, ersetzt die landesweite wirtschaftliche Misere als größte Zukunftssorge mit 42 Prozent die Arbeitslosigkeit (22 Prozent). Statistiken des tunesischen Gesundheitsinstituts belegen darüber hinaus einen drastischen Anstieg an Suiziden,[6] wie auch eine zunehmende Einnahme von Anxiolytika und Antidepressiva (vgl. Djaziri 2018). Unterdessen offenbarte eine im Oktober 2017 durchgeführte Untersuchung der Tunesischen Vereinigung für Drogensucht, dass 31 Prozent der Schüler zwischen 15 und 17 Jahren Betäubungsmittel jeglicher Art konsumieren.[7] Ein Anstieg von sechs Prozent im Vergleich zum Jahr 2013.

Deutlich wird: Die wirtschaftlichen, politischen und sozialen Zustände sind katastrophal. Gibt es überhaupt einen Ausweg aus dieser Misere?

Jemna: Ein alternatives Wirtschaftsmodell

Jemna, eine Stadt im südlich liegenden Kebili Gouvernement experimentiert mit einem wirtschaftlichen Gegenmodell und verdient Aufmerksamkeit. Die Bewohner der kleinen Oasenstadt, die besonders für die exzellente Qualität dort angebauter ‚Deglet Nour‘ Datteln (Dattel des Lichts) bekannt ist, konnten einige wirtschaftliche und soziale Erfolge erzielen.

Den bereits unter französischer Kolonialherrschaft (1912) enteigneten Bauern ermöglichte 2011 das Klima der Umbrüche das Wiedererlangen lang konfisziert gewesener Agrarflächen. Zwei private Investoren des nepotistischen Kreises um Ben Ali konnten vertrieben werden. Sie hatten die landwirtschaftlichen Nutzflächen zu Spottpreisen vom alten Regime gemietet, unter prekären Arbeitsbedingungen agrarindustriell bewirtschaftet und dabei ungeheure Profite erzielt. Mittlerweile werden die landwirtschaftlichen Flächen und natürlichen Ressourcen in kollektiver Selbstverwaltung nachhaltig kultiviert und die erzielten Profite dem Gemeinschaftswohl zur Verfügung gestellt. Hierfür gründeten sie bereits 2011 die Organisation zum Schutz der Oasen Jemnas (APJO). Sie wurde mit dem Agrarmanagement betraut, verwaltete die Einnahmen aus den verkauften Früchten und realisierte Entwicklungsprojekte für die Bevölkerung. Dabei werden etwa 300 Tunesier_innen (20 noch vor 2011) beschäftigt, die die Produktion zwischen 2011 und 2014 verdoppeln konnten. Innerhalb von fünf Jahren brachten die Bewohner Jemnas unter Federführung der APJO hierbei mehr als eine halbe Millionen Euro an Gewinn ein, der wiederum in lokale Projekte investiert wurden – bspw. in den Bau einer Markthalle, eines Sportgeländes, von Unterrichtsräumen, in die Sanierung von Schulen und in ein Ärztehaus, in den Erwerb eines Krankenwagens, in die finanzielle Unterstützung lokaler Hilfsorganisationen und in kulturelle Aktivitäten. Für neoliberale Kräfte und die konterrevolutionäre Elite, die einer freien Marktideologie folgen, sind sie ein Dorn im Auge, denn eine emanzipatorische Bewegung gefährdet ihre gewinnorientierten Interessen und könnte einen radikalen Wandel ins Rollen bringen. Außerdem verkörpert die Organisation nicht nur den Widerstand gegenüber der Ausbeutung natürlicher Ressourcen und der Umwelt, sondern bietet eine funktionierende Alternative zum neoliberalen Kurs der Regierung und der damit verbundenen strukturellen Ungerechtigkeit des kapitalistischen Systems. Drohungen, falls ein Verkauf der Ernte stattfinden würde, folgten. 2016 wurden Bankkonten der Organisation eingefroren und tunesische Leitmedien stempelten die Bewohner_innen und ihr Engagement als illegal ab. Zusätzlich versucht die Regierung Jemna zu isolieren, indem sie den Diskurs von Landrechten hin zu wirtschaftlichen Überlegungen wie Kosten-, Management- und Kontrolleffizienz verschiebt. Dabei schweben ihr bspw. Ideen einer Aktiengesellschaft vor – Aktienmehrheit erhielte dabei der Staat. (vgl. Hamouchene 2017; Szakal 2016)

Fazit

Sich massiv verschlechternde Lebensbedingungen sind bekannte Probleme. Der Ruf nach „Freiheit, Würde, Arbeit“ bekannte Forderungen, aber ein Einlenken ist nicht in Sicht. Der Mythos ‚Sieger des Arabischen Frühlings‘ lenkt von den Ursachen der Lage vor Ort ab. Letzten Endes erreichte Tunesien nach dem Sturz Ben Alis nur einen formellen Regierungswechsel. Der notwendige Wechsel des wirtschaftlichen Kurses und der Regierungsweise, die aber auch Teil der Unruhen waren, blieben jedoch aus. Die Mehrheit der Mitglieder der aktuellen Regierung, wie auch aller vorherigen, ist in erster Linie darauf bedacht ihre Machtposition zu halten und diese zu monopolisieren. Unterstützt wird die wirtschaftliche und politische Elite dabei vornehmlich von Mitgliedern der Wirtschaftsmächte (G7) und der EU, die ihrerseits wirtschaftliche und politische Interessen in Tunesien und der Region verfolgen. Sowohl in Tunesien als auch in den USA und EUropa halten diese Eliten am Status quo fest und verteidigen weiterhin den neoliberalen Kurs. Internationale Finanzinstitutionen binden Tunesien für Refinanzierungskredite an eine strenge neoliberale wirtschaftliche Entwicklung (Austeritätsmaßnahmen), die EU bietet finanzielle Unterstützung und verlangt Freihandelsabkommen (Freihandelszone) und insbesondere Deutschland bildet und rüstet den Sicherheitsapparat aus (Ertüchtigungsinitiative), um indirekt Dissens innerhalb Tunesiens gegen EUropäische wirtschafts- und migrationspolitische Interessen unterdrücken zu können; die tunesische Regierung ist dabei, seinen Polizeistaat ‚wieder‘ aufzubauen und verabschiedet hierfür ‚demokratiegefährdende‘ Gesetze (Repression of attacks against armed forces). Es ist unwahrscheinlich, dass der Widerstand der tunesischen Bevölkerung gegen den fortgeführten neoliberalen Kurs in naher Zukunft abreißt. Beim Aufbegehren der tunesischen Bevölkerung ging es nicht ausschließlich um das Erkämpfen politischer Rechte. Sie fordert ökonomische Unabhängigkeit, Würde und soziale Gerechtigkeit ein und Selbstbestimmung in Wirtschaft, Gesellschaft und Politik. Kooperativen wie die APJO in Jemna sind Lichtpunkte auf diesem Weg, die es zu unterstützen gilt, indem der Aufbau des gegen sie gerichteten tunesischen Sicherheitssektors durch die Bundesrepublik und die EU kritisiert und gestoppt werden muss.

Anmerkungen

[1]          Ausführliche Informationen zu den Ertüchtigungsvorhaben der Bundesregierung in Tunesien, finden sich in der IMI-Studie Nr. 9/2017. Ertüchtigung Tunesiens: Gendarm Europas auf Kosten der Demokratie?

[2]          Wirtschaftliche Daten stammen aus folgendem Artikel: Ghilès, F. (2018): Sept ans après le Printemps arabe, la Tunisie face à un avenir in certain. Kapitalis 22.01.2018.

[3]                     Es sieht u.a. eine Erhöhung der Mehrwertsteuer von 18 auf 19 Prozent und eine             deutlichen Anstieg der Preise für Obst, Gemüse, Heizöl, Benzin, Trinkwasser, Brot,     Kaffee, alkoholische Getränke und Internet vor.

[4]          Machrouu Tounes bezeichnet sich selbst als eine nationalistisch, linksliberale und     progressive Partei und ist eine Abspaltung von Nidaa Tounes.

[5]          „Repression of attacks against armed forces”

[6]          Statistische Daten von 2015: 58,63 Prozent durch Erhängen, 15,89 Prozent durch             Selbstverbrennung

[7]          u.a.: Klebstoff, Psychopharmaka, Subutex (synthetisches Opiat), Cannabis, Kokain,   Ecstasy

 

            Bibliographie

Djaziri, M. (2018): Tunisie : Les causes profondes de la révolte d‘un peuple pacifique. Kapitalis 20.01.2018.

Hamouchene, H. (2017): Jemna in Tunisia: an inspiring land struggle in North Africa. OpenDemocracy 13.04.2017.

Mourad, S. (2018): Tunisie: Youssef Chahed demande à ne pas exagérer à propos de la hausse des prix. Tunisie Nummerique 09.01.2018.

Reuters (2018): Mehr als 200 Festnahmen nach Krawallen in Tunesien. Süddeutsche Zeitung 11.01.2018.

Szakal, V. (2016): In Jemna, a social experiment against State policies. Nawaat 27.09.2016.