IMI-Analyse 2016/031 - in: AUSDRUCK (August 2016)

Bittere Pille für den Frieden?

Weißbuch zur Sicherheitspolitik Deutschlands und zur Zukunft der Bundeswehr

von: Andreas Seifert | Veröffentlicht am: 1. August 2016

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10 Jahre hat man warten müssen, bis das neue Weißbuch letztlich am 13. Juli erschien.[1] Dabei gab es schon seit über einem Jahr vorsichtige Versuche, Ideen in einer Debatte zu platzieren, die sich den Anschein eines Beteiligungsprozesses gab [2], wie jüngst die Vorstellung einer Europäischen Globalstrategie (28.6.2016) [3] und, unmittelbar vor Veröffentlichung des Weißbuches, die Abschlusserklärung des NATO-Gipfels in Warschau (9.7.2016) [4]. Der zeitliche Vor- und Ablauf hat die Erwartungen an das Weißbuch steigen lassen.

Das Weißbuch, so der eigene Anspruch, soll Auskunft über die Ziele und Inhalte der deutschen Sicherheitspolitik geben. Es soll aufklären, wo die deutsche Regierung ihre Handlungsfelder sieht und mit welchen Maßnahmen sie ihre Interessen zu erfüllen gedenkt. Es wird federführend vom Verteidigungsministerium erstellt und mit anderen Ressorts abgesprochen, bevor es als Dokument der Regierung im Kabinett verabschiedet und veröffentlicht wird. Das Weißbuch soll die Grundlage weiterer Feinplanungen für die Bundeswehr sein. Als Strategiedokument gedacht ist das Weißbuch 2016 aber wohl mehr eine PR-Broschüre geworden, die vieles wiederholt und nur wenig Konkretes bereit hält. Im Folgenden sollen ein paar Schlaglichter gesetzt werden.

Sprachlicher Verpackungsmüll

Es gibt ein herausstechendes Merkmal – geradezu ein Alleinstellungsmerkmal – des Weißbuches: Es wirkt nicht nur wie eine überlange Rede der Ministerin selbst, es ist auch in weiten Strecken nicht viel mehr als die Wiederholung ihrer ureigenen Floskeln während des letzten halben Jahres. Jede*r aufmerksame Beobachter*in des Weißbuchprozesses findet in dem nun vorliegenden Text die Formulierungen ihrer ureigenen Zusammenfassungen der unterschiedlichen Workshops und Panels wieder. Im Duktus einer Unternehmensberaterin, die möglichst viele der vorgegebenen Stichwörter in einen Text packen möchte, ohne sich nach Möglichkeit irgendwo dazwischen selbst zu platzieren, wird durch die Themen geeiert und bereits vorher Beschlossenes als „Ergebnis“ einer Debatte präsentiert. Da werden Dinge wie „unter einem Brennglas“ gesehen, es sollen Konzepte und Argumente in „inklusiven Beteiligungsprozessen“ „geschärft“ werden, es werden „Hochwertfähigkeiten beübt“, „Lieferketten gehärtet“, „Wirkungsüberlegenheit erzielt“, mit „Ressourcenneuzuordnung“ werden „innovative Wege gegangen“ etc. Dergleichen Berater*innensprech mag „offen“ und „andockfähig“ für all jene klingen, die ihre Agenda in dem Papier wiedererkennen wollen (oder müssen), macht es aber doch der*dem ein oder anderen schwer, sich vorbehaltlos hinter das Papier zu werfen. Der „Arbeitskreis Darmstädter Signal – die kritischen Soldaten“ geht zum Beispiel in seiner Stellungnahme so weit, den Weißbuchprozess als „PR-Coup“ zu bezeichnen und will mit einer eigenen Webseite einen tatsächlich offenen Debattenprozess anstoßen.[5]

Die gewählte Sprache hat bei aller Verschrobenheit eine ganz klare Funktion, sie soll Rationalität und die einheitliche Durchdringung aller angesprochenen Themenbereiche verdeutlichen. Sie soll den Anschein von Konkretisierung erwecken, wo man in den Planungen selbst vielleicht noch gar nicht so weit ist bzw. über die konkrete Ausgestaltung, auch wenn sie schon fest liegt, keine Aussage treffen will. Für das „Konkrete“, so mag man unterstellen, gibt es angesichts dessen, dass es sich hier um ein Dokument der Diplomatie handelt, gewisse Grenzen; dennoch sucht man selbst die Bereiche vergeblich, die in vergangenen Weißbüchern als obligatorisch galten. So fehlen z.B. alle relevanten Kennziffern – die*der Bürger*in, wie die*der Diplomat*in, sucht vergeblich nach der Zahl der Soldat*innen, der Zahl von (einsatzfähigen) Großgeräten, der Zielgröße eines „adäquaten“ Etats etc. – die helfen könnten, die eingeleitete Trendwende (WB S.117, 119) zu verstehen. Hier für Klarheit zu sorgen, bleibt wohl anderen, noch kommenden Dokumenten vorbehalten (WB S.15).

Drei Dokumente – eine Richtung

Ein zweites Merkmal dieses Weißbuches: Es steht nicht alleine da, sondern im Kontext der von EU und NATO beschlossenen Papiere und der in Deutschland unter dem Slogan „Neue Macht – Neue Verantwortung“ geführten Debatte zu dem auch das vom Auswärtigen Amt geführte „Review 2014“ gehört. Das beinhaltet auch die inzwischen mit dem Label „Münchener-Konsens“ zusammengefasste Grundidee, also die „neue“ (sprich: oftmals militärische) Verantwortung, die Deutschland in der Welt wahrnehmen müsse, die ein Instrumentarium benötigt, das von diplomatischen und entwicklungspolitischen Maßnahmen über Sanktionen und Ertüchtigung bis zum „robusten Einsatz“ reicht.

Während der erste Teil des Weißbuches zur Sicherheitspolitik Deutschlands in vielfachen Anleihen eine Analyse des politischen Umfeldes und deutscher strategischer Prioritäten betreibt und Handlungsfelder identifiziert, wird im zweiten Teil auf die Konsequenzen für die Bundeswehr eingegangen. Der im letzten Weißbuch umstrittene Verweis auf die „Abhängigkeit“ Deutschlands von internationalen Handelsrouten, Energieressourcen und Rohstoffen ist zwar immer noch enthalten fällt aber angesichts der breitest angelegten Bedrohungen, denen sich Deutschland heute gegenüber sieht, kaum weiter auf – auch wenn auch diesmal die Frage, welche Rolle dabei die Bundeswehr spielen soll, unbeantwortet bleibt. Die Breite der „Bedrohungen“, die von Terrorismus, Cyberangriffen, fragilen Staaten über Migration bis Klimawandel reichen, deuten auf einen breit angelegten Sicherheitsbegriff hin, der sich kaum konkret mit den Mitteln des Militärs bearbeiten lässt. Scheinbar fügt sich also das Militär in seine Rolle als ein „Dienstleister“ im „Instrumentarium“ deutscher Sicherheitspolitik ein – doch mit einer nachgeordneten Rolle mag man sich dann doch nicht begnügen.

Vernetzter Ansatz – Resilienz – Hybride Kriegsführung?

Mit drei Zauberworten spielt sich die Bundeswehr wieder in die erste Reihe und sieht sich geradezu als federführend in der Gewährleistung unserer Sicherheit in allen Gebieten. Ausgangspunkt ist dabei die als unmittelbare Erfahrung interpretierte „Hybride Kriegsführung“ Russlands in der Ukraine und im Kontext des Konfliktes. Generalisierend setzen „Hybride Bedrohungen“, so das Weißbuch (S.39), an den Schwachpunkten demokratischer und offener Gesellschaften an und versuchen durch Propaganda, Cyberangriffe, finanzielle Operationen oder politische Destabilisierung, aber auch durch verdeckte militärische Operationen, unterhalb völkerrechtlicher Relevanz, das Land zu beeinflussen: „Hybrides Vorgehen verwischt die Grenzen zwischen Krieg und Frieden.“ Dem kann man nur begegnen, wenn eine „umfassende Verteidigungsfähigkeit“ ausgebaut wird, so das Weißbuch. Der schon unter den Vorgängern von Frau von der Leyen entwickelte Vernetzte Ansatz, der die enge Kooperation ziviler mit militärischen Stellen vorsieht, wird damit in neue Höhe geschraubt. So will man in „geeigneten“ ressortübergreifenden Institutionen letztlich in allen Feldern mitspielen. Die inzwischen beim Außenministerium angesiedelte Entwicklungshilfe, wie auch die Cyberabwehr, die (derzeit) dem Innenministerium zugeordnet ist, sind Felder, in denen das Verteidigungsministerium und die Bundeswehr künftig mitmischen wollen. Sie möchten dabei nicht nur partizipieren, sondern auch ihre „Kompetenzen“ einbringen, die ggf. auch erst geschaffen werden müssen (z.B. Expertise). Vorläufiger Dreh- und Angelpunkt soll dabei der Bundessicherheitsrat werden, der als Gremium gestärkt werden und zukünftig wohl als Plattform der Kommunikation zwischen den relevanten Ressorts dienen soll (WB S.57). Die keineswegs beiläufige Erwähnung sollte aufhorchen lassen – zumal deutlich wird, dass auch die „notwendigen“ Ad-hoc-Entscheidungen und Bündnisse (sprich: Kriegseinsätze) hier beschlossen werden sollen. Der Vernetzte Ansatz soll aber nicht nur als Durchdringung der Bundesverwaltung und ihrer Institutionen verstanden werden, sondern sich weiter in die Gesellschaft und Ökonomie entwickeln: „Gemeinsame Ausbildung und Übungen von staatlichen und nicht-staatlichen Akteuren für das Handeln im gesamten Krisenzyklus [soll] gefördert werden“ (WB S.59). Das damit geschaffene „Verständnis“ füreinander lässt sich leicht auch als Militarisierung der Gesellschaft deuten, die sich als Versicherheitlichung tarnt, alle betrifft, aber nur wenige Akteure umfassen wird, also anti-demokratische Züge trägt. Ziel ist es, die Widerstandsfähigkeit (Resilienz) der gesamten Gesellschaft zu erhöhen und auszubauen. In der Konsequenz bedeutet dies, dass die schon bekannte „Zivil-Militärische-Zusammenarbeit“ im Rahmen des „Vernetzten Ansatzes“ zu defensiven (und offensiven?) Fähigkeiten zum hybriden Kriegseinsatz ausgebaut werden soll – inklusive des Einsatzes im Inneren (WB S.92/93, 110).

Besonders relevant wird dies für den Bereich der Cybersicherheit, der im Weißbuch breiten Raum einnimmt (WB S.36-38, 50, 60, 82, 93, …). Soziale Medien als Informations- und Kommunikationsplattform sind besonders anfällig, die hochkomplexen Gesellschaften und ihre Wirtschaft durch ihre Vernetzung gefährdet, die Daten aller Menschen virulent – kurzum: Cyberraum ist das(!) Feld der Verteidigung der Zukunft. Bereits mit der Ankündigung eines Workshops in der Vorbereitungsphase des Weißbuches wurde dieser Bereich hervorgehoben und mit einer parallel angelaufenen Werbekampagne zur Anwerbung von IT-Experten für die Bundeswehr, mit der Aufstellung einer eigenen Einheit und mit der Zusammenfassung aller betrauten Dienststellen unter dem Kommando der Staatssekretärin Suder wurden hier auch schon Entscheidungen getroffen, die das Weißbuch allerdings nur unzureichend wiedergibt. Das Ministerium sieht hierin nur eine notwendige Konsequenz und einen überfälligen Schritt, andere sehen darin weit mehr den Anfang vom Ende eines wie auch immer von seinen Nutzern frei zu gestaltenden Internet. Die Gefahr, die hiervon ausgeht, wird sogar beschrieben: Die „Natur“ des Internet und der digitalen Kommunikation setzt klassischen Methoden der Zuschreibung kriegerischer oder aggressiver Handlungen Grenzen, die Konstruktion und „Verletzlichkeit“ moderner Systeme, auf denen unser Leben zu großen Teilen fußt, ihrem „Schutz“ ebenfalls. D.h. letztlich weiß man um die Grenzen solcher Initiativen, will aber auf alle Fälle dabei sein und rüstet nun massiv auf. Dass man damit Angriffe nicht verhindern kann und umgekehrt die Kapazitäten schafft, die zum Anlass der Gegenwehr dienen können, wird billigend in Kauf genommen. Für Nutzer*innen hier bedeutet es jedoch einen weiteren Player im Netz zu wissen, der Freiheit beschneiden will. Vielleicht schließt sich die Bundesregierung damit ungewollt den „Nationalisierungstendenzen“ des VR-chinesischen Staatspräsidenten Xi Jinping an, der für das chinesische Internet „Souveränität“ fordert und damit nicht nur alle anderen „Draußen“ halten will, sondern die eigenen Bürger*innen damit auch erfolgreich einsperrt.

Ertüchtigung und Ad-Hoc Rahmennation

Bemerkenswert in diesem Zusammenhang sind die Bestrebungen der Regierung Deutschlands, sich in Europa weiter als starker Partner und Impulsgeber zu verorten. Dabei läuft unter dem Stichwort „Ertüchtigung“ (WB S. 52) das fort, was bereits mit der Merkel-Doktrin begonnen wurde, nämlich „Partner“ zu befähigen, „ihre“ Probleme selbst zu lösen, indem man ihnen bei Konzeption, Aufbau und Ausstattung effektiver Sicherheits- und Repressionsapparate hilft. „Ertüchtigung“ sollte dabei durchaus auch bei allem Bejubeln als das kleinlaute Eingeständnis der tatsächlichen Beschränktheit eigener Einflussmöglichkeiten gewertet werden. Hier ist es die Bundesregierung, die eine „Entgrenzung“ betreibt, die sie anderen gern vorwirft: Die Hilfe beschränkt sich längst nicht mehr nur auf Staaten, sondern auch nicht-staatliche Akteure können auf die finanzielle, waffentechnische oder Ausbildungshilfe hoffen, die man offeriert. Das Spektrum der „Ertüchtigung“ umfasst aber auch zivile Maßnahmen: Es wirken alle möglichen Instrumente aus dem Baukasten deutscher Außen- und Sicherheitspolitik.

Als „Rahmennation“ innerhalb der NATO möchte die Ministerin überdies den eigenen Gestaltungsanspruch ausdehnen und anderen (kleineren) Staaten ermöglichen, sich „zum Nutzen aller“ einzubringen (WB S.68). Deutschland übernimmt hier nur allzu gern die „Führung“ und verbindet gleich den Wunsch damit, dass die anderen Staaten doch (bitteschön) ihre Aufrüstungswünsche mit dem Berliner Ministerium absprechen. Dass dabei auch noch gleich der europäische Gedanke untermauert wird und der europäische Pfeiler innerhalb der NATO aufgewertet wird, ist ein positiver Nebeneffekt. Ein anderer ist dann wie zufällig auch, dass dies auch einer der Bausteine ist, mit denen man die europäische Rüstungsindustrie effizienter weiterentwickeln möchte … unter deutscher Führung.

Dazu passend analysiert die Regierung, dass es immer öfter zur Ad-hoc-Kooperation kommen wird, an denen sich Deutschland beteiligen wird, um seinen Gestaltungsspielraum zu wahren (WB S.81). Auf dem politischen Parkett ist dies schon oft der Fall, aber auch im militärischen Bereich wird es hierzu immer häufiger kommen. Im Zusammenhang mit den Auslandseinsätzen ist dies unter dem Aspekt des Parlamentsbeteiligungsgesetzes ein durchaus strittiger Punkt, den das Weißbuch lieber allgemein in einen anderen Absatz schreibt als genau in den Teil zur Parlamentsbeteiligung. Kurzum: das Ministerium hält den rechtlichen Rahmen seiner Einsätze für zu eng und will diesen erweitern. Als Gründe hierfür werden mal wieder die kurzen Reaktionszeiten angeführt oder auch, dass es qua „Einladung“ durch den von einer Krise betroffenen Staat letztlich keiner völkerrechtlichen Legitimation durch ein System kollektiver Sicherheit (UNO) mehr bedarf. Letztlich argumentiert das Ministerium, dass die Vorgabe durch den Bundestag mandatiert zu werden im Widerspruch zur „gestiegenen Verantwortung“ Deutschlands stehe und überprüft werden müsse.

Mehr … von Allem
Mehr Personal – Mehr Waffen – Mehr Geld!

Der zweite Teil des Weißbuches entwickelt aus der Analyse des ersten Teiles unmittelbare und weitreichende Folgerungen für die Bundeswehr, unterlässt es aber, hierbei allzu konkret zu werden. Weder die bereits angedeutete Umgruppierung aller mit Informationstechnologie betrauten Dienstposten unter eine neue Führung tauchen darin auf, noch irgendwelche konkreten Zahlen sind zu finden. Das langfristige Ziel, den Verteidigungshaushalt auf die von der NATO angeregten 2 % anzuheben, bleibt als Absicht bestehen; was aber mit dem zusätzlichen Geld passieren soll, bleibt der Interpretation der Leser*innen überlassen. So mag vielleicht die Rüstungsindustrie herauslesen, dass „endlich“ wieder mehr Geld für „Investitionen“ (Waffen) ausgegeben wird, mag der Bundeswehrverband endlich die lang eingeklagten Solderhöhungen oder umfangreichere Mannschaftsstärken wiederfinden oder die*der Gleichstellungsbeauftragte endlich den lang überfälligen Verweis auf die Inklusion (WB S.123) finden, doch bleibt dies gleichsam wenig unterfüttert. Die lange Liste mit Aufgaben, zu denen nun wieder die verstärkte Landesverteidigung gehört, auch das fortgesetzte und vermehrte internationale Engagement und die die massiv auszuweitenden Aufgaben im Heimatschutz, all dies braucht mehr Geld, doch wie es letztlich verteilt wird, bleibt offen.

Es gibt umgekehrt aber schon ein paar interessante Bemerkungen, die konsequent aus dem Vernetzten Ansatz heraus entwickelt werden und einen Hinweis auf zukünftiges Vorgehen in sich bergen. So ist die an verschiedenen Stellen angesprochene „Durchlässigkeit“ zur Wirtschaft wohl als der Versuch zu werten, nicht nur an die bereits bekannten (und zum Teil nicht erfolgreichen) Betreiberlösungen zu denken, sondern sich verstärkt der zeitweisen oder auch projekt- und einsatzbezogenen Integration von Personal aus der Wirtschaft zuzuwenden. Dies würde sowohl die Hierarchien und Besoldungsstrukturen verändern, wie auch neue Prozessabläufe erfordern. Vorbild könnte hier die durch Beraterunternehmen verstärkte Beschaffung sein, die man als modernes Rüstungsmanagement lobt und als Vorbereitung für eine flexible, zukunftsfähige Lösung ausbauen möchte. Ob die teure Beteiligung von Wirtschaftsberatern allerdings mehr als nur die Produktion von Risikobewertungen („Transparenzkultur“, WB S.132) bringt, sei dahingestellt und ist bisher auch nicht bewiesen. Eine Öffnung der Bundeswehr in die Privatwirtschaft wäre aber auch in dem Feld denkbar, in dem es der Bundeswehr schwer fällt, adäquates Personal zu rekrutieren: z.B. dem IT-Bereich.

Ein anderer, nicht unspannender Punkt ist die Sicherstellung der von der Regierung als notwendige Basis begriffenen wehrindustriellen Kompetenzen. Hier will man nicht nur zukünftig, wie bisher auch, der Industrie mit Aufträgen und Hilfestellungen beim Export beiseite stehen, sondern man sieht sich auch in der Pflicht, die technologischen Grundlagen verstärkt abzusichern. Die bisher schon erbrachte Forschungs- und Entwicklungsleistung sollte fortgeführt aber, unter dem Eindruck der Veränderungen in der Forschungsorganisation und im Forschungsablauf allgemein, auch angepasst werden. Dies bedeutet einerseits, dass man an den Forschungs- und Entwicklungsleistungen anderer schneller partizipieren will, als dies in den bisherigen Strukturen möglich ist, wo die Bundeswehr erst spät als potentieller Nutzer der Technologie mit ihr in Berührung kommt. Andererseits möchte man selbst als Motor hinter solchen Entwicklungen stehen, indem z.B. Startups gefördert werden, oder man, z.B. über eine Agentur, gezielt Forschungsimpulse setzt. D.h. hier versucht das Ministerium genau in die Lücke vorzudringen, die die kaum adäquate Forschungs- und Hochschulfinanzierung gebildet hat – wer Schlimmes befürchtet, mag sich an die DARPA [6] erinnert fühlen, die in den USA als inzwischen eine der wichtigsten Forschungsfinanzier*innen auftritt. Flankiert wird dies wiederum mit der Ankündigung, dass man „gemeinsam mit dem Parlament eine Debatte über eine neue Risikomanagementkultur führen [will], die mit anspruchsvolleren Entwicklungen einhergeht“ (WB S.132). Es bewahrheitet sich in gewisser Weise das, was von Kritiker*innen schon seit längerem befürchtet wurde: Die Militarisierung der Forschungs- und Hochschullandschaft setzt sich fort und notorisch unterfinanzierte Forscher*innen bekommen Gelegenheit, patriotisch zu handeln. Mit Geld natürlich, was für eine tatsächliche und ernst gemeinte forschungsbasierte Risiko- und Krisenvorsorge dann aber fehlen wird.

Fazit

Das Weißbuch 2016 löst den 10 Jahre alten Vorgänger ab und passt die Inhalte der Zeit an – es vollzieht die Salamitaktik des letzten Jahrzehnts nach und tut so, als ob das alles so sein müsste: Ausweitung der Auslandseinsätze, Bundeswehr in mehr und mehr Lebensbereichen, fortgesetzte Verschwendung für überteuerte Rüstung, alles kein Problem und mit dem globalen Geltungsanspruch Deutschlands vereinbar.

Bereits im Vorfeld des Erscheinungstermins und im Zuge der Debatte gab es Kritik an der Grundidee eines Weißbuches, die es als überholtes Format oder auch als schädlich für eine offene Debatte ansehen.[7] Der Vorwurf, es kann schon allein deshalb keine positiven, zukunftsfähigen Sicherheitskonzepte entwickeln, weil der Fokus der Autor*innen (des Verteidigungsministeriums) zu eng auf militärischen und gewaltbasierten Lösungsmechanismen liegt, konterte das Ministerium mit dem Begriff der „menschlichen Sicherheit“. Leider hat sich diese Annahme der Kritiker*innen in großen Teilen bewahrheitet.

Umgekehrt macht es wenig Sinn, sich konstruktiv mit dem Weißbuch auseinander zu setzen, denn dies bestätigt nur seine selbst zugeschriebene Relevanz als strategisches Dokument. Vielleicht ist es besser, es zu lesen, es dann beiseite zu legen und sich der Forderung nach einem Weißbuch deutscher Friedenspolitik zuzuwenden. Bedrohungsszenarien, wie sie auch dieses Weißbuch hinter jedem Baum und Strauch hervorzaubert, sind nicht hilfreich, die Probleme der Welt wirklich anzugehen. Wer noch glaubt, dass mit militärischer Technik ein friedliches Leben zu sichern ist, stürzt sich und andere in den nächsten Konflikt. Das Anhäufen von Arsenalen und die modernste Kriegstechnologie werden die Ursachen der Konflikte, die zu den „Bedrohungen“ führen, nicht beseitigen – sie sind heute nicht einmal mehr geeignet, sie auf Abstand zu halten. „Lösungen“ sind nur in einer konsequent zivil gedachten Bearbeitung zu finden.

Anmerkungen

[1] Vorstellung des Weißbuches durch Verteidigungsministerin von der Leyen 13.7.2016 (www.bmvg.de). Das „Weißbuch 2016 zur Sicherheitspolitik und zur Zukunft der Bundeswehr“ findet sich ebenfalls dort – alle Seitenangaben beziehen sich auf diese Ausgabe.

[2] Es wurde eine Webseite eingerichtet, auf der die „Bürger“ ihre Meinung platzieren konnten (von denen bis heute nur ein Teil öffentlich ist) und Workshops durchgeführt, auf denen „Experten“ ihre Expertise abladen durften – dokumentiert ist dies unter anderem in einem Begleitheft zum Weißbuch „Wege zum Weißbuch“.

[3] Gemeinsame Vision, gemeinsames Handeln: Ein stärkeres Europa. Eine Globale Strategie für die Außen- und Sicherheitspolitik der Europäischen Union, Brüssel, 28.6.2016. Siehe hierzu auch Jürgen Wagner und Sabine Lösing, IMI-Analyse 2016/27 (Update: 14.7.2016), EU-Globalstrategie und deutsch-französische Militarisierungsoffensive (IMI-Online).

[4] Warsaw Summit Communiqué, Issued by the Heads of State and Government participating in the meeting of the North Atlantic Council in Warsaw 8-9 July 2016, Press Release (2016) 100.

[5] Siehe weissbuch.org

[6] Defense Advanced Research Projects Agency – Forschungsagentur des Department of Defense in den Vereinigten Staaten, die mit einem jährlichen Budget von ca. 3 Mrd. USD dafür sorgt, dass die militärrelevanten Forschungsfragen auch ihren Weg in die zivilen Hochschulen finden. Im Umfang ist sie damit der DFG vergleichbar, die für die Wissenschaftler*innen in Deutschland jährlich ca. 2,8 Mrd € verausgabt.

[7] Z.B. Die am IFSH angesiedelte Kommission „Europäische Sicherheit und Bundeswehr“ in ihrem Positionspapier zum Weißbuch (ifsh.de)