Quelle: Informationsstelle Militarisierung (IMI) e.V. - www.imi-online.de

IMI-Analyse 2011/13

Haiti – die Wahl der „Internationalen Gemeinschaft“ und die Zukunft der Minustah

Jonna Schürkes (08.04.2011)

http://imi-online.de/download/Ausdruck2_2011_12schuerkes.pdf

Anfang dieses Jahres bekam die gerade vereidigte Präsidentin Brasiliens Dilma Rousseff einen Brief, in dem sie aufgefordert wurde, die brasilianischen Soldaten, die im Rahmen der UN-Mission Minustah auf Haiti stationiert sind, abzuziehen. Unterzeichnet war dieser Brief u.a. von einigen Abgeordneten der Arbeiterpartei („Partido do Trabajadores“), der auch Rousseff angehört, einem Vorstandsmitglied des größten gewerkschaftlichen Dachverbandes Brasiliens, Vertretern der Landlosenbewegung „Movimento dos Trabalhadores Rurais Sem Terra (MST)“ und zahlreichen Repräsentanten anderer sozialer und menschenrechtlicher Organisationen. Der Abzug der Truppen sei vor allem deshalb notwendig, da ein Großteil der Haitianer dies fordere. Abgesehen davon, so argumentieren die Autoren, habe die Anwesenheit der unter dem militärischen Kommando Brasiliens stehenden UN-Truppen die Lage der Menschen nicht verbessert, im Gegenteil: „Die mehr als sechs Jahre andauernde Präsenz der durch Brasilien kommandierten UN-Truppen, hat in keiner Weise geholfen, die Folgen der Naturkatastrophen und die soziale Situation der haitianischen Bevölkerung zu verbessern. Vielmehr war sie Garant gefälschter Wahlen und hat vor allem die Funktion übernommen, repressiv gegen die Aktivitäten der haitianischen Bevölkerung vorzugehen, deren Organisationen den UN-Truppen die Vergewaltigung von Frauen und die Ermordung von Vertretern der gewerkschaftlichen und sozialen Bewegung vorwerfen“.[1]
Brasilien hat nicht nur das militärische Kommando innerhalb der Minustah inne, es stellt auch die meisten Soldaten. Daher könnte der Abzug der brasilianischen Truppen tatsächlich etwas verändern.
Auch in anderen lateinamerikanischen Ländern, die Minustah-Truppen stellen, besteht die Hoffnung, dass angesichts der massiven Proteste in Haiti gegen deren Anwesenheit und aufgrund der Umstände der gerade stattgefunden Wahlen über den Sinn und Zweck der Mission nachgedacht wird.

Die UN-Truppen im Kampf gegen die Bevölkerung

Die UN-Mission wurde entsandt, nachdem gegen den gewählten Präsident Jean-Bertrand Aristide geputscht und er außer Landes gebracht worden war. Das Besondere an dieser Mission ist die Tatsache, dass sich Haiti zu diesem Zeitpunkt in keinem Krieg befand und die Peacekeeping Mission nicht im Rahmen der Durchsetzung oder Begleitung eines Friedensabkommens eingesetzt wurde.[2] Da Aristide die haitianische Armee, die nicht nur permanent putschte sondern auch für die gravierende Gewalt in dem Land mitverantwortlich war, in den 90er Jahren aufgelöst hatte, gab es im Einsatzgebiet auch keine militärisch organisierten Verbände. Daher bestand die Aufgabe der Minustah vor allem darin, die neue haitianische Polizeieiheit (HNP) bei der Bekämpfung der kriminellen Gangs in den Armutsvierteln zu unterstützen, wobei sowohl die HNP als auch die UN-Soldaten nicht selten mit brachialer Gewalt in den Armutsvierteln vorgingen, so nahmen UN-Hubschrauber Slums stundenlang unter Beschuss.[3]
Nach dem Erdbeben Anfang 2010, bei dem über 300 000 Menschen starben und 1,85 Millionen Menschen obdachlos wurden, konzentrierte sich die Minustah vor allem darauf, gegen Plünderer vorzugehen und die HNP dabei zu unterstützen, die Gefangenen, die aus den zerstörten Gefängnissen entflohen waren, wieder festzusetzen. Port-au-Prince wurde in Zonen aufgeteilt, wobei Hilfsorganisationen empfohlen wird, in die roten Zonen, in denen sich vor allem die Slums der Stadt befinden, aufgrund einer vermeintlichen Sicherheitsgefährdung nicht ohne die Begleitung von UN-Truppen zu gehen.[4]
Im Oktober 2010 erkrankten viele Menschen an Cholera, die wahrscheinlich mit den UN-Truppen ins Land gekommen war. Dies verstärkte die Wut der Bevölkerung auf die Minustah zusätzlich, die Anfang November in vielen Teilen des Landes gegen die Präsenz der Truppen auf die Straße gingen. Die UN erklärte, die Minustah-Truppen hätten die Krankheit nicht ins Land gebracht und sahen es auch nicht für notwendig an, eine unabhängige Untersuchung in die Wege zu leiten. Vielmehr lösten die UN-Soldaten gemeinsam mit der Polizei die Proteste gewaltsam auf, mindestens eine Person wurde dabei von einem Soldaten erschossen. Ende November fanden die Parlaments- und Präsidentschaftswahlen statt, die von der Minustah abgesichert werden sollten.

Die Wahl der Internationalen Gemeinschaft

Abgesehen davon, dass die Partei des 2004 gestürzten Präsidenten Aristide „Fanmi Lavalas“, die über einen großen Rückhalt in der Bevölkerung verfügt, von vornherein von den Wahlen ausgeschlossen war, kann auch die Wahl selber kaum als frei und fair bezeichnet werden. Offenbar wurden Menschen teilweise gewaltsam daran gehindert, ihre Stimme abzugeben, die Ausweise von Toten seien zur Stimmabgabe genutzt worden, in einem Wahllokal seien Wahlurnen samt Inhalt vernichtet worden und es habe Personen gegeben, die in einem Wahllokal nach dem anderen ihre Stimmzettel abgegeben hätten.[5]
Noch am Wahltag gingen tausende von Menschen auf die Straßen und forderten die Annullierung der Wahl, UN-Truppen und die HNP versuchten die Proteste niederzuschlagen. Trotz des Vorwurfs der Wahlfälschung und der in den darauffolgenden Tagen eskalierenden Gewalt, erklärte die Organisation Amerikanischer Staaten (OAS), die Wahlbeobachter entsandt hatte, die Wahl für gültig[6] und auch der Chef der Minustah Edmond Mulet war zunächst zufrieden, auch wenn er einzelne Zwischenfälle einräumte.[7] Ungeachtet dieser „Zwischenfälle“ drohte er der haitianischen Bevölkerung gar, dass die „Internationale Gemeinschaft ihre Hilfe abziehen würde“ sollten die Proteste nicht aufhören und fügte hinzu.[8] Der Großteil der Kandidaten hingegen protestierte ebenfalls gegen die Wahl, allerdings kündigten die beiden Favoriten Mirlande Manigat und Michel Martelly offenbar auf Druck der UN und ausländischer Diplomaten an, keine Annullierung der Wahl zu fordern.[9]
Dass eben jene beiden Kandidaten als Sieger aus der Wahl hervorgehen würden, war der „Internationalen Gemeinschaft“ offenbar schon vor der Wahl klar. Ricardo Seitenfus[10], ehemalige Vertreter der OAS in Haiti, erzählte in einem Interview mit der BBC, dass auf einem Treffen der OAS, der UN und den Geberstaaten am Wahltag offen über die Möglichkeit eines Putsches gegen Präsident René Préval nachgedacht wurde: „Einige der Repräsentanten schlugen vor, Präsident René Préval solle das Land verlassen und dass wir darüber nachdenken sollten, dafür ein Flugzeug bereit zu stellen“[11] Hier ging es nicht nur darum, sich Prévals zu entledigen, sondern auch zu verhindern, dass dieser für den Sieg seines Schwiegersohnes Jude Celestines sorgen könnte. Trotz dieses Säbelrasselns – bei dem Treffen war auch der Premierminister Haitis anwesend – gab der Provisorische Wahlrat (Conseil électoral provisoire – CEP) wenige Tage nach der Wahl ein Ergebnis bekannt, dass der Internationalen Gemeinschaft nicht schmeckte: demnach hatten Mirlande Manigat und Jude Celestine, die ersten beiden Plätze belegt, so dass zwischen ihnen eine Stichwahl angestanden hätte.
Was auf die Verkündigung des Wahlergebnisses folgte, waren nicht nur schwere Auseinandersetzungen zwischen Protestierenden auf der einen und MINUSTAH-Soldaten und haitianischen Polizisten auf der anderen Seite, sondern die „Internationale Gemeinschaft“ machte sehr schnell klar, dass sie dieses Ergebnis nicht akzeptieren würde. Der „Nationale Wahlbeobachtungsrat“ (Conseil national d’observation des élections – CNO), eine Organisation, die vor allem durch die USA und die EU finanziert wird, erklärte, dass die Wahl trotz der „Unregelmäßigkeiten“ anerkannt werden sollte, was allerdings nicht für das Ergebnis galt: die Gewinner der Wahl seien Manigat und Martelly, Celestine sei auf dem dritten Platz gelandet und damit nicht zur Stichwahl zugelassen. Die US-Botschaft in Haiti schloss sich der Meinung des CNO an und forderte die Regierung Haitis auf, diese ebenfalls zu akzeptieren.[12] Daraufhin wurde die OAS mit der Überprüfung der Wahlergebnisse beauftragt. Ihre Erkenntnisse fasste sie in einem Bericht, der Mitte Januar 2011 veröffentlicht wurde, zusammen: demnach sei es zwar tatsächlich zu gravierenden Manipulationen bei der Wahl gekommen, die aber nicht ausreichten, um sie zu wiederholen. Zudem wurden Manigat und Martelly als Sieger identifiziert.[13] Auch wenn der Generalsekretär der OAS deutlich machte, dass es sich bei den Zahlen in dem Bericht um „Kalkulationen“ und nicht um Ergebnisse handele und dass die OAS nicht befugt sei, Wahlergebnisse zu verkünden[14], erklärte der US-Botschafter in Haiti prompt: „Die Internationale Gemeinschaft ist sich in diese Punkt vollkommen einig. Die Ergebnisse des Berichts [der OAS] sind nicht verhandelbar (There is nothing to negotiate in the report)“[15] Auch der Sprecher des französischen Außenministeriums, Bernard Valero, war der Meinung an dem Ergebnis der OAS sei nicht zu rütteln.[16] Deutlicher noch äußerte sich der Washington Post zufolge ein EU-Vertreter: Jeder Versuch Prevals, Celestine an die Macht zu bringen, sei desaströs für den Wiederaufbau Haitis.[17] Wenige Tage später erklärte Celestine seinen Rückzug von der Kandidatur.
Während die Internationale Gemeinschaft also alles getan hat, dass die ihnen genehmen Kandidaten als Sieger aus der Wahl hervorgehen, war die Minustah und die HNP vor allem damit beschäftigt, die Proteste gegen diesen Betrug niederzuschlagen – kein Mittel, um die Bevölkerung davon zu überzeugen, dass es sich um eine faire Wahl gehandelt habe: „Die haitianische Bevölkerung ist der Meinung, diese undemokratischen Wahlen seien von der Internationalen Gemeinschaft in Haiti durchgesetzt worden: von denjenigen, die die Wahl bezahlt haben, von den Beobachter, die sie für gültig erklärt haben und von der Minustah, die sie militärisch durchgesetzt hat.“ [18]
Inzwischen – am 20. März – hat die Stichwahl stattgefunden. Auch bei dieser Wahl wurde von Betrug und Gewalt berichtet[19], die „Internationale Gemeinschaft“ zeigt sich bisher aber zufrieden. Die Tatsache dass bei beiden Wahlen nur etwas mehr als 20% der Wahlberechtigten wählen konnten oder wollten, wird wohl nichts daran ändern, dass im Ausland die anstehende Ernennung des Wahlsiegers bejubelt werden, auch wenn er kaum Rückhalt in der Bevölkerung haben wird.

Manigat, Martelly und die fortschreitende Militarisierung Haitis

Martelly und Manigat haben viele Gemeinsamkeiten. Beide haben die Putsche gegen Aristide 1991 und 2004 befürwortet, beide gelten als rechts-konservativ, beide haben angekündigt sich vor allem der Herstellung von Sicherheit und Ordnung zu widmen, beide verfügen über gute Beziehungen zu den USA und der EU. Außerdem haben beide angekündigt, sie würden langfristig dafür sorgen, dass die UN-Soldaten das Land verlassen. Diese Ankündigung ist wohl vor allem damit zu erklären, dass jemand, der sich auf die Seite der UN-Truppen schlägt, in Haiti kaum Wähler für sich gewinnen kann. Einen sofortigen Abzug ziehen beide allerdings nicht in Betracht, die Truppen seien für die Aufrechterhaltung der Inneren Ordnung zentral. Langfristig soll diese Aufgabe allerdings die wieder neu zu gründende haitianische Armee übernehmen. Die Wiederaufstellung einer Armee wird vor allem von ehemaligen Militärs euphorisch begrüßt. Mario Andresol, derzeitiger Chef der Haitianischen Polizei, ehemaliger Offizier, u.a. ausgebildet an der „Schools of the Americas“ in Georgia, USA, ist der Überzeugung, die haitianische Armee sei nicht nur notwendig, um die Kriminalität zu bekämpfen und die Küsten zu überwachen, er sieht in ihr auch die Möglichkeit vielen jungen Menschen einen Job zu verschaffen, den man ihnen in zivilen Bereichen nicht bieten könne.[20]
Sollte diese neue Armee aufgestellt werden, so ist zu befürchten, dass ihre Ausbildung und Ausrüstung von eben jener „Internationalen Gemeinschaft“ übernommen wird.
Was das für die Zukunft von Minustah bedeutet, ist noch ungewiss. Allerdings scheinen die lateinamerikanischen Länder, die heute den Großteil der Truppen im Rahmen von Minustah stellen, über Veränderungen in der Mission nachzudenken. Auf einem Treffen der Verteidigungsminister der truppenstellenden Länder Anfang März 2011 wurde beschlossen, eine Delegation nach Haiti zu entsenden, um mit der künftigen Regierung die Zukunft der Mission zu besprechen. Auch wenn es unwahrscheinlich ist, es bleibt die Hoffnung, dass Aktionen wie der eingangs erwähnte Brief an die brasilianische Präsidentin, dafür sorgen können, dass es sich bei den bevorstehenden Veränderungen um ein Ende der Minustah handelt und dass sich die lateinamerikanischen Regierungen – zumindest die, die sozialen Bewegungen näher stehen – dafür einsetzen könnten, dass sich ihre Soldaten nicht weiter an der Militarisierung Haitis beteiligen.

ANMERKUNGEN
[1] Carta a Presidenta Dilma Rousseff; url: www.sinpro-abc.org.br/02071000.PDF.
[2] Howland, T.: Peacekeeping and Conformity with Human Rights Law: How MINUSTAH Falls Short in Haiti, International Peacekeeping, Vol.13, Nr.4, Dezember 2006, S.462-476.
[3] Marischka, C: Eindimensionales Sicherheitsdenken in Haiti, Ausdruck, Februar 2010.
[4] Herz, A.: Looking More and More Like a War Zone, ips-news, 30.03.2010.
[5] Dillmann, H.: Bittere Pille für Sweet Michy, Lateinamerika Nachrichten, Januar 2011; S.6f.
[6] Haiti vote ‚valid‘ despite flaws, Al Jazeera English, 30.11.2010.
[7] Weiss, S.: Nach problematischer Wahl drohen Unruhen, Blickpunkt Lateinamerika, 29.11.2010.
[8] ONU amenaza con retirar ayuda a Haití si no se reconocen elecciones, La Tercera, 03.12.2010.
[9] Haiti protesters clash with police, Al Jazeera English, 06.12.2010.
[10] Am 21.Dezember 2010 veröffentlichte die schweizer Zeitung Le Temps ein Interview mit Seitenfus, in dem er nicht nur die Arbeit der UN sondern auch die der Nichtregierungsorganisationen in Haiti sehr deutlich kritisierte. Noch am selben Tag wurde er vom Generalsekretär der OAS beurlaubt, inzwischen hat er sein Amt aufgegeben.
[11] Afastado, representante da OEA critica ONGs e missão de paz no Haiti, BBC Brasil, 29.12.2010.
[12] US-Botschaft in Haiti: Statement by the Embassy of the United States Following the Publication of Results of the November 28 National Elections by the CEP, Pressemitteilung vom 07.12.2010.
[13] Organization of American States: Final Report – Expert Verification Mission of the Vote Tabulation of the November 28, 2010 Presidential Election in the Republic of Haiti, 13.01.2011.
[14] Charges filed against ex-dictator Jean-Claude ‚Baby Doc‘ Duvalier, Miami Herald, 01.18.20 11.
[15] Booth, W.: Duvalier’s return adds to Haiti’s political turmoil, Washington Post, 17.01.2011.
[16] Weisbrot, M: Haiti’s democracy in the balance, guardian.co.uk, 18.01.2011.
[17] Booth, W.: Duvalier’s return adds to Haiti’s political turmoil, Washington Post, 17.01.2011.
[18] Lindstrom, B.: Beyond the Blue Helmets: Stability in Haiti requires new elections, 13.01.2011; url: www.cipamericas.org
[19] Beispielsweise waren in einem Wahlbüro in dem größten Zeltlager in Port-au-Prince, das nach dem Erdbeben Anfang 2010 errichtet worden war und in dem ca. 8000 Menschen leben, nur 14 Menschen in den Wählerlisten eingetragen (Vote count begins in Haiti runoff, Al Jazeera English, 21.03.2011.). Zudem wurden während des Wahlvorgangs zwei Menschen in und vor Wahlbüros getötet und mehrere verletzt, woraufhin diese Wahlbüros vorzeigt geschlossen wurden (Haití celebra tranquilas elecciones pese a dos muertos en incidentes, prensalibre.com, 20.03.2011.)
[20] Young Men Train for the Return of the Haitian Army, Leogane Magazine, 27.03.2011.

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