Quelle: Informationsstelle Militarisierung (IMI) e.V. - www.imi-online.de

IMI-Analyse 2016/27 (Update: 14.7.2016)

EU-Globalstrategie und deutsch-französische Militarisierungsoffensive

Sabine Lösing und Jürgen Wagner (06.07.2016)

Eine gekürzte Fassung dieses Artikels erschien unter dem Titel „Europäische Militarisierungsoffensive“ in der jungen Welt vom 06.07.2016.

Überschattet von der Brexit-Abstimmung verabschiedeten die europäischen Staats- und Regierungschefs beim Gipfeltreffen in Brüssel Ende Juni 2016 nahezu unbemerkt eine neue EU-Globalstrategie (EUGS). Das seit über einem Jahr unter der Ägide der EU-Außenbeauftragten Federica Morgherini ausgearbeitete Papier namens „Gemeinsame Vision, gemeinsame Aktion – ein stärkeres Europa“[1] ersetzt die bisher gültige „Europäische Sicherheitsstrategie“ (ESS) aus dem Jahr 2003. Die EUGS steckt als Grundlagendokument die allgemeinen Ziele ab, die die Europäische Union mit ihrer Außen- und Sicherheitspolitik verfolgen möchte und liefert damit die Grundlage, um nun – wahrscheinlich in einem späteren Weißbuch – eine konkrete Militarisierungsagenda zur Umsetzung dieser Ambitionen auszuarbeiten. Paradoxerweise könnte sich hier der – mögliche – Brexit als regelrechter „Segen“ für die Propagandisten einer „Militärmacht EUropa“ erweisen, da Großbritannien bislang Initiativen in diese Richtung stets ablehnend gegenüberstand. Jedenfalls gingen die Außenminister Deutschlands und Frankreichs unmittelbar nach dem britischen Referendum mit einem gemeinsamen Papier in die Offensive, in dem sie eine Reihe von Vorschlägen unterbreiten, um die EUGS mit militärischer Substanz anzureichern.

1. Unter Beschuss – nur zusammen sind wir stark!

Eines fällt gleich beim ersten Blick in das Mogherini-Papier auf: Der triumphal-optimistische Ton, der sich noch wie ein roter Faden durch den Vorgänger zog, wurde von einer deutlich düstereren Lageeinschätzung verdrängt. Die ESS 2003 wurde beispielsweise noch mit folgendem Satz eingeleitet: „Nie zuvor ist Europa so wohlhabend, so sicher und so frei gewesen. Die Gewalt der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ist einer in der europäischen Geschichte beispiellosen Periode des Friedens und der Stabilität gewichen.“[2]

Ganz offensichtlich hat sich an dieser nach Eigeneinschätzung überaus komfortablen Lageeinschätzung seitdem grundlegend etwas verändert. So wurde bereits in einem vom EU-Parlament im April 2016 verabschiedeten Entschließungsantrag zur Globalstrategie gefordert, „dass sich die Europäische Union des gesamten Ausmaßes der Verschlechterung ihres unmittelbaren strategischen Umfelds und der sich daraus ergebenden langfristigen Folgen bewusst werden muss“.[3] In der EUGS werden nicht minder pessimistische Töne angeschlagen: „Wir erleben gegenwärtig eine existenzielle Krise, innerhalb und außerhalb der Europäischen Union. Unsere Union ist bedroht. Unser europäisches Projekt, das uns in beispielloser Weise Frieden, Wohlstand und Demokratie gebracht hat, ist in Frage gestellt.“

Tenor des Ganzen ist dann aber, dass es durchaus möglich sei, sich aus dieser misslichen Lage zu befreien – und quasi als Anleitung dafür, wie dies geschehen soll, dient die EUGS. Schon unmittelbar, nachdem sie vom Europäischen Rat im Juni 2015 den Auftrag zur Ausarbeitung der Globalstrategie erhalten hatte, veröffentlichte Mogherini als eine erste Standortbestimmung einen „Strategischen Überprüfungsbericht“ („Strategic Review“), in dem der Sinn, Zweck und Anspruch des Unterfangens folgendermaßen umrissen wurde: „Die EU verfügt über alle Mittel, um in der Zukunft ein einflussreicher globaler Akteur zu sein – wenn sie gemeinsam handelt. […] In einer verflochtenen, umkämpften und komplexen Welt benötigen wir eine klare Vorstellung über die richtige Richtung. Wir müssen uns über unsere Prioritäten und Ziele und über die Mittel, wie wir sie erreichen wollen, verständigen. […] Wir benötigen eine gemeinsame, umfassende und schlüssige EU-Globalstrategie.“[4]

Die Interessen der Mitgliedsländer ließen sich, so der alles durchziehende Befund, nicht mehr nationalstaatlich durchsetzen, nur im EU-Verbund könne die für notwendig erachtete machtpolitische Schlagkraft generiert werden, um auch in Zukunft Einfluss im globalen Maßstab ausüben zu können. Auch in der EUGS selbst wird diese Überlegung aufgegriffen: „Wir brauchen ein stärkeres Europa. […] In einer komplexeren Welt der globalen Machtverschiebungen und breiteren Machtverteilung muss die EU zusammenhalten. Dass wir als Europäer – über Institutionen, Staaten und Völker hinweg – vereint zusammenstehen, ist jetzt wichtiger und dringender denn je. Noch nie wurde unsere Einheit dermaßen auf die Probe gestellt. Gemeinsam können wir mehr erreichen, als wenn jeder Mitgliedstaat allein und ohne Abstimmung mit den anderen handelt.“

2. Unsere Regeln – unsere Profite!

Fragt man nach den Interessen, für die EUropa sein gemeinsames Gewicht in die Waagschale werfen soll, stolpert man schnell über die inzwischen in mehr oder weniger jedem westlichen Strategiedokument enthaltene Forderung nach einer (militärischen) Sicherung von Rohstoff- und Handelswegen: „Verbunden mit dem EU-Interesse an einem offenen und fairen Wirtschaftssystem ist der Bedarf nach einem Wachstum der globalen Schifffahrt und nach ihrer Sicherheit, offene und geschützte Schifffahrtsrouten zu garantieren, die wesentlich für den Handel und den Zugang zu natürlichen Rohstoffen sind.“ Generell wird kaum ein Hehl daraus gemacht, welch großes Interesse daran besteht, den Regeln der neoliberalen Weltwirtschaftsordnung, von denen nicht zuletzt Deutschland als Spitzenexporteur massiv profitiert, Nachdruck zu verleihen: „Voraussetzung für eine prosperierende Union ist ein starker Binnenmarkt und ein offenes internationales Wirtschaftssystem. Wir haben ein Interesse an fairen und offenen Märkten, an der Festlegung globaler Wirtschafts- und Umweltregeln und an einem dauerhaften Zugang zu den globalen Gemeingütern über offene See-, Land-, Luft- und Weltraumwege.“

Auffällig ist in diesem Zusammenhang das flammende Bekenntnis zur TTIP, der trotz des massiven Widerstands in der Bevölkerung eine zentrale Bedeutung zugeschrieben wird: „Die EU wird eine transatlantische Handels- und Investitionspartnerschaft (TTIP) mit den Vereinigten Staaten anstreben. Ebenso wie das umfassende Wirtschafts- und Handelsabkommen (CETA) mit Kanada bezeugt TTIP das transatlantische Bekenntnis zu gemeinsamen Werten und zeigt unsere Bereitschaft, eine ehrgeizige und geregelte Handelsagenda zu verfolgen.“ Bei TTIP geht es in letzter Konsequenz vor allem darum, die Position des schwächelnden neoliberalen Westens gegenüber einer stärker staatskapitalistisch ausgerichteten Konkurrenz – vor allem China, aber auch Russland und andere – wieder zu stärken.[5]

Wie entscheidend TTIP und die mit ihm verbundene Fähigkeit, „die Regeln zu setzen“, sind, bringt der rüstungsnahe Informationsdienst „griphan Briefe“ mit beeindruckender Klarheit auf den Punkt: „Wir haben auf diesen Seiten grundsätzlich Position bezogen. Im Telegrammstil: Das Projekt einer gemeinsamen Währung ist mehr als die Möglichkeit, in Amsterdam den Kaffee in gleicher Münze zahlen zu können. Der Euro ist strategischer Partner des Dollar beim amerikanischen Bestreben, den Aufstieg Chinas einzuhegen. Europa ist Partner beim Setzen international verbindlicher Standards in Form von Good governance, anti-corruption, and the rule of law. Darum geht es beim Transatlantischen Handels- und Investitionsabkommen (TTIP): Wer die Standards setzt, schafft Märkte! Und damit sind die Globalisierung und Geoeconomics das eigentliche Narrativ; und dieser Erzählfaden hat ein – nicht unwesentliches – militärisches Kapitel.“[6]

3. Russland: Vom Partner zum Gegner

Während China in der EUGS nur am Rande erwähnt wird, widmet sich die EUGS Russland sehr intensiv – und auch in diesem Zusammenhang werden gänzlich neue Töne angeschlagen. So hieß es in der Europäischen Sicherheitsstrategie aus dem Jahr 2003 noch: „Wir müssen uns weiter um engere Beziehungen zu Russland bemühen, das einen wichtigen Faktor für unsere Sicherheit und unseren Wohlstand bildet. Die Verfolgung gemeinsamer Werte wird die Fortschritte auf dem Weg zu einer strategischen Partnerschaft bestärken.“ Demgegenüber äußert sich nun die EUGS: „Wesentliche Veränderungen in den Beziehungen zwischen der EU und Russland hängen ab von der uneingeschränkten Achtung des Völkerrechts und der Grundsätze, auf denen die europäische Sicherheitsordnung aufgebaut ist, einschließlich der Schlussakte von Helsinki und der Charta von Paris. Wir werden weder die illegale Annexion der Krim durch Russland anerkennen noch die Destabilisierung der östlichen Ukraine hinnehmen. Wir werden die EU stärken, die Widerstandsfähigkeit unserer östlichen Nachbarn erhöhen und ihr Recht, frei über ihre Haltung gegenüber der EU zu bestimmen, verteidigen.“

Diese reichlich ignoranten Aussagen klammern bewusst einige unbequeme Tatsachen aus: So etwa, dass es die NATO unter Beteiligung zahlreicher EU-Staaten war, die beim Angriffskrieg gegen Jugoslawien 1999 das Völkerrecht eklatant verletzt hatte. Auch mit der „freien Entscheidung“ der Nachbarländer ist es nicht so weit her, wie die EU Glauben machen möchte. Beispielsweise war man nicht gewillt, die Entscheidung des – in freien und fairen Wahlen an die Macht gekommenen – damaligen ukrainischen Präsidenten Wiktor Janukowitsch zu akzeptieren, im November 2013 die Unterzeichnung des strategisch wichtigen Assoziationsabkommens mit der EU auf Eis zu legen. Stattdessen wurden Proteste unterstützt, die schlussendlich zu einem Putsch und der Einsetzung einer pro-westlichen Regierung führten und die Vorgeschichte dessen abbilden, was hier als „illegale Annexion der Krim durch Russland“ bezeichnet wird.

Da die allgemeine Einschätzung darin besteht, dass die erst kürzlich wegen der ungelösten Krimfrage verlängerten Sanktionen gegen Russland dort zu keiner Kursänderung führen werden, ist ein baldiges Ende des EU-Wirtschaftskrieges aufgrund dieser Passagen in der EUGS in weite Ferne gerückt. Womöglich wird dies auch überhaupt nicht gewünscht, wie eine Besorgnis erregende Studie des „European Council on Foreign Relations“ nahe legt. Die Sanktionen würden wohl zu keiner Wiederannäherung an den Westen, sondern eher zu einem unkontrollierten „Kollaps“ Russlands führen, so die Einschätzung. Während die Studie vor einem solchen Ergebnis warnt, scheint dies aufgrund des Ziels, Russland maximal zu schwächen, von der EU zumindest billigend in Kauf genommen zu werden.[7]

Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang auch die in der EUGS häufig wiederkehrende Formulierung, man wolle die „Widerstandsfähigkeit der östlichen Nachbarn“ erhöhen. Zwar wird die aktuell gegen Russland gerichtete Aufrüstung der Ostflanke primär über die NATO organisiert, sie ist aber in eine „Strategische Kommunikationsoffensive“ eingebettet. Dabei geht es darum, gegenüber der eigenen Bevölkerung, vor allem aber in Ländern, in denen Russland und der Westen heftig um Einfluss ringen, der russischen „Propaganda“ eigene „Fakten“ – also Propaganda – entgegenzustellen, um Unterstützung für das eigene Handeln zu erhalten.[8] Dieser als „Strategische Kommunikation“ bezeichnete Bereich nimmt in den letzten Jahren an Bedeutung zu, weshalb ihm auch in der EUGS Platz eingeräumt wird: „Die EU wird ihre strategische Kommunikation verbessern, indem sie in Öffentlichkeits-Diplomatie in verschiedenen Bereichen investiert und diese Bereiche zusammenführt, um den Bürgern das auswärtige Handeln der Union nahe zu bringen und es unseren Partnerländern besser zu vermitteln. Wir werden unsere Grundsätze und unsere Maßnahmen kohärenter und rascher kommunizieren. Außerdem werden wir rasch faktenbasierte Gegendarstellungen zu Desinformation veröffentlichen.“ Einen Vorgeschmack, wie solche „faktenbasierten Gegendarstellungen“ aussehen, lieferte zum Beispiel das Auswärtige Amt, das ein Papier mit „Richtigstellungen“ veröffentlichte, mit denen russische „Behauptungen“, wie etwa in der Ukraine habe ein Putsch stattgefunden, entkräftet werden sollten. In der Realität des Auswärtigen Amts hat sich der – unter Androhung massiver Gewalt aus dem Amt gejagte – Präsident Janukowitsch „in verfassungswidriger Weise seinen Amtspflichten entzogen.“[9]

4. Nachbarschaft: Vom Freundeskreis zum Feuerring

Ein weiteres Feld, auf dem sich die Lage aus Sicht der EU ebenfalls nicht eben positiv entwickelt hat, ist der Nachbarschaftsraum. In der ESS wurde 2003 noch das Ziel ausgegeben, man wolle einen „Ring verantwortungsvoll regierter Staaten“ um die EU herum schaffen. Hierfür wurde ein Jahr später die „Europäische Nachbarschaftspolitik“ (ENP) ins Leben gerufen, die, in den Worten der damaligen EU-Außenkommissarin Benita Ferrero-Waldner, „einen ‚Ring von Freunden’ entlang der Grenzen der erweiterten EU“, eine „Zone der Stabilität und des Wohlstandes“ hervorbringen sollte, „von Osteuropa über den Kaukasus und den Nahen Osten quer durch den gesamten Mittelmeerraum.“[10]

Auch hiervon ist wenig mehr übrig geblieben, wenn es schon in Mogherinis „Strategic Review“ hieß: „Seit der Sicherheitsstrategie 2003 hat sich das strategische Umfeld der EU radikal verändert. […] Heute umgibt die EU ein Krisenbogen der Instabilität.“ Wiederum ganz ähnlich äußert sich auch die EUGS: „Im Osten wird gegen die europäische Sicherheitsordnung verstoßen, und Terrorismus und Gewalt suchen Nordafrika und den Nahen Osten und auch Europa selbst heim.“ Auch hier glänzt jede Form von Selbstkritik mit Abwesenheit, waren es doch die im Rahmen der ENP vorangetriebenen neoliberalen Assoziierungsabkommen, die in vielen Ländern mit ihrer Freihandelsagenda einen wesentlichen Beitrag zur Verarmung und Destabilisierung beigetragen haben.[11] Dennoch propagiert die EUGS die Fortsetzung genau dieser Politik: „Viele Menschen im Osten und im Süden würden im Rahmen der Europäischen Nachbarschaftspolitik (ENP) gerne engere Beziehungen mit der Europäischen Union aufbauen. […] Die ENP hat sich erneut zur Östlichen Partnerschaft und zu den Ländern des südlichen Mittelmeerraums bekannt, die engere Beziehungen zu uns aufbauen möchten. Wir werden diese Länder dabei unterstützen, Assoziierungsabkommen einschließlich vertiefter und umfassender Freihandelszonen (DCFTA) umzusetzen.“

Die Einbeziehung möglichst vieler Länder in eine großeuropäische Wirtschaftszone – ohne ihnen ein Stimmrecht bei deren Ausgestaltung einzuräumen – stellt seit Jahren ein wichtiges Ziel der Union dar. Sie werden dadurch Teil der europäischen Einflusszone, weshalb dann auch der (militärischen) „Stabilisierung“ des Nachbarschaftsraums in der EUGS große Bedeutung zugemessen wird: „Um unserer Sicherheit im Inneren willen haben wir auch ein Interesse daran, dass in den Regionen in unserer Nachbarschaft und der weiteren Umgebung Frieden herrscht.“

5. Autonom Krieg führen

Ebenfalls verändert hat sich die Haltung der USA gegenüber Rüstungsanstrengungen der Europäischen Union, die auf eine eigenständige – autonome – Kriegsführungsfähigkeit abzielen. Während Bemühungen in eine solche Richtung früher scharf abgelehnt wurden, wird dies heute von Washington als eine Möglichkeit begrüßt, Kosten auf die Verbündeten zu verlagern („Burden sharing“). Auch aus EU-Sicht hat dies seinen Reiz, vergrößert doch die Option, unabhängig von der NATO – und damit einem Veto der USA – militärisch einsatzfähig zu sein, die machtpolitische Beinfreiheit in nicht unbeträchtlichem Maße. So verwundert es nicht weiter, dass der Anspruch auf eine „autonome militärische Handlungsfähigkeit“ in der EUGS an zahlreichen Stellen auftaucht: „Die europäischen Anstrengungen auf dem Gebiet der Sicherheit und der Verteidigung sollten die EU in die Lage versetzen, autonom zu handeln und gleichzeitig zu Maßnahmen der NATO beizutragen und gemeinsam mit ihr Maßnahmen durchzuführen. Eine glaubwürdigere europäische Verteidigung ist auch für eine gesunde transatlantische Partnerschaft mit den Vereinigten Staaten von wesentlicher Bedeutung.“

In sich konsequent ist dann auch die daraus abgeleitete Forderung, sich die „notwendigen“ Kapazitäten zur autonomen Kriegsführung auch zuzulegen: „Die Mitgliedstaaten [benötigen] bei den militärischen Spitzenfähigkeiten alle wichtigen Ausrüstungen, um auf externe Krisen reagieren und die Sicherheit Europas aufrechterhalten zu können. Dies bedeutet, dass das gesamte Spektrum an land-, luft-, weltraum- und seeseitigen Fähigkeiten, einschließlich der strategischen Grundvoraussetzungen, zur Verfügung stehen muss. […] Eine tragfähige, innovative und wettbewerbsfähige europäische Verteidigungsindustrie ist von wesentlicher Bedeutung für die strategische Autonomie Europas und eine glaubwürdige GSVP.“

Das aktuelle militärische Planziel („Headline Goal“) – die Fähigkeit zwei Korps (60.000 Soldaten) mit entsprechender Bewaffnung ein Jahr durchhaltefähig stationieren zu können – soll hierfür angepasst werden: „Geeignete Zielvorgaben und strategische Autonomie sind wichtig, damit Europa fähig ist, innerhalb wie außerhalb der eigenen Grenzen den Frieden zu fördern und Sicherheit zu gewährleisten.“ Dass nicht explizit gesagt wird, worum es geht, nämlich das militärische Planziel nach oben zu „korrigieren“, dürfte wohl der parallel zur EUGS-Abfassung laufenden Brexit-Debatte geschuldet gewesen sein. Deutlicher wurde Mogherini zum Beispiel in ihrem „Strategic Review“: „Die EU kann es sich nicht leisten, das ‚V‘ aus seiner Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik zu ignorieren. […] Das aktuelle Anforderungslevel und die militärischen Kapazitätsziele sind nicht an das sich ändernde Umfeld angepasst.“[12]

Erklärtermaßen war es nicht die Aufgabe der EUGS, zu definieren, welche militärischen Fähigkeiten konkret zur Durchsetzung der formulierten Ziele erforderlich sind und wie diese beschafft werden sollen. Dem dürfte sich ein künftiges Weißbuch widmen, für dessen Erstellung der ehemalige EU-Außenbeauftragte Javier Solana in einer Studie im Auftrag der „Ratsdirektion Externe Politik“ schon im April 2016 einen detaillierten Fahrplan vorlegte: „Die Union wird den Mitgliedstaaten darlegen müssen, welche Fähigkeiten sie von ihnen insgesamt für die Umsetzung dieser Strategie benötigt, wo Bedarfslücken geschlossen werden müssen und wie die EU-Mitgliedstaaten zu diesen gemeinsamen Prioritäten beitragen können. […] Das Weißbuch gilt daher als notwendiger Baustein zur Ergänzung, Präzisierung und Umsetzung der Globalen Strategie für die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (GASP).“[13] Auch wenn mit Blick auf die Brexit-Debatte der Begriff „Weißbuch“ selbst vermieden wurde, wird diese Forderung – umschrieben als „sektorale Strategie“ – auch in der EUGS faktisch unterstützt, wenn es heißt, es müssten „im Rahmen einer sektoralen Strategie, die vom Rat zu vereinbaren ist, die zivil-militärischen Zielvorgaben, Aufgaben, Anforderungen und vorrangigen Fähigkeiten, die sich aus dieser Strategie ergeben, näher festgelegt werden.“

6. Deutsch-französische Offensive

Wie bereits angedeutet, scheiterten bislang fast alle Schritte zur massiven Stärkung der EU-Militärpolitik am Widerstand Großbritanniens.[14] Mit dem – wahrscheinlichen – Austritt Großbritanniens werden die Karten nun grundlegend neu gemischt und der Weg für eine forcierte EU-Militarisierung frei: „Einige britische EU-Ausstiegs-Befürworter hatten vor dem Referendum noch behauptet, Brüssel halte das Papier bewusst unter Verschluss, weil es einer künftigen EU-Armee den Weg bereite. Aber auch die Cameron-Regierung setzte, was das Militärische angeht, stets voll auf die NATO und hielt nie viel von den zaghaften EU-Versuchen, parallel dazu auch mit militärischen Strukturen zu experimentieren. Wenn sich das Königreich von der EU abnabelt, könnte sich die Ausgangslage hier ändern, meint der Direktor des Programms ‚Europas Zukunft’ bei der Bertelsmann-Stiftung, Joachim Fritz-Vannahme: ‚Ich glaube, dass dort Fortschritte ohne die Briten auf diesem Gebiet wahrscheinlich leichter möglich sind.‘“[15]

Wenige Tage nach Abschluss des britischen Referendums nutzten Frankreich und Deutschland die Gunst der Stunde und holten ein offensichtlich schon länger ausgearbeitetes Papier namens „Ein starkes Europa in einer unsicheren Welt“ hervor.[16] Darin kündigten der deutsche Außenminister Frank-Walter Steinmeier und sein französischer Amtskollege Jean-Marc Ayrault an, „weitere Schritte in Richtung einer Politischen Union in Europa unternehmen“ zu wollen. Neben weitreichenden Ankündigungen zur Migrations- und Wirtschaftspolitik wird darin auch „Eine europäische Sicherheitsagenda“ vorgestellt. Sie enthält die Forderung, die EUGS als Sprungbrett für eine weitere Militarisierung der Union zu nutzen: „Deutschland und Frankreich [schlagen] eine europäische Sicherheitsagenda vor, die alle Sicherheits- und Verteidigungsaspekte umfasst, die auf europäischer Ebene eine Rolle spielen. […] Die Globale Strategie der Europäischen Union, das neue außenpolitische Grundsatzdokument  der  EU, […]  ist  ein  wichtiger  Schritt  in  diese  Richtung. Doch wir müssen noch weiter gehen: In einem stärker von divergierenden  Machtinteressen  geprägten  internationalen Umfeld  sollten  Deutschland  und Frankreich gemeinsam dafür eintreten, die EU Schritt für Schritt zu einem unabhängigen  und  globalen  Akteur  zu  entwickeln.  Das  Ziel  ist,  unsere  Erkenntnisse und  unsere  Instrumente  im  zivilen  und  militärischen  Bereich  noch  wirksamer  in reale  Politik  umzusetzen.  Deutschland  und  Frankreich  werden  daher  eine  integrierte EU-Außen- und Sicherheitspolitik unterstützen, die alle politischen Instrumente der EU zusammenführt.“

Darauf folgt eine Reihe von Vorschlägen, die zwar fast alle schon geraume Zeit durch die Brüsseler Korridore geistern, jedoch stets an der britischen Position, jede Stärkung der EU-Militärkomponente bedeute eine unerwünschte Schwächung der NATO, abprallten. Mit dem bevorstehenden Brexit haben die von Steinmeier und Ayrault geforderten Schritte nun deutlich größere Realisierungschancen: „Die EU wird in Zukunft verstärkt beim Krisenmanagement aktiv werden, denn viele Krisen betreffen unsere Sicherheit direkt. […] Die EU sollte in der Lage sein, zivile und militärische Operationen wirksamer zu planen und durchzuführen, auch mit Hilfe einer ständigen zivil-militärischen Planungs- und Führungsfähigkeit. Die EU sollte sich auf einsatzfähige Streitkräfte mit hohem Bereitschaftsgrad verlassen können und gemeinsame Finanzierungen ihrer Operationen erleichtern. Gruppen von Mitgliedstaaten sollten so flexibel wie möglich eine dauerhafte strukturierte Zusammenarbeit im Verteidigungsbereich einrichten können oder mit einzelnen Operationen vorangehen. Die EU-Mitgliedstaaten sollten die Einrichtung ständiger maritimer Einsatzverbände in die Planungen aufnehmen sowie EU-eigene Fähigkeiten in anderen Schlüsselbereichen schaffen.“

Mit einem britischen Austritt aus der EU würde zudem die ohnehin schon dominierende Position Deutschlands weiter gestärkt.[17] Nicht völlig zu Unrecht werden die deutsch-französischen Vorschläge deshalb mancherorts als beunruhigende Vorboten für das Bestreben gewertet, künftig noch stärker als bislang schon, einfach „durchzuregieren“. So machte der polnische Kommentator Jacek Dziedzina seinem Ärger mit folgenden Worten Luft: „Die Emotionen sind nach dem Ergebnis des Referendums in Großbritannien noch nicht abgekühlt und schon stellen Deutschland und Frankreich den anderen Staaten ein Ultimatum: Entweder schaffen wir nun einen Superstaat mit einer Regierung, einer Armee, einheitlichen Geheimdiensten und einer gemeinsamen Visapolitik oder Auf Wiedersehen und Au revoir. Es hat sich nun auch gezeigt, dass dieses Dokument, in dem diese Vision vom vereinigten Europa dargestellt wird, bereits lange vor dem Referendum auf der Insel entstanden sein muss. […] Es ist nur schwer zu begreifen, dass die EU-Eliten aus dem britischen Votum nichts gelernt haben. Es sieht so aus, als hätten die Amtsträger aus Brüssel, Deutschland und Frankreich nur auf den Brexit gewartet, um einen Mitgliedsstaat loszuwerden, der gegen die weitere Integration ist.“[18]

So weit, nun gleich eine deutsch-französische Verschwörung zu vermuten, muss man nicht gehen. Der Verdacht aber, dass nun wenigstens als eine Art Kollateralnutzen der Brexit-Abstimmung die EU-Militarisierungsagenda vorangebracht werden soll, liegt auf der Hand und wird durch den Steinmeier-Ayrault-Vorstoß erhärtet. Selbst wenn Großbritannien in irgendeiner Form den EU-Austritt nicht durchziehen sollte, die diesbezügliche Debatte dürfte sich einige Zeit hinziehen und das Land wird in dieser Phase sicher nicht in der Position sein, deutsch-französische Initiativen zu blockieren. Der weitere Fortgang bestätigt diesen Eindruck: Zur Präsentation des Weißbuchs der Bundeswehr Mitte Juli 2016 hielt Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen eine Pressekonferenz ab, deren Stoßrichtung von Thomas Wiegold, dem wohl prominentesten deutschen „Militärblogger“, folgendermaßen zusammengefasst wurde: „Das Weißbuch entstand im Wesentlichen vor dem Brexit – aber wer der Ministerin zuhört, konnte fast den Eindruck haben, der vorgesehene Austritt Großbritanniens aus der EU werde den Weg zu einer gemeinsamen europäischen Sicherheitspolitik noch beschleunigen. Jetzt seien Kooperationen und Planungen möglich, die vorher so nicht möglich waren, wir haben lange Rücksicht nehmen müssen auf Großbritannien, sagte von der Leyen.“[19] Einen Tag darauf meldete sich dann wieder der französische Präsident Francois Hollande zu Wort, der eine „Europäische Verteidigungsinitiative“ ankündigte. „Unsere deutschen Freunde sind bereit, also können wir diese Initiative zusammenfügen“, so Hollande.[20]

Zusammengefasst zeichnet sich also immer klarer ab, dass Globalstrategie und Brexit sich als eine Art Startschuss für einen neuerlichen EU-Militarisierungsschub erweisen könnten.

Anmerkungen

[1] Gemeinsame Vision, gemeinsames Handeln: Ein stärkeres Europa. Eine Globale Strategie für die Außen- und Sicherheitspolitik der Europäischen Union, Brüssel, 28.06.2016.

[2] Europäische Sicherheitsstrategie: Ein sicheres Europa in einer besseren Welt, Brüssel, 12.12.2003.

[3] Entschließung des Europäischen Parlaments vom 13. April 2016 über das Thema: „Die EU in einem sich wandelnden globalen Umfeld – eine stärker vernetzte, konfliktreichere und komplexere Welt“ (2015/2272(INI)).

[4] Mogherini, Federica: The European Union in a changing global environment. A more connected, contested and complex world, Strategic Review, Brüssel, Juni 2015.

[5] Schumacher, Tim: Geopolitischer Sprengstoff: Die militärisch-machtpolitischen Hintergründe des TTIP, IMI-Studie 2014/05.

[6] Griphan Briefe, 27. Juni 2016, S. 1.

[7] Petrov, Nikolay: Putin’s Downfall. The Coming Crisis of the Russian Regime, ECFR/166, April 2016.

[8] Schwitanski, Christopher: Die Militarisierung von Informationen. NATO-Propaganda heißt jetzt Strategische Kommunikation, in: DFG-VK/IMI (Hg.): Die 360°-NATO: Mobilmachung an allen Fronten, Tübingen 2016, S. 59-62.

[9] Auswärtiges Amt: Realitätscheck: Russische Behauptungen – unsere Antworten, Stand, 18.02.2015.

[10] Ferrero-Waldner, Benita: Europa als globaler Akteur, Rede in Berlin, 24.01.2005.

[11] Wagner, Jürgen: Expansion – Assoziation – Konfrontation. EUropas Nachbarschaftspolitik, die Ukraine und der Neue Kalte Krieg gegen Russland, IMI-Studie 2015/06.

[12] Auch in einer Studie, die auf der offiziellen EUGS-Seite als Begleitmaterial während des Erstellungsprozesses veröffentlicht worden war, wurde eine Anpassung des Planziels gefordert: : „Das Militärische Planziel beschränkt das Anforderungsprofil darauf, bis zu zwei Korps (60.000 Soldaten) für mindestens ein Jahr durchhaltefähig machen zu können. […] Die Globalstrategie ist eine exzellente Gelegenheit, über die Beschränkungen des militärischen Planzieles hinauszugehen und ein EU-Militärweißbuch einzuführen. […] Das leitende Element wäre, […] dass die EU zumindest in seiner erweiterten Nachbarschaft dazu [Militärinterventionen] in der Lage ist, ohne dabei auf US-Kapazitäten zurückgreifen zu müssen“. Sven Biscop u.a.: European Strategy, European Defence, and the CSDP, Clingendael Report, November 2015.

[13] Solana, Javier u.a.: Auf dem Weg zu einer Europäischen Verteidigungsunion – ein Weißbuch als erster Schritt, EP/EXPO/B/SEDE/2015/03 DE, April 2016, S. 4f.

[14] Als ein Beispiel für die bremsende britische Rolle nennt Patrick Tucker: How The Myth of An EU Army Bolstered The Brexit Vote, Defense One, 08.07.2016 die EU-Gefechtsverbände (Battlegroups). Obwohl ihr Einsatz unter anderem 2013 von Frankreich angedacht worden sei, sei dies am Widerstand Londons gescheitert und der Grund dafür sei die Sorge um das Referendum gewesen.

[15] EU will die gemeinsame Verteidigung stärken, Tagesschau Online, 28.06.2016.

[16] Ayrault, Jean-Marc/Steinmeier, Frank-Walter:  Ein starkes Europa in einer unsicheren Welt, Stand 27.06.2016.

[17] Berechnungen zufolge steigt der deutsche Stimmanteil im EU-Rat nach einem Brexit von aktuell 16% auf 18,3% und von Frankreich von 13,1% auf 15%. Siehe Mitrenga, Daniel: Statt Brexit, Die jungen  Unternehmer, Mai 2016, S. 36.

[18] Dziedzina, Jacek: Kto powstrzyma szaleńców? Kommentar in der Gość Niedzielny, übersetzt durch die Bundeszentrale für politische Bildung:

https://www.eurotopics.net/de/161497/eu-sortiert-sich-nach-brexit-votum-neu

[19] Wiegold, Thomas: Das neue Weißbuch: Ein paar Beobachtungen, augengeradeaus, 13.07.2016.

[20] France to present ‚Europe of defence‘ initative, EUobserver, 14.07.2016.

------------

Quelle: Informationsstelle Militarisierung (IMI) e.V. - www.imi-online.de