IMI-Analyse 2017/21

Europas Migrationsabwehr Hoch Drei

Die fortschreitende Militarisierung entlang Europas äußeren, vorverlagerten und inneren Grenzen

von: Jacqueline Andres | Veröffentlicht am: 8. Mai 2017

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Diese Analyse erschien in der IMI-Broschüre „Kein Frieden mit der Europäischen Union“. Sie beschäftigt sich sowohl mit der inneren wie auch äußeren Militarisierungsdynamik sowie linken Perspektiven angesichts der immer aggressiver agierenden EU-Politik.

Die Broschüre (64S A4) kann hier gratis heruntergeladen oder in zum Preis von 3,50 Euro (zzgl. Porto) bzw. 3 Euro (ab 10 Ex. zzgl. Porto) bestellt werden. Bestellungen bitte an imi@imi-online.de

 
Mit dem Voranschreiten der Militarisierung und Technologisierung der EU-Migrationspolitik vergrößert sich eine klaffende Diskrepanz zwischen der die Menschenrechte achtenden und den Frieden fördernden Selbstdarstellung der EU und ihren politischen Maßnahmen. Seit Juni 2015 wurden drei Militärmissionen ins Leben gerufen, um Schleusernetzwerke zu bekämpfen und offiziell somit Migrant_innen vor dem Ertrinken im Mittelmeer zu „bewahren“. Doch die Anzahl der Todesfälle stieg im Jahr 2016 auf ein Rekordhoch.[1] Die voranschreitende Militarisierung des Mittelmeeres macht jedoch nur einen Bestandteil des EU-Grenzregimes aus. Allgemein sind die Versuche der Migrationskontrolle durch die EU in drei Ebenen aufteilbar: in die Vergrenzung entlang der äußeren, vorverlagerten und inneren Grenzen. Bereits seit der Schaffung des Schengenraums bemühten sich die Mitgliedstaaten um eine Etablierung und Sicherung der EU-Außengrenze, sowie um eine Zusammenarbeit mit Herkunfts- und Transitstaaten in der Migrationspolitik und ließen seit dem Abkommen von Schengen, die rechtlichen Möglichkeiten offen, den „freien“ Personenverkehr zu kontrollieren und zu steuern. Doch innerhalb der letzten Jahre intensivierte die EU diesen dreiteiligen Vergrenzungsprozess, der mehr denn je verdeutlicht, dass die Sicherheit, Rechte und Würde von Migrant_innen für die vorrangige Vision einer Migrationskontrolle bereitwillig aufs Spiel gesetzt werden.

EU-Außengrenzen: Zäune, Militärmissionen und Überwachung

Die Militarisierung der EU-Außengrenzen schreitet einerseits mit neu errichteten Grenzzäunen bzw. -mauern voran. Abgesehen von den berüchtigten Grenzzäunen der spanischen Enklaven Ceuta und Melilla, die bereits 1993 bzw. 1996 an der marokkanischen Mittelmeerküste errichtet wurden, erstrecken sie sich mittlerweile auch zwischen Bulgarien und der Türkei und trennen im Norden der EU Norwegen, Estland und Lettland von Russland. Zusätzlich bekämpfen im Mittelmeer ganze drei Militäroperationen – an denen sich die Bundeswehr maßgeblich beteiligt – offiziell Schmuggler_innennetzwerke. Dazu zählt die seit Juni 2015 aktive Operation European Naval Forces Mediterranean (EUNAVFOR MED), welche das Seegebiet des Libyschen Meeres patrouilliert. Die Europäische Union rief diese Operation ins Leben, nachdem die Bundesregierung als Reaktion auf zwei große Schiffsbrüche die Fregatte „Hessen“ und den Einsatzgruppenversorger „Berlin“ ins Mittelmeer schickte. Das Konzept der EU-Mission besteht aus unterschiedlichen Phasen: Zunächst sollte die Mission ein Lagebild erstellen und dann – in der aktuellen Phase – verdächtige Schiffe in internationalen Gewässern anhalten, kontrollieren und die von Schmuggler_innen benutzten Boote konfiszieren und gegebenenfalls zerstören. In der darauf folgenden Phase weitet sich der Einsatzbereich auf die libyschen Gewässer aus und in einer potenziellen Abschlussphase ist eine Entsendung von Bodentruppen zur Bekämpfung von Schmuggler_innen auf libyschem Territorium vorgesehen.[2]

Federica Mogherini, die Hohe Vertreterin der EU für Außen- und Sicherheitspolitik, schlug den EU-Mitgliedsstaaten im September 2016 vor, den Namen der Mission von EUNAVFOR MED in Anlehnung an das im August 2015 auf der Fregatte „Schleswig-Holstein“ geborene Kind einer von den Soldat_innen geretteten somalischen Frau, in Operation Sophia umzubenennen: „Damit ehren wir die Leben der Menschen, die wir retten, die Leben der Menschen, die wir beschützen wollen, und damit senden wir die Nachricht in alle Welt, dass die Bekämpfung von Schmugglern und krimineller Netzwerke eine Art ist, um Menschenleben zu beschützen.“[3] Laut eines von Wikileaks veröffentlichten Halbjahresbericht des Kommandeurs der Mission, Enrico Credendino, passten die Schmuggler_innen ihr Geschäftsmodell an die erhöhte Militärpräsenz schlicht an und verwendeten nun unsicherere Gummiboote statt der zuvor genutzten Holzboote.[4] Damit steigt das Risiko eines Schiffbruchs und folglich auch die Zahl der Opfer des europäischen Grenzregimes. In dem gleichen Bericht betont Admiral Credendino eine andere von der EU-Mission ausgehende Nachricht: „Die EU ist in der Lage, eine militärische Operation innerhalb einer Rekordzeit auf die Beine zu stellen und zeigt dabei eine starke Entschlossenheit und eine bemerkenswerte Einigkeit, ihr gemeinsames Ziel zu erreichen“.[5] Im Juni 2016 erweiterte der Rat der Europäischen Union die Mission um zwei zusätzliche Unterstützungsaufgaben: die eingesetzten Streitkräfte sollen auch die durch den UN-Sicherheitsrat autorisierte Durchsetzung des Waffenembargos gegen Libyen garantieren und den libyschen Küsten- und Grenzschutz ausbilden. Dies ist kritisch zu bewerten, da diese Versuche im Rahmen der European Border Assistance Mission (EUBAM) Libya im Jahr 2013 u. a. scheiterten, als sich ein Teil der ausgebildeten Kräfte im Bürgerkrieg General Chalifa Haftar anschloss.[6] EUBAM Libya wurde aufgrund der Sicherheitslage nach Tunesien verlegt. Die Ausbildung ehemaliger Milizengruppen zum Küstenschutz ist ein heikles Unterfangen, da keine staatliche Institution eine tatsächliche Kontrolle über die Ausgebildeten gewährleisten kann. Zudem ereigneten sich im Laufe der vergangenen Monate mehrere Angriffe des libyschen Küstenschutzes auf nicht-staatliche Organisationen, die versuchen, Rettungsaktionen im Mittelmeer durchzuführen.

Die zweite Mission, der NATO Ägäis-Einsatz, wurde zu Beginn des Jahres 2016 auf Initiative der Bundesregierung mit der türkischen und griechischen Regierung konzipiert. Dieser Einsatz zielt offiziell ebenfalls durch Lagebilderstellung, Aufklärung und Informationsgewinnung auf eine Zerschlagung der Netzwerke von Schmuggler_innen ab – doch der Einsatzbereich umschließt zugleich auch den Zugang der russischen Marine vom Schwarzen ins Mittelmeer und zu ihrem dortigen Militärstützpunkt in der syrischen Hafenstadt Tartus. Diese Mission ist eine diplomatisch geschickte Lösung, um eine permanente Militärpräsenz unweit der Kriegsgeschehnisse in Syrien und der Türkei zu begründen. Bestätigung findet diese Annahme u. a. in der von hochrangigen NATO-Strategen – wie u. a. Karl-Heinz Kamp, dem Präsidenten der Bundesakademie für Sicherheitspolitik – erstellten und vom German Marshall Fund im März 2016 veröffentlichten Studie „Nato in a World of Disorder“: „Russland wird seine Rückkehr als Sicherheitsakteur am Mittelmeer konsolidieren […]. Ein Resultat dessen wird das Ausgreifen von militärischen Risiken zwischen der NATO und Russland nach Süden sein, zum Schwarzen Meer und dem östlichen Mittelmeer.“[7] Die Autor_innen der Studie plädieren daher für eine „robustere Rolle im Süden“ der NATO. Vorgesehen ist in der Mission, gerettete Migrant_innen wieder in die Türkei zurückzuweisen, es sei denn, diese haben eine türkische Staatsangehörigkeit. Damit wird die noch im Jahr 2012 vom EU-Menschrechtsgerichtshof in Straßburg als illegales Handeln eingestufte Methode der Rückweisungen[8] auf Hoher See normalisiert und politisch rehabilitiert.

Als Bindeglied zwischen diesen beiden Missionen fungiert seit Oktober 2016 die im gesamten Mittelmeerraum aktive NATO Operation Sea Guardian. Sie knüpft mit einer Umbenennung und Mandatsänderung auf die im Zuge der Ausrufung des Bündnisfalles 2001 kreierte Anti-Terror-Mission Active Endeavour an. Streitkräfte auf Durchfahrt sollen in sie eingegliedert werden und einerseits Informationsgewinnung und Aufklärung an die genannten Missionen weitergeben und zugleich ebenfalls das Waffenembargo gegen Libyen durchsetzen.

Gemein ist allen drei aufgeführten Missionen ihr unklares Missionsende, ihre dynamische Ausweitung der ihr zugrunde liegenden Mandate und ihre Anspruchserhebung auf eine permanente Kontrolle des wirtschaftlich und geopolitisch wichtigen Mittelmeeres. Sie schaffen ein Laboratorium, um das Zusammenarbeiten unterschiedlicher Sicherheitskräfte, Ministerien und Staaten zu üben – auch im Hinblick auf die Anwendung neuer Technologien und Überwachungssysteme. Entgegen offizieller Aussagen der EU besteht keinerlei politischer Wille, das kontinuierliche Sterben von Migrant_innen zu beenden. Die Verantwortung schreiben unterschiedlichste Regierungsvertreter_innen und Repräsentant_innen der EU den Schmuggler_innen zu, die es zur Rettung der Migrant_innen zu bekämpfen gelte. Dabei sind es die fatale von der EU gestützte neoliberale Wirtschaftspolitik, die Stärkung repressiver Diktaturen durch Waffenexporte und den Aufbau von Sicherheitsapparaten im Rahmen von EU-Programmen und die zahlreichen Militäreinsätze, die den Menschen jegliche Zukunftsperspektive im eigenen Land nehmen und sie dazu antreiben, die riskante Reise zu wagen. Doch die lebensgefährliche Reise an Europas Grenzen beginnt für viele nicht und endet auch nicht im Mittelmeer.

EUropas Grenzvorverlagerung

Die Grenzvorverlagerung in die Herkunfts- und Transitländer schreitet seit der Gründung der europäischen Grenzschutzagentur FRONTEX im Jahr 2004 kontinuierlich voran. Im Prinzip besteht die Grenzvorverlagerung vor allem aus folgenden vier Komponenten: Rückführungsabkommen zur erleichterten Abschiebung unliebsamer Flüchtlinge, Errichtung so genannter Auffanglager in den Transit- und Herkunftsländern, Ausbildung lokaler Grenzschützer_innen und anderer „Sicherheitskräfte“ sowie aus ihrer materielle Ausrüstung.

Zu den frühen Beispielen der Grenzvorverlagerung zählt die Zusammenarbeit Spaniens mit Senegal, Mauretanien und Marokko. Während die Kanaren im Jahr 2006 noch eines der Hauptankunftsziele von Migrant_innen aus Westafrika waren, versperrte diese multi-laterale Kooperation mit der FRONTEX-Operation Hera diesen Durchfahrtsweg für die Migrant_innen größtenteils. Der im gleichen Jahr als Plattform ins Leben gerufene Rabat-Prozess stärkte einen Zusammenschluss in der Migrationsbekämpfung entlang der so genannten westlichen Migrationsroute. Zu den Initiatoren dieses Prozesses, welcher auch unter dem Namen „Euro-Afrikanischer Dialog“ bekannt ist, zählen Frankreich, Spanien, Marokko und Senegal. Mittlerweile ist er zu einer von 27 afrikanischen und 31 europäischen Ländern gemeinsam mit der Europäischen Kommission und der des westafrikanischen ECOWAS-Verbunds gestützten Plattform angewachsen.[9] Im Laufe des letzten Jahrzehnts wurden darüber hinaus zahlreiche bilaterale Abkommen zur erleichterten Rückführung aus Europa und zur Stärkung von Grenzkontrollmechanismen in den Herkunfts- und Transitstaaten abgeschlossen. Einen neuen deutlichen Anschub erhielt die Grenzvorverlagerung im Jahr 2014 nach dem Europa-Afrika-Ministertreffen in Rom. Dort beschlossen Regierungsvertreter_innen aus insgesamt 58 europäischen und afrikanischen Staaten, den Khartum-Prozess als ostafrikanisches Pendant zum Rabat-Prozess. Bei dem Treffen im ägyptischen Sharm-el-Sheikh im April 2015 stellte der Lenkungsausschuss (bestehend aus der EU-Kommission, dem Europäischen Auswärtigen Dienst, Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Italien, Malta auf der europäischen und der Afrikanischen Union, Ägypten, Äthiopien, Sudan und Südsudan auf der afrikanischen Seite) einen Aktionsplan auf, der unter anderem ein von Italien finanziertes Trainingszentrum an der Polizeiakademie in Ägypten vorsieht, in dem Sicherheitsbeamt_innen der in den Khartum-Prozess einbezogenen Länder ausgebildet werden sollen. Gemeinsam mit Italien ist die Bundesregierung laut dem Aktionsplan u. a. zuständig für Informationsstellen für Migrant_innen entlang der so genannten ostafrikanischen Migrationsroute. Die Bundesregierung sicherte ebenfalls die Unterstützung für die Sicherheit und Bildung in und um Aufnahmezentren am Horn von Afrika und bei der Entwicklung nationaler Strategien zur Implementierung der gegen organisierte transnationale Kriminalität gerichteten Palermo Konvention.[10] Nur wenige Monate nach dem Treffen des Lenkungsausschusses in Sharm el Sheikh wurde die Forderung nach einer Umgestaltung der von der EU beauftragten Grenzschutzagentur FRONTEX zum Europäischen Grenz- und Küstenschutz laut. Etwa ein Jahr später nahm dieser im Oktober 2016 mit (Exekutiv-)Befugnissen, erhöhter Personal- und Materialausstattung sowie mit einem Mandat zur Ausweitung der Zusammenarbeit mit Drittländern. Während FRONTEX im Jahr 2005 noch ca. €4 Mio. erhielt, sollen die Ausgaben für den Europäischen Grenz- und Küstenschutz bis 2020 bei rund €322 Mio. liegen.[11] Die Entwicklung verschärfte sich entlang der Grenzvorverlagerung nochmals durch den neuen, von der EU im Juni 2016 verabschiedeten Migrations-Partnerschaftsrahmen. In ihm rückt die EU nicht nur die Migrationsabwehr in den Fokus ihrer Außen- und Sicherheitspolitik, sondern erklärt die Zusammenarbeit in der Migrationsabwehr als Grundvoraussetzung zum Erhalt europäischer Entwicklungsgelder. Ziel ist es u. a., vor allem in den zur Priorität erhobenen Ländern Äthiopien, Mali, Niger, Nigeria und Senegal die Schleuseraktivitäten in Bezug auf Migrant_innen unterbinden, die Zusammenarbeit mit EUROPOL sowie dem Europäischen Grenz- und Küstenschutz FRONTEX zu stärken und die Rückführung abgelehnter Asylantragsteller_innen deutlich zu erhöhen.[12] Vorbild dieser Strategie ist der Türkei-Deal, in dem die EU der Türkei bis 2018 €6 Milliarden im Gegenzug zu einer strikten Grenzkontrolle und der Rücknahme abgeschobener Flüchtlinge anbot.

Eine zunehmend prominente Rolle nimmt die deutsche Gesellschaft für internationale Zusammenarbeit (GIZ) in der europäischen Migrationsbekämpfung ein. U. a. führt die GIZ ein europäisches Konsortium für das €40 Millionen teure Projekt „Better Border Management“, welches im Rahmen des Khartum-Prozesses entstand. Offiziell steht nach Angaben der Bundesregierung „die Unterstützung der Länder am Horn von Afrika beim Migrationsmanagement, dem Schutz von Migranten, Information über die Gefahren irregulärer Migration sowie der Bekämpfung des Menschenhandels und der Schleuser“ im Zentrum des Vorhabens.[13] Auch bilaterale Abkommen verstärken die Grenzvorverlagerung der EU-Außengrenzen. Im März 2017 reiste Bundeskanzlerin Angela Merkel beispielsweise nach Nordafrika, um mit der tunesischen und ägyptischen Regierung Abkommen bezüglich der Migrationsabwehr zu schließen. Dabei bekräftigte der ägyptische Präsident Abdel Fattah al- Sisi seine Bereitschaft, enger in der Migrationsbekämpfung zusammenarbeiten zu wollen[14] und der tunesische Präsident Béji Caïd Essebsi sicherte zu, innerhalb von 30 Tagen Identifizierungsanfragen aus Deutschland zu beantworten.[15] Deutschland will im Gegenzug dazu ein Registrierungssystem in Tunesien aufbauen, welches verspricht Abschiebungen zu erleichtern. Das bedeutendste Problem bei Abschiebungen aus der EU stellt die durch fehlende Ausweise schwierige Identifizierung der betroffenen Person dar. Ein Abgleich von biometrischen Datenbanken könnte die Identifizierung und damit auch den Abschiebungsprozess erheblich erleichtern und beschleunigen.

Die Grenzvorverlagerung bringt beachtliche Vorteile für die EU mit sich, denn mit ihr kann die EU auch die mit der Migrationsabwehr einhergehenden Rechtsverletzungen vorverlagern. Die EU ermutigt durch ihre an Kooperation im Bereich der Migrationsbekämpfung gebundene Finanzhilfen Herkunfts- und Transitstaaten, in denen eine desolate Menschenrechtslage besteht, zum Foltern, zu Rechtsverletzungen und Rücknahme von Migrant_innen anderer Nationalitäten. Die oftmals tödliche Migrationsabwehr findet zunehmend fernab der europäischen Öffentlichkeit in Afrika und in Asien statt. Doch nichtsdestotrotz kommen auch innerhalb der EU Grenzzäune und -kontrollen immer deutlicher zu Vorschein.

Die innere Vergrenzung EUropas

Seitdem Ungarn im Jahr 2015 einen 175km langen und 4m hohen Grenzzaun zu Serbien bauen ließ, schotteten zahlreiche europäische Staaten ihre Grenzen durch physische „Barrieren“ ab. Dazu zählen die Grenzzäune bzw. Mauern entlang der Grenze zwischen Mazedonien und Griechenland, Slowenien und Kroatien sowie zwischen Österreich und Ungarn. Meist wird dafür Klingendraht, auch NATO-Stacheldraht genannt, verwendet. Wichtigster Hersteller dieses Stacheldrahts ist das Unternehmen European Security Fencing aus der andalusischen Stadt Malagà.[16] Zahlreiche Staaten führen unter der Anwendung des Racial Profilings Grenzkontrollen durch, um illegalisierte Migrant_innen und Geflüchtete von ihrer Weiterreise abzuhalten. Dazu zählen u. a. die zunächst bis zum 11. Mai 2017 genehmigten Grenzkontrollen zwischen Deutschland und Österreich, Österreich und Slowenien sowie Ungarn, Dänemark und Deutschland und entlang der Häfen von Norwegen, Dänemark und Schweden.[17] Die Kontrollen der Grenzen werden jedoch nicht nur von Sicherheitsbeamten durchgeführt: In Ungarn lobte der Ministerpräsident Boyko Borisov den verschiedenen freiwilligen Milizen für ihre Kooperation mit der Grenzpolizei im Kampf gegen die illegalisierte Migration. Zu ihnen zählt die „Zivile Garde zum Schutz der Frauen und des Glaubens“, welche Migrant_innen festnimmt, bedroht, misshandelt und u. a. in die Türkei zurück bringt.[18]

Zu den prominenten Beispielen umkämpfter und militarisierter Grenzorte innerhalb EUropas zählen die nordfranzösische Hafenstadt Calais und die norditalienische Küstenstadt Ventimiglia. Seit bereits mehr als einem Jahr führen die französische Grenzpolizei PAF und die Gendarmerie systematische Grenzkontrollen entlang der Côte d‘Azur durch, wobei sie Personen ohne gültige Papiere oftmals unrechtmäßig nach Italien zurückschieben. Nach dem Anschlag in Nizza im Juli 2016 weitete der französische Verteidigungsminister die Operation Sentinelle, welche seit Januar 2015 mit rund 10.000 bis 15.000 Soldat_innen die „innere Sicherheit“ der Republik sichern solle, auf die italo-französische Grenzregion und Touristenziele aus.[19] Auch auf der italienischen Seite widmet sich ein Militäreinsatz, Operation Strade Sicure (Sichere Straßen) seit 2007 u. a. der Migrationskontrolle. Zu dieser gehören auch die am Bahnhof von Ventimiglia stationierten Einheiten, die gemeinsam mit der Polizei und Fahrtkartenkontrolleur_innen Migrant_innen ohne die erforderlichen Papiere an der etwa zehnminütigen Fahrt nach Frankreich hindern. Die hohe Dichte an Polizei und Soldat_innen zwingt die Migrant_innen dazu, sich zunehmend riskantere Wege abseits von kontrollierbaren Straßen zu suchen, um Frankreich zu erreichen. Seit August 2016 wurden mindestens fünf Menschen entlang der Autobahn oder auf den Zuggleisen überfahren.[20] Nachdem die italienische Stadt Como an der Schweizer Grenze aufgrund der verstärkten Grenzüberwachung zwischen Ventimiglia und Menton eine zunehmend wichtige Rolle als Transitort einnahm, setzte die Schweiz im Sommer 2016 mindestens eine mit Infrarottechnologie ausgestattete Militärdohne im Grenzgebiet zu Italien ein.[21]

Jegliche Form der Selbstorganisation und der Solidarität wird in der Stadt Ventimiglia durch die lokalen Politiker_innen und die Polizei unterbunden. Um nur einige Beispiele zu nennen, wurde unter anderem das selbst organisierte Flüchtlingscamp bei Balzi-Rossi unweit des Grenzübergangs zwischen Ventimiglia und Menton im Sommer 2015 geräumt und darauf folgend auch ein Free-Spot in der Stadt selbst. Die mittlerweile gemieteten Räume des Free Spots in Camporosso, unweit von Ventimiglia, waren wiederholt Ziel von Razzien. In einem weiteren Schritt der Kriminalisierung von Solidarität ordnete der Bürgermeister Ventimiglias, Enrico Ioculano, im August 2016 an, es sei aus hygienischen Gründen nicht mehr zulässig, Migrant_innen, Geflüchteten, Wohnungslosen und generell Menschen in Not mit Nahrungsmitteln zu versorgen.[22] Die italienische Polizei wendete im Sommer 2016 vermehrt die Strategie an, die an der Grenze aufgehaltenen Migrant_innen in den Süden des Landes nach Taranto oder sogar auf die Insel Sardinien „zurück“ zuschicken. Die gleiche Strategie, in Grenznähe Ansammlungen von selbst-organisierten Migrant_innen zu zerschlagen und auf die Zentren im Landesinneren zu verteilen, wurde auch in der norditalienischen Stadt Como, in der nordgriechischen Stadt Idomeni unweit der Grenze zu Mazedonien und in der nordfranzösischen Stadt Calais am Ärmelkanal angewandt. Selbst in Paris, dem Sprungbrett vieler Migrant_innen auf dem Weg nach Calais, wurden wiederholt selbst-organisierte Strukturen um die Metrostation La Chapelle und später in Jaures und Stalingrad geräumt.

Das selbst organisierte Camp von Calais ist im Laufe der letzten Jahre fast schon zu einer kleinen Stadt mit eigenen kommerziellen Strukturen angewachsen – es bildete sich nicht nur ein Raum der Durchreise, sondern auch ein Ort der Permanenz derjenigen, denen Europa keinen Platz geboten hat. Menschen, die aus anderen europäischen Staaten abgeschoben werden sollten oder keine Arbeitserlaubnis erhielten, lebten an dieser abgezäunten und streng überwachten Küste des verregneten Nordfrankreich in einer Art einzig „freien“ wenn auch nicht unproblematischen Raum.

Die offensichtliche Vergrenzung nach innen zeigt, dass der Schengenraum zahlreiche rechtliche Ausnahmeregeln geschaffen hat, die weiterhin eine Kontrolle des Personenverkehrs ermöglichen und dieser faktisch nie komplett frei war. Die Kontrollen zwingen an erster Stelle illegalisierte Migrant_innen zu riskanteren Strategien der Grenzüberwindung oder drängen sie in die Arme von Schlepper_innen innerhalb der EU selbst. Doch auch ihre Unterstützer_innen, die eine Unionsbürgerschaft besitzen, sind durch die Grenzkontrollen betroffen und erhalten u. a. Einreiseverbote in bestimmte EU-Mitgliedsstaaten. Durch die ständige Verlängerung der als „vorübergehenden Ausnahmekontrollen“ erklärten Maßnahmen normalisieren die EU-Mitgliedsstaaten die Binnengrenzkontrollen und etablieren somit eine Neudefinition des Schengenraums.

Friedensbewegung vs. EU Migrationsabwehr³

Eine beachtliche Lücke liegt zwischen dieser tödlichen Politik und der offiziellen Selbstdarstellung der EU, in der es heißt: „2012 wurde die EU für ihren Einsatz für Frieden, Versöhnung, Demokratie und Menschenrechte in Europa mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet. Eines der Hauptziele der EU ist es, die Menschenrechte sowohl innerhalb ihrer Grenzen als auch weltweit zu fördern. Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und Wahrung der Menschenrechte – dies sind die Grundwerte der EU.“[23] Die Friedensbewegung kann hier ansetzen und diese Diskrepanz hervorheben. Darüber hinaus kann die Friedensbewegung Orte der Militarisierung und Vergrenzung in der eigenen Umgebung ausmachen, um sie als sichtbare Orte potenziellen Protests zu etablieren. Zu diesen zählen Stützpunkte der an der Migrationsbekämpfung beteiligten Bundeswehreinheiten, der Rüstungs-, Sicherheits- und Überwachungsindustrie sowie in die Forschung von Grenztechnologien eingebundene Institute. Zahlreiche Rüstungs- und Sicherheitsunternehmen bedienen einerseits Kriegsakteure und ermöglichen andererseits die Militarisierung von Grenzen, um die durch die Kriege vertriebenen Personen daran zu hindern, Europa zu erreichen. Zeitgleich funktioniert diese kostspielige Technologisierung des Grenzschutzes nicht – Migrant_innen finden bis jetzt immer Wege, nach Europa zu gelangen, auch wenn diese immer riskanter werden. Außerdem funktionieren viele der zahlreichen Überwachungssysteme schlichtweg nicht. Ein Beispiel wäre das EUROSUR, welches theoretisch seit 2013 operativ sein sollte, doch faktisch fehlt vielerorts noch das National Coordination Centre, welches in allen beteiligten Staaten errichtet und mit den anderen vernetzt werden sollte, um im Zusammenspiel ein flächendeckendes Bild der EU-Außengrenzen in Echtzeit zu erstellen. Wie ein Flüchtling bei der Räumung des so genannten „Jungle“ von Calais sagte, könnte die EU die Grenzen bis hoch in den Himmel ziehen, Menschen würden sie dennoch weiterhin überwinden. Selbstorganisation und Solidarität ziehen diese Diskrepanz zwischen den politischen Entscheidungen der EU und ihres Diskurses in das öffentliche Licht und gefährden die ideologische Hegemonie einer Menschenrechte achtenden und Frieden fördernden EU. Umso wichtiger ist es, der zunehmenden Kriminalisierung von Solidarität und den Zerschlagungsversuchen von Selbstorganisation standzuhalten und zu betonen, dass Geflüchtete keine Gefahr sind, sondern dass sie in Gefahr sind – und die EU sie in Gefahr bringt.

Anmerkungen

[1]  Mediterranean death toll soars, 2016 is deadliest year yet, unhcr.org, 25.10.2016

[2] Factsheet: European Union Naval Force – Mediterranean Operation Sophia, eeas.europa.eu, 14.02.2017

[3] Factsheet: European Union Naval Force – Mediterranean Operation Sophia, eeas.europa.eu, 14.02.2017

[4] EUNAVFOR MED – Operation SOPHIA, Six Monthly Report: June, 22nd to December, 31st 2015, wikileaks.org, 19.01.2016, S.7

[5] Ebd., S.4

[6] Matthias Monroy: Von der EU aufgebaute „Grenzschutztruppen“ in Libyen verselbständigen sich, heise.de, 29.05.2014

[7] Baranowski, Michal und Lete, Bruno: NATO in a World of Disorder: Making the Alliance Ready for Warsaw, German Marshall Fund, März 2016 , gmfus.org, S. 16

[8] ECtHR: Hirsi Jamaa and Others v. Italy, cmiskp.echr.coe.int, 23.02.2012

[9] Partner countries and organisations, processus-de-rabat.org

[10] Rat der Europäischen Union: Steering Committee meeting of the EU-Horn of Africa Migration ‚Route Initiative (Khartoum Process), Sharm El Sheikh Plan of Action, statewatch.org, 25.04.2015

[11] Europäische Kommission: Fact Sheet European Agenda on Migration, europa.eu, 15.12.2015

[12] Europäische Kommission: Migration Partnership Framework, eeas.europa.eu

[13] Drucksache 18/11307: Das „Polizeiprogramm Afrika“ der Deutschen Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) GmbH und andere Kooperationen mit afrikanischen Polizeieinheiten, dipbt.bundestag.de, 21.02.2017

[14] Die Zeit: Merkel wirbt für vielfältige Zivilgesellschaft, zeit.de, 02.03.2017

[15] Die Zeit: Deutschland schließt Abschiebedeal mit Tunesien, zeit.de, 03.03.2017

[16] Matthias Monroy: „Klingendraht 22″ aus Spanien. Das Symbol der Festung Europa, heise.de, 14.09.2015

[17] Temporary Reintroduction of Border Control, ec.europa.eu, 10.03.2017

[18] Bulgarian state supports racist groups which are hunting for migrants, bulgaria.bordermonitoring.eu, 13.04.2016

[19] Soazig Le Nevé: Sentinelle, une opération guettée de toutes parts, acteurspublics.com, 18.07.2016

[20] Mario Guglielmi: Ventimiglia, quarto migrante morto nei pressi del confine tra agosto ed oggi, rivierapress.it, 05.02.2017

[21] Francesca Sironi: Droni, controlli, pattuglie: così la Svizzera dà la caccia ai migranti al confine, espresso.repubblica.it, 18.08.2016

[22] Il sindaco. «Non date cibo ai migranti fuori dai Centri. Rischiano infezioni», ilsecoloxix.it, 13.08.2016

[23] Die EU –Kurz gefasst, europa.eu