IMI-Analyse 2013/023 - gekürzt in: Wissenschaft & Frieden 2013-3

Von zu vielen und zu wenigen jungen Männern

„Youth Bulge“ im sicherheitspolitischen Diskurs

von: Jonna Schürkes | Veröffentlicht am: 12. August 2013

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Im Zuge des »arabischen Frühlings« hat die These, dass viele junge Männer die Stabilität einer Gesellschaft gefährden, neuen Aufwind bekommen. Viele Vertreter der »Youth Bulge«-These teilen die Welt in jene Gesellschaften, in denen es zu viele junge Männer und daher Unruhen, Aufstände und Bürgerkriege gebe, und solche, in denen ein Mangel an jungen Männern eine globale Ordnungspolitik erschwere. Während die zuerst genannten Gesellschaften vor allem im globalen Süden zu finden seien, lägen letztgenannte in Europa und Nordamerika. Der folgende Artikel argumentiert, dass diese Annahme nicht nur hervorragend in die vorherrschende Bedrohungsanalyse westlicher Sicherheitsexperten passt, sondern auch in die strategischen Überlegungen für zukünftige Kriege einfließt.

Die Selbstverbrennung des 26-jährigen Mohamed Bouazizi in Sidi Bouzid, Tunesien, löste Ende 2010 Massenproteste in Tunesien aus und brachte den Stein für die Umwälzungen in Nordafrika und auf der arabischen Halbinsel ins Rollen. Die Proteste wurden zunächst vor allem von jungen Menschen angeführt – prekarisierte, arbeitslose, teils sehr gut ausgebildete Jugendliche machten den Anfang, erst später kamen berufsständische Organisationen (wie Juristen und Ärzte) und Gewerkschaften hinzu. In der Folge widmeten sich Autoren unterschiedlichster Zeitungen und Zeitschriften der »Jugend« in der arabischen Welt; sie begleiteten junge Demonstranten und berichteten über ihre Anliegen, ihre Art der Organisation und des Protestes.

Es gab und gibt aber auch viele Artikel, die sich dem Thema aus einem anderen Blickwinkel nähern. Für sie sind die Umwälzungen in der arabischen Welt ein Beweis für ihre These, nach der vor allem von jenen Gesellschaften Unsicherheit, Instabilität und Krieg ausgehen, die über einen überproportional hohen Anteil an jungen Menschen verfügen.[1] Dahinter steht die These des »Youth Bulge«. Sie geht von einer »gesunden Altersstruktur« einer Gesellschaft aus, die grafisch meist in Form einer Pyramide dargestellt wird. Der »Bulge« – also die »Ausstülpung« – ist damit bildlich zu verstehen: als eine Beule der Pyramide an der Stelle, an der die Anzahl der 15- bis 29-Jährigen abgebildet wird. Dieser große Anteil von Menschen im »Kampfalter«[2] wird als Sicherheitsproblem identifiziert, mit dem nicht nur die Regierungen der jeweiligen Länder, sondern auch westliche sicherheitspolitische Akteure umzugehen hätten.

Die „Analyse“: Junge Menschen als Sicherheitsbedrohung

Die »Youth Bulge«-These schaffte es mit den Umwälzungen in der arabischen Welt in Zeitungen und Massenmedien.[3] Allerdings bezieht sie sich nicht ausschließlich auf den Mittleren Osten und Nordafrika, auch wenn diese Region von Vertretern der »Youth Bulge«-These immer besonders argwöhnisch betrachtet wurde.[4] Vielmehr gilt: „Wo immer und wann immer die Medien über Massendemonstrationen, Terrorismus, Unabhängigkeitsbewegungen, Zusammenstöße zwischen unterschiedlichen ethnischen Gruppen, Aufstände und Pogrome berichten, findet immer jemand einen überproportionalen Anteil an jungen Männern“.[5] So wurde beispielsweise auch der aktuelle Konflikt in Mali mit einem zu starken Bevölkerungswachstum in der Sahel-Zone und einer zu großen Anzahl unkontrollierter junger Männer erklärt.[6]

Richard Cincotta vom US-amerikanischen sicherheitspolitischen Think-Tank Stimson Center spricht daher auch gleich von einem „demographischen Bogen der Unsicherheit“.[7] Dieser umfasse jene Länder, in denen die Hälfte der Bevölkerung unter 25 Jahren ist, was derzeit für fast alle afrikanischen, lateinamerikanischen, arabischen und südasiatischen Länder gilt.

Es ist auffällig, dass in den Analysen statistisch immer auf den prozentualen Anteil einer jungen Bevölkerung allgemein hingewiesen wird. In der Erklärung allerdings, warum diese junge Bevölkerung ein Sicherheitsproblem darstellt, wird sehr deutlich zwischen einer weiblichen und männlichen jungen Bevölkerung unterschieden. Junge Frauen tauchen in diesen Analysen entweder überhaupt nicht auf oder lediglich als diejenigen, die die Männern (über Ehe und Familie) nicht kontrollieren bzw. diese überschüssigen Männer gebären: „Der Kampfvorteil eines männlichen Kriegers gegenüber einem Mutter-Kind-Paar sorgt also dafür, daß in den Berechnungen der Strategen die Mädchen eher als Gebärerinnen weiterer Krieger denn als eigenständige militärische Bedrohung zum Zuge kommen.“ [8]

Für die Annahmen, warum wiederum der »Überschuss« an jungen Männern zu Konflikten führe, werden unterschiedliche Erklärungen geliefert.[9] Cincotta bemüht vor allem malthusische Erklärungsmuster. Ihm zufolge entstehen aufgrund eines Bevölkerungswachstums Konflikte um knappe Ressourcen (Ackerland, Trinkwasser, Lebensmittel), welche von der jungen männlichen Bevölkerung gewaltsam ausgetragen würden.[10] Zudem betont er, dass es vor allem junge Männer seien, die für die Urbanisierung in den »Entwicklungsländern« verantwortlich wären. Sie würden in die Megastädte migrieren und dort in Vierteln ohne ausreichende Infrastruktur und ohne Erwerbsmöglichkeiten landen. Diese Viertel seien dann wiederum Brutstätten von politischer Gewalt.[11]

Für Gunnar Heinsohn, den wohl wichtigsten deutschen Vertreter der »Youth Bulge«-These, steht fest, dass es der Wettkampf junger Männer um eine begrenzte Anzahl an Posten in einer Gesellschaft ist, der Gewalt und Kriege auslöst, neben einer grundsätzlichen »Friss-oder-Stirb-Erziehung«, die er in den Familien der »Dritten Welt« ausmacht.[12] Hendrik Urdal vom Osloer Peace Research Institute hingegen vertritt die These, dass es in Gesellschaften mit einer hohen Anzahl von jungen Männern für Rebellengruppen, Aufständische oder Terroristen einfacher sei, Kämpfer zu rekrutieren, weswegen auch die Wahrscheinlichkeit von Konflikten steige. Vor allem unverheiratete und erwerbslose Männer seien davon betroffen, weil sie weit weniger zu verlieren hätten: „Wenn junge Menschen keine Alternative zu Arbeitslosigkeit und Armut haben, sind sie eher geneigt, sich einer Rebellengruppe anzuschließen, um eine alternative Einkommensmöglichkeit zu erlangen“. [13] Statistisch sei zudem zu beobachten, dass je größer die Gruppe eines Jahrgangs, desto wahrscheinlicher sei auch der Ausbruch gewaltsamer Konflikte und Bürgerkriege.

So unterschiedlich die Analysen der Vertreter der »Youth Bulge«-These auch sein mögen – von einer offen rassistischen Argumentation Heinsohns bis hin zur Analyse Urdals, in der demographische und sozioökonomische Faktoren berücksichtigt werden –, ist für sie die Größe der Gruppe junger Männer und die Tatsache, dass sie nicht (ausreichend) kontrolliert und diszipliniert werden, entscheidend: „Die Hypothese des Youth-Bulge […] hat einen Resonanzboden in einer weit verbreiteten und wahrscheinlich zutreffenden Sichtweise, nach der ledige Männer im Alter von 15 (oder sogar jünger) und 25 für die soziale Ordnung gefährlich sein können, wenn sie nicht beschäftigt sind, nicht durch Bildungseinrichtungen oder das Militär diszipliniert werden und nicht unter elterlicher oder gemeinschaftlicher Kontrolle stehen […].“[14]

Nun weisen fast alle Autoren mehr oder weniger deutlich darauf hin, dass nicht allein ein »Überschuss« an jungen Männern ein sicherheitspolitisches Problem darstellt, sondern es immer auch anderer Faktoren bedarf, dass Konflikte tatsächlich ausbrechen. Auch mögen einige der Thesen eine gewisse Berechtigung haben (fehlende Perspektiven als Motiv für Konflikte o.ä.). Die unabhängige Variable in diesen Analysen ist jedoch die Anzahl der jungen Männer in den Gesellschaften des Südens, die abhängige Variable die Wahrscheinlichkeit von Instabilität und Konflikt. Bei allen anderen Faktoren handelt es sich höchstens um intervenierende Variablen. Damit leisten diese Vertreter der »Youth Bulge«-These – bewusst oder unbewusst – einen Beitrag zur rein repressiven Bearbeitung von Konflikten.

Die Strategie: den Tod eigener Soldaten vermeiden…

Gleichzeitig kommt kaum eine Analyse über die sicherheitspolitischen Probleme des »Youth-Bulge« ohne den Verweis aus, dass in den Gesellschaften des Nordens wiederum die Anzahl der jungen Männer sinkt – was aus ihrer Sicht ebenfalls problematisch ist. Die »Überalterung« der Bevölkerung in den USA und der Europäischen Union führe dazu, dass nicht genügend junge Männer zur Verfügung stünden, um in den Ländern des Südens militärisch zu intervenieren und dort Ordnung und Sicherheit herzustellen: „Diese demographischen und ökonomischen Veränderungen bedeuten auch, dass die militärischen Kapazitäten von großen Entwicklungsländern steigen werden, während die Fähigkeiten der reichen Nationen, Bodentruppen zu entsenden, um die Konfliktregionen zu kontrollieren, abnehmen werden.“[15]

Das Problem ergebe sich jedoch nicht nur daraus, dass faktisch eine geringere Anzahl von rekrutierungsfähigen Menschen zur Verfügung stehe, sondern auch aus dem, was Herfried Münkler als »postheroische Gesellschaft« bezeichnet: Weil Familien im Westen meist nur wenige Kinder hätten, seien sie nicht bereit, diese im Krieg zu opfern.[16] „Die weniger entwickelte Welt wird von den Strategen überdies dadurch im Vorteil gesehen, dass fast jeder Junge in der Ersten Welt der einzige Sohn oder gar das einzige Kind ist, so dass die Angst um sein Überleben jeden nichtzivilen Einsatz so gut wie unmöglich macht. Sein Aufwachen ist durch Einfühlung und Hilfestellung gekennzeichnet. Die Friß-oder-stirb Erziehung ist in der ersten Welt weitgehend verschwunden. Hingegen können die Familien der Dritten Welt einen oder gar mehrere Söhne verlieren und immer noch funktionieren“[17], erklärt Heinsohn. Die »postheroischen Gesellschaften« würden Münkler und Heinsohn zufolge also Kriege mit einem zu großen Risiko für die eigenen Soldaten vermeiden, wohingegen die Gesellschaften und v.a. auch Familien des Südens gerne bereit wären, ihre Kinder in Kriegen zu opfern. Abgesehen von dem Rassismus, der hinter dieser These steht, wird hier ein Bild über die Ursachen von Kriegen im Süden gezeichnet, das zwar dem Weltbild der beiden Autoren entsprechen mag ‑ nämlich der Annahme, Krieg und Gewalt in den Ländern des Südens würden von jenen Menschen angezettelt werden, die unter ihnen zu leiden haben ‑, mit der Realität jedoch wenig zu tun hat.

… die »Überflüssigen« den westlichen Interessen opfern

Recht haben Heinsohn und Münkler allerdings in dem Punkt, dass die westlichen Staaten bestrebt sind, Kriege zur Aufrechterhaltung einer ‑ vor allem ihnen dienenden ‑ Ordnung zu führen, in denen eigene Soldaten möglichst wenig Gefahren ausgesetzt sind. In klarer Bezugnahme auf unterschiedliche demographische Entwicklungen in der Europäischen Union und in den Ländern des Südens betont etwa ein Bericht der Europäischen Rüstungsagentur EDA von 2006 die Notwendigkeit der Bündelung von Fähigkeiten in der EU und vor allem die Investition vorrangig in jene Bereiche, die dem Schutz von Soldaten dienen oder sie gar auf dem Kampffeld ersetzten könnten (Stichwort Automatisierung der Kriege).[18]

Allerdings sei es in so genannten »asymmetrischen Kriegen« und vor allem auch bei Kämpfen im urbanen Raum so, dass die technologische Überlegenheit der westlichen Armeen kaum mehr zum Tragen komme,[19] sodass diese andere Wege suchen müssten, um Kriege mit möglichst wenigen eigenen Toten führen zu können: „[S]ie werden zunächst versuchen, arbeitsintensive durch kapitalintensive Hightech-Prozesse – wie Roboter und unbemannte Fahrzeuge – zu ersetzen. Sie können Staatsbürgerschaften gegen das Ableisten von Militärdiensten anbieten und Kämpfer direkt in Übersee anheuern […] Eine andere Möglichkeit, eigene durch fremde Arbeitskraft zu ersetzte, sind Allianzen mit Entwicklungsländern, die gewillt sind, im Gegenzug zu technischer und finanzieller Hilfe Truppen zur Verfügung zu stellen. Die Armeen entwickelter Länder müssten dann diese Truppen nach ihren Standards ausbilden und ausrüsten“.[20]

Ähnlich äußerte sich Jack Goldstone auf einer Tagung der Bundesakademie für Sicherheitspolitik (BAKS), die sich selbst als höchstrangige ressortübergreifende Weiterbildungsstätte des Bundes im Bereich der Sicherheitspolitik bezeichnet: „Englands Empire war größtenteils mit Armeen ausgestattet, die vor allem in den Kolonien rekrutiert wurden. Auch wenn es keine Kolonien mehr gibt, so legt die Marktwirtschaft nahe, dass Entwicklungsländer mit einer großen Anzahl an jungen Menschen bereit sein könnten, diese zur Ausbildung und zum Einsatz internationalen Milizen zur Verfügung zu stellen. Der beste und ökonomischste Weg für Europa, die USA und Japan, ihre Kapazitäten zur militärischen Intervention mit großen Truppenzahlen aufrecht zu erhalten, ist es, multinationale Milizen zu trainieren, zu bewaffnen und auszubilden, um sie dann in Stabilisierungs- und Wiederaufbaumissionen einzusetzen. Dies könnte die ideale Kombination aus Technologie der entwickelten Länder und der Verfügbarkeit von Arbeitskraft der Entwicklungsländer sein, um wirksame Interventionen durchführen zu können.”[21]

Etwas anderes schwebt Gunnar Heinsohn vor: „Siege über angreifende youth-bulge-Nationen dürfen nicht zu einer Besatzung ausgebaut werden. Sicherzustellen ist lediglich, dass der Gegner seine aggressiven Potentiale wieder daheim exekutiert. Dabei kann man die zivilisationsnähere Seite durchaus logistisch und waffentechnisch unterstützen.“[22]

Beide Vorschläge werden vor allem von der Europäischen Union intensiv umgesetzt. So wurde beispielsweise die »zivilisationsnähere« Seite im libyschen Bürgerkrieg ebenso bewaffnet, wie heute im Rahmen einer Mission in Mali die Armee von europäischen Soldaten ausgebildet und ausgerüstet wird. Auch erinnern die Interventionstruppen auf dem afrikanischen Kontinent stark an das Konzept der »internationalen Milizen«, das Goldstone vorschlägt. So werden seit Jahren militärische Einheiten aufgestellt, die sich aus Soldaten verschiedener afrikanischer Staaten zusammensetzen (beispielsweise die Truppen der ECOWAS in Westafrika). Die Aufstellung, Ausrüstung und Ausbildung dieser Einheiten wird größtenteils von der EU finanziert und – was die Ausbildung angeht – auch durchgeführt. Auch deren Einsätze sind in vielen Fällen von der finanziellen und logistischen Hilfe der EU oder einzelner EU-Mitgliedsstaaten abhängig. Die ECOWAS hätte beispielsweise Anfang 2013 nicht in Mali intervenieren können, hätten europäische Armeen nicht den Transport von Material und Soldaten in Kriegsgebiet übernommen. Im Endeffekt entscheiden somit europäische Regierung häufig, in welchen Regionen die afrikanischen Einheiten eingesetzt werden und wo nicht.

Demographische Analysen in der Sicherheitspolitik

Wie an verschiedener Stelle angedeutet, handelt es sich bei den Vertretern der »Youth Bulge«-These keinesfalls lediglich um alte, weiße Männer, die in den Kommentarspalten der Tageszeitungen von der Gefahr des Bevölkerungswachstums und der zu großen Anzahl junger Männer im Globalen Süden schwadronieren. So ist beispielsweise Gunnar Heinsohn nicht nur Gast unzähliger Talkshows im deutschen Fernsehen, er ist vielmehr ebenso wie Jack Goldstone ein gern gesehener Referent bei der BAKS[23] und lehrt auch am Nato Defence College in Rom.[24] Richard Cincotta wiederum ist Mitautor der letzten »Global Trends« des US-amerikanischen National Intelligence Council, dem Zentrum der US-Geheimdienste für mittel- und langfristige strategische Prognosen. Damit lässt sich wohl das prominente Kapitel zu den sicherheitspolitischen Implikationen der demographischen Entwicklung in den Vorhersagen für 2025 und 2030 erklären.

Demographische Entwicklungen werden also (wieder) zu einem sicherheitspolitischen Thema. Auch wenn sich die Vorschläge zum direkten Eingreifen in die demographische Entwicklung in Grenzen halten, so verbinden einige Vertreter der »Youth Bulge«-These die Forderung nach Entwicklungshilfe in Bereiche wie Mädchenbildung, Mutter-Kind-Gesundheit und HIV/AIDS-Prävention mit der Notwendigkeit, diese Länder demographisch und damit sicherheitspolitisch zu stabilisieren.[25] Andere hingegen fordern eben mit dem Verweis auf den »Überschuss« an jungen Menschen die Kürzung oder Konditionierung von Entwicklungshilfe. So fordert Heinsohn das „Ende aller Beihilfen [gemeint sind Lebensmittelhilfen, Entwicklungsgelder] für demographische Aufrüstung à la Gaza“,[26] und Hartmut Dießenbacher träumt von einem Geburtenkontrollvertrag, der die Überbevölkerung stoppen soll: „Der Geburtenkontrollvertrag, der wie ein Atomwaffensperrvertrag funktionieren könnte, würde beinhalten müssen, dass die Regierungen fortpflanzungskontrollierter Länder ihre politischen Beziehungen zu Ländern mit bevölkerungsexplosiver Regeneration unter den Geburtenkontrollvorbehalt stellen. Wirtschafts- und Handelsverträge, Waffenlieferungen, Schuldenerlasse, Zollabkommen, Entwicklungshilfen aller Art wären an den Nachweis wirksamer Geburtenkontrolle zu binden.“[27]

Besonders drängen Demographen allerdings darauf, Indikatoren über die Bevölkerungsentwicklung in sicherheitspolitische Frühwarnsysteme zu integrieren. Ziel solle sein, „demographische Daten und Prognosen in Regionalanalysen, die Analysen Einsatzbedingungen und andere Bewertungen der Sicherheits- und Bedrohungslage zu integrieren. […] Die Erarbeitung von demographischem und gesundheitlichem Wissen innerhalb der militärischen und geheimdienstlichen Gesellschaft soll gefördert und dieses Wissen dann in Debatten über Außenpolitik eingesetzt werden, indem es in offizielle Statements, Debatten mit politischen Entscheidungsträgern, den Medien und Meinungsführern eingeflochten wird.“[28] So könnten politische Entscheidungsträger und Sicherheitskräfte mit Hilfe der Auswertung von Daten über Geburten- und Sterberaten auf kommenden Unruhen, Aufstände und (Bürger-) Kriege vorbereitet werden und entsprechend reagieren, so das Versprechen: „Würde der demographische Faktor in der Entwicklungs- und Sicherheitspolitik stärker beachtet, wäre das Auftreten künftiger, stark von der demographischen Entwicklung getriebener Krisen weniger überraschend. Im Hinblick auf die arabische Welt kommt diese Erkenntnis zu spät. In diversen Ländern südlich der Sahara könnte in einigen Jahren ein ähnlich explosives Unruhepotential virulent werden“, ist sich die regierungsnahe deutsche Stiftung Wissenschaft und Politik sicher.[29] Die NATO hat entsprechend schon 2009 ein Analyseraster erstellen lassen, in dem der Zusammenhang zwischen der demographischen Entwicklung in den Ländern des Mittleren Ostens und der Wahrscheinlichkeit von Aufständen und (Bürger-) Kriegen dargestellt wird. Ziel der gesamten Forschungsreihe war es, für die NATO solche Krisen für die nächsten fünf bis zwanzig Jahre besser vorhersehbar zu machen. Der Autor Anton Minkov kam zu dem, angesichts des Forschungsdesigns, wenig überraschenden Ergebnis, dass es einen deutlichen Zusammenhang zwischen dem Anteil von 15- bis 29-Jährigen an der Gesamtbevölkerung und der „Gefahr von Instabilitäten und politischen Veränderungen“ gebe.[30]

Inwieweit solche Daten derzeit schon in Frühwarnsystemen integriert sind, ist unklar. Es ist aber zu befürchten, dass solche Erkenntnisse vor allem dazu führen, dass die Regime der jeweiligen Länder – im Zweifelsfall mit der Unterstützung des Westens – ihre Repressionsorgane ausbilden und aufrüsten werden, um bei Unruhen effektiv reagieren zu können. Dass dies keine aus der Luft gegriffene Behauptung ist, zeigt eine jüngst erschienene Analyse, die sich zwar ebenfalls mit dem so genannten »Youth Bulge« beschäftigt, allerdings von vollkommen anderen Annahmen ausgeht. Hier wird der Zusammenhang zwischen der Repression des Staates und der Anzahl junger, erwerbsloser Menschen beleuchtet. Das Ergebnis der Studie lautet: „Mit unseren Analysen konnten wir unsere theoretische Annahme bestätigen, dass der Youth-Bulge eine Auswirkung auf das repressive Verhalten des Staates hat. Konfrontiert mit einer großen Gruppe an jungen Menschen, sind politische Autoritäten eher gewillt, repressiv zu regieren […].“[31]

Anmerkungen

[1] Siehe z.B. Daniel LaGraffe: The Youth Bulge in Egypt: An Intersection of Demographics. Security and the Arab Spring. Journal of Strategic Security, Vol. 5, Nr.2, Sommer 2012; S. 65-80.
Richard Cincotta: Tunisia’s Shot at Democracy: What Demographics and Recent History Tell Us. Wilson Center, 25.01.2011.
Elizabeth Leahy Madsen: Yemen: Revisiting Demography After the Arab Spring. Wilson Center, 17.04.2012.

[2] Anton Minkov (2009): Demographics-Based Analytical Framework for the Assessment of Security and Regime Stability: The Case of the Middle East. Bericht für die Research and Technology Organisation (RTO) der NATO, Dokument RTO-MP-SAS-081.

[3] Zu viel Testosteron in Ländern der arabischen Welt. Salzburger Nachrichten, 24.03.2011.
Ägypten und die Demographie – Das große Töten der Jungen. Frankfurter Allgemeine Zeitung, 04.02.2011.
Erst Testosteron macht Männer zu Revolutionären. Die Welt, 13.07.2012.

[4] Vgl. u.a. Richard Jackson and Neil Howe (2008): The Graying of the Great Powers: Demography and Geopolitics in the 21st Century. CSIS-Global Aging Initiative.
Jack A. Goldstone: Flash points and tipping points: Security Implications of Global Population Changes, 2005-2025. Vortrag gehalten auf der Konferenz »Demographische Veränderungen im sicherheitspolitischen Kontext« der Atlantik-Bücke und des BAKS, Berlin, 13.11.2006, S. 19.

[5] Weiner, Myron and Teitelbaum, Michael S. (2001): Political Demography, Demographic Engineering. New York: Berghahn Book, S. 18.

[6] Mali’s 2.5 Percent Problem ‑ The real reason the Sahel is awash with terrorists? Rapid population growth. Foreign Policy, 28.01.2013.

[7] Richard Cincotta: Whither the Demographic Arc of Instability? Washington D.C.: Stimson Center, 24.11.2010.

[8] Gunnar Heinsohn (2006): Söhne und Weltmacht – Terror im Aufstieg und Fall der Nationen. Zürich: Orell Fuessli, S. 15.

[9] Einen Überblick über verschiedene Studien zum Zusammenhang zwischen einer jungen Bevölkerung und Konflikten bietet: Silvia Popp (2012): Jugendüberhang und Konfliktrisiko. Ein Überblick über die Ergebnisse der empirischen Forschung seit 1990. SWP-Zeitschriftenschau, Dezember 2012.

[10] Richard Cincotta, Robert Engelmann, Daniele Anastasion (2003): The Security Demographic. Population And Civil Conflict After The Cold War. Population Action International..

[11] Richard Cincotta (2004): Demographic Security Comes of Age. ECSP-Report Nr. 10.

[12] Heinsohn 2006, op.cit., S.15.

[13] Hendrik Urdal (2012): Youth Bulges and Violence. In: Jack A. Goldstone et al. (eds.): Political Demography – How Population Changes Are Reshaping International Security and National Politics. Oxford: Oxford University Press, S. 120.

[14] Weiner und Teitelbaum, op.cit., S. 18.

[15] Goldstone 2006, op.cit., S. 11.

[16] Die postheroische Gesellschaft in Europa. Süddeutsche Zeitung, 17.05.2010.

[17] Heinsohn 2006, op.cit. S.15.

[18] European Defence Agency (EDA) (2006): An Initial Long-Term Vision For European Defence Capabilities And Capacity Needs.

[19] Vgl. Brian Nichiporuk (2000): The Security Dynamics of Demographic Factors. RAND Corporation, S. xiv.

[20] Jackson and Howe, op.cit., S. 13.

[21] Goldstone 2006, op.cit., S. 19.

[22] Gunnar Heinsohn: Youth Bulges und westliche Niederlage. griephan-globalsecurity, 3/2008; S. 45.

[23] Referentenliste des Seminars für Sicherheitspolitik 2011 und 2012; baks.bund.de.

[24] Göran Therborn: NATO’s Demographer. New Left Review, Nr. 56, March/April 2009.

[25] Cincotta, Engelmann, Anastasion, op.cit.

[26] Heinsohn 2008, S. 45.

[27] Hartmut Dießenbacher (1998): Kriege der Zukunft. München: Hanser, S. 158f.

[28] Cincotta, Engelmann, Anastasion, op.cit.

[29] Wenke Apt: Aufstand der Jugend ‑ Demographie liefert Hinweise auf Konfliktpotentiale. SWP-Aktuell, März 2011; S. 4.

[30] Minkov, op.cit..

[31] Ragnhild Nordås and Christian Davenport: Fight the Youth: Youth Bulges and State Repression. American Journal of Political Science, 2013.