IMI-Analyse 2010/028 - in: AUSDRUCK (August 2010)

IGH-Gutachten zum Kosovo: Weg in einen neuen Imperialismus


von: Martin Hantke / Jürgen Wagner | Veröffentlicht am: 28. Juli 2010

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„Alle Mitglieder unterlassen in ihren internationalen Beziehungen jede gegen die territoriale Unversehrtheit oder die politische Unabhängigkeit eines Staates gerichtete oder sonst mit den Zielen der Vereinten Nationen unvereinbare Androhung oder Anwendung von Gewalt.“ (UN-Charta, Artikel 2, Absatz 4)

http://imi-online.de/download/MH-JW-AUSDRUCK43-IGH-Kosovo.pdf

Im Februar 2008 verabschiedete das „Parlament“ des Kosovo eine Erklärung, mit der sich die Provinz von Serbien, dem Rechtsnachfolger der Bundesrepublik Jugoslawien, lossagte und für unabhängig erklärte. Allerdings ist Artikel 2, Absatz 4 der UN-Charta eindeutig – das dort verankerte Einmischungsverbot schützt die territoriale Integrität eines Landes vor einer gewaltsamen Zerschlagung. Selbst die nach Beendigung des NATO-Angriffskrieges verabschiedete – und bis heute gültige – Resolution 1244 des UN-Sicherheitsrates vom Juni 1999 nimmt Bezug auf dieses Prinzip. Sie enthält eine „Bekräftigung des Bekenntnisses zur Souveränität und territorialen Unversehrtheit der Bundesrepublik Jugoslawien …“

Nachdem zahlreiche Protagonisten des NATO-Angriffskriegs gegen Jugoslawien den Kosovo nach seiner Unabhängigkeitserklärung umgehend als Staat anerkannten, eine Mehrheit der UN-Vollversammlung dies aber bis heute kategorisch ablehnt, legte die UN-Generalversammlung dem Internationalen Gerichtshof (IGH) auf Betreiben Serbiens folgende Frage zur Entscheidung vor: „Ist die einseitige Unabhängigkeitserklärung durch die Provisorischen Institutionen der Selbstverwaltung des Kosovo im Einklang mit dem Völkerrecht?“ (Resolution 63/3) Am 22. Juli 2010 fällte der Internationale Gerichtshof seine Entscheidung, die wohl weit reichende Folgen für Völkerrecht und Weltfrieden haben dürfte.

Mit zehn zu vier Richterstimmen entschied der IGH, dass „die Annahme der Unabhängigkeitserklärung vom 17. Februar 2008 weder das Völkerrecht noch die Resolution 1244 (1999) des UN-Sicherheitsrats … verletzt hat.“[1] Damit schien der Fall für die überwiegende Mehrheit der Medienvertreter eindeutig: Laut Presseecho waren der Angriffskrieg und die Zerschlagung Jugoslawien rechtens, der IGH hat eine klare Entscheidung gefällt: „Weg frei für den Kosovo!“ (Die Presse); „Kosovo ist unabhängig“ (Frankfurter Rundschau); „Abspaltung im Einklang mit dem Völkerrecht“ (Baseler Zeitung); „Kosovo’s independence was legal“ (Business Week); „Unabhängigkeit des Kosovo bestätigt“ (Die Welt); „Den Haag nennt Unabhängigkeit des Kosovos rechtens“ (Die Zeit). Die ganze Sache hat nur einen Schönheitsfehler: um die alles entscheidende Frage hat sich der Gerichtshof nämlich herumgedrückt – mutmaßlich in vollem Wissen, dass sein Gutachten dennoch vom Westen als Persilschein für seine Zerschlagungs- und Anerkennungspolitik interpretiert werden würde: „Was nicht geklärt wurde: Ist das Kosovo ein unabhängiger Staat geworden? […] Dabei lagen hier die wesentlichen Probleme des Falls. Das Völkerrecht schützt die territoriale Integrität der Staaten und gewährt das Recht zur Sezession nur unter außergewöhnlichen Umständen. […] Darauf geht der IGH nicht ein.“[2]

Fahrlässiges Spiel mit dem Feuer

Der IGH entschied, dass das „Parlament“ des Kosovo nicht an die Resolution 1244 des UN-Sicherheitsrats gebunden sei und damit auch das Recht inne habe, sich nicht an die entsprechenden Vorgaben dieser Resolution zu halten. Mit diesem juristischen Kniff wurde die eigentliche Frage uminterpretiert, mit dem Ergebnis, dass die einseitige Unabhängigkeitserklärung des Kosovo mit dem Völkerrecht in Einklang stehe.

Damit war – und ist – jedoch nichts über die Kernfrage gesagt: ist mit der Unabhängigkeitserklärung ein neuer Staat entstanden? Tatsächlich erklärten sich die Richter in dieser entscheidenden Angelegenheit für nicht zuständig. In Paragraph 51 des Gutachtens heißt es: „Die Frage der Generalversammlung ist eindeutig formuliert. […] Sie fragt, ob nach der Meinung des Gerichtshofes die Unabhängigkeitserklärung dem internationalen Recht entspricht. Sie fragt nicht nach den rechtlichen Konsequenzen dieser Erklärung. Insbesondere fragt sie nicht danach, ob der Kosovo damit zum Staat geworden ist. Noch fragt sie nach Gültigkeit und Folgen der Anerkennung durch jene Staaten, die den Kosovo anerkannt haben.“ Weiter heißt es dann in Paragraph 56: „Die Generalversammlung hat gefragt, ob die Unabhängigkeitserklärung dem internationalen Recht entspricht. […] Für die Beantwortung der gestellten Frage ist es nicht notwendig, dass der Gerichtshof zur Frage Position bezieht, ob der Kosovo ein Recht hatte, seine Unabhängigkeit zu erklären und erst recht nicht, ob es generell ein Recht von Entitäten innerhalb eines Staates gibt, sich von diesem zu lösen. Tatsächlich ist es ja durchaus möglich, dass eine bestimmte Handlung – wie eine einseitige Unabhängigkeitserklärung – nicht gegen internationales Recht verstößt, ohne notwendigerweise Ausübung eines Rechtes zu sein. Der Gerichtshof wurde zu seiner Meinung zum ersten Punkt befragt, nicht zum zweiten.“

Diese freie Interpretation der Ausgangsfrage wurde dementsprechend auch in der abweichenden Stellungnahme des Richters Koroma kritisiert. Koroma betonte, dass der IGH zwar das Recht habe, die Frage zu „reformulieren und zu interpretieren“, er aber „nicht frei darin sei, seine eigene Frage zu substituieren und auf diese dann zu antworten.“ Koroma erinnert zudem daran, dass „das positive internationale Recht kein Recht anerkennt noch heiligt, das eine ethnische, sprachliche oder religiöse Gruppe autorisiert, sich von einem Staat zu trennen, dessen Teil sie ist, ohne das Einvernehmen des letzteren, in dem sie einfach erklärt, dies sei ihr Wille.“ Er verweist zudem darauf, dass hier ein sehr gefährlicher Präzedenzfall geschaffen wird, der jeder ethnischen, sprachlichen oder religiösen Gruppe erlaube, ihre Unabhängigkeit außerhalb des Kontexts der Entkolonisierung zu erklären.

Diese Warnungen waren bereits in den mündlichen Verhandlungen vor dem Gerichtshof u.a. von China, Russland, Venezuela, Bolivien, Spanien und Zypern zur Sprache gebracht worden. Andererseits insistierten die USA, Saudi-Arabien und Deutschland auf der Konformität der Unabhängigkeitserklärung Kosovos mit dem Völkerrecht, nicht zuletzt weil diese Staaten zusammen mit der Karsai-Administration Afghanistans zu den Erstanerkennern der Provinz gehörten.

Willkür statt Völkerrecht

Leichtfertig löst das IGH-Gutachten alle Sicherungen, die in die UN-Charta nicht zuletzt aufgrund der Aggressionspolitik des faschistischen Deutschlands und des militaristischen Japans aufgenommen wurden. Sie sollen einer Interventionspolitik seitens der Großmächte ebenso einen Riegel vorschieben, wie der Instrumentalisierung von Minderheiten mit dem Ziel, missliebige Länder zu zerschlagen. Mit der gängigen Interpretation des Gutachtens, der der IGH mit seiner Auslegung bewusst Tür und Tor geöffnet hat, wird nun aber das Recht des Stärkeren in der Internationalen Politik hoffähig gemacht.

Eine wichtige Lehre des IGH-Gutachtens besteht für sezessionistische Bewegungen darin, dass es wichtig ist, sich wenigstens der Unterstützung eines der ständigen Sicherheitsratsmitglieder zu sichern. Auch dies ist eine Konsequenz des Gutachtens. Denn der IGH hat deutlich unterschieden zwischen Fällen, in denen der Sicherheitsrat eine Unabhängigkeitserklärung verurteilte, wie der „Türkischen Republik Nord-Zypern“, und den Fällen, wie dem Kosovo, wo dies eben nicht geschah. Die USA, Frankreich und Großbritannien hätten mit hoher Wahrscheinlichkeit eine entsprechende Resolution des UN-Sicherheitsrats verhindert. Nach dem IGH-Entscheid bleibt also völkerrechtlich kein Stein mehr auf dem anderen. Ja man kann sogar, obwohl das Gutachten nicht rechtsverbindlich ist, von einer neuen Epoche des Imperialismus sprechen.[3]

Allerdings hat man aus westlicher Sicht mit dem IGH-Gutachten zwar ein eindeutig positives Plazet für die Politik von EU und NATO erhalten, die seit dem Ende des Kalten Krieges auf die Zerstörung von Staaten und den konformen Aufbau von Staaten setzt. Das „Recht“ auf Selbstbestimmung soll dabei aber natürlich lediglich für „genehme“ – sprich: pro-westliche – Gebiete gelten, nicht für alle anderen wie etwa pro-russische Provinzen wie Süd-Ossetien und Abchasien (Georgien) oder Transnistrien (Moldawien). Um hier eine gewisse „Eskalationskontrolle“ zu bewahren, wird argumentiert, der Kosovo sei einzigartig, ein Fall „sui generis“: „[Außenminister] Westerwelle betonte, der jüngste Beschluss des Internationalen Gerichtshofes in Den Haag über die Rechtmäßigkeit der Unabhängigkeit des Kosovo habe nichts mit anderen Gebieten der Welt zu tun.“[4] Doch diese Versuche, die fatalen Folgewirkungen des IGH-Gutachtens zu entschärfen und in kontrollierbare Bahnen zu lenken, sind durchsichtig und zum Scheitern verurteilt. Hatte bereits die Anerkennungspolitik der USA und Deutschlands die Büchse der Pandora einen Spalt weit geöffnet, ist jetzt der Deckel ganz ab.

Neuziehung der Grenzen – 1.000 Kosovos? Na klar!

Nach der Verlesung des Gutachtens setzten denn auch weltweit die ersten Berufungen von Mikronationalisten und Sezessionisten auf die Entscheidung des IGH ein. So erklärte der südossetische „stellvertretende Außenminister“ bereits einen Tag später unter Berufung auf das Gutachten, er hoffe, dass die UN bald auch Südossetien und Abchasien anerkennen würden. Dazu kamen ähnliche Verlautbarungen aus Nagorny-Karabach, der Republika Srpska in Bosnien-Herzegowina sowie aus dem Baskenland und Katalonien. Wie weit gerade in der politischen Klasse Deutschlands das Einverständnis mit diesem konfliktanheizenden Gutachten geht, machte der Journalist Josef Joffe deutlich. Auf die Frage des „Tagesspiegel“: „Das Kosovo durfte sich von Serbien abspalten, sagt der Internationale Gerichtshof in Den Haag. Es gibt weltweit über 1000 Ethnien. Dürfen sich die jetzt alle für unabhängig erklären?“ antwortete Joffe: „Na klar.“[5]

Zudem wird nunmehr der Verzicht auf das Kosovo durch Serbien ganz offen als Eintrittskarte in die Europäische Union thematisiert. Belgrad soll in die Knie gezwungen werden. Einen EU-Beitritt gibt es nur unter Anerkennung der einseitigen Unabhängigkeitserklärung Pristinas. Dabei taten sich gerade auch führende SPD-Politiker ganz in der Linie der Befürwortung des rot-grünen Angriffskrieges gegen Jugoslawien hervor. So erklärte der stellvertretende SPD-Fraktionsvorsitzende Gernot Erler unter Missachtung der UN-Sicherheitsratsresolution 1244 in Reaktion auf das Gutachten: „Serbien könnte bereits einen wesentlichen Schritt weiter auf dem Pfad der europäischen Integration sein, würde es nicht immer wieder unrealistische Gebietsansprüche auf der Grundlage fragwürdiger historischer Ableitungen geltend machen.“[6]

Als weiteres Menetekel mag nun die Erklärung von Spitzenpolitikern der rassistisch-sezessionistischen Lega Nord dienen, nach der Unabhängigkeit des Kosovo sei jetzt „Padanien“ im Norden Italiens dran.[7] In Zukunft wird das „Staaten bauen“ und „zerbrechen“ zum „legalen“ Handwerkszeug imperialistischer Staaten gehören – auch wenn dies gegen das geschriebene Völkerrecht verstößt. Wie weit die Vorstellungen auch bei deutschen Parteien in dieser Hinsicht gehen, ist an dem Statement der grünen Europaabgeordneten Franziska Brantner abzulesen. „In Europa“, so Brantner „geben wir mittlerweile die Fiktion von Staaten auf, Kosovo wurde anerkannt gestern gerade wieder; in Afrika halten wir an den alten Kolonialgrenzen fest. Vielleicht müssen wir das auch mal überdenken.“[8] Vor dem Hintergrund des IGH-Gutachtens sind solche und andere Aussagen nicht weniger als eine Aufforderung zur groß angelegten (gewaltsamen) Neuziehung von Grenzen in Afrika und anderswo.

Anmerkungen:

[1] International Court Justice: Accordance Wirth International Law of the Unilateral Declaration of Independence in Respect of Kosovo, 22.07.2010, Article 122: http://www.webcitation.org/5rRB9e3bz

[2] Was der IGH wirklich entschied, Legal Tribune Online, 23.07.2010.

[3] Vgl. Dagdelen, Sevim: Ein neuer Imperialismus, Junge Welt, 23.07.2010.

[4] Westerwelle hält Lösung für Zypernfrage für möglich, Hannoversche Allgemeine, 23.07.2010.

[5] Jedem Völkchen sein Staatchen. Vier Fragen an Josef Joffe, Der Tagesspiegel, 26.07.2010.

[6] Erler, Gernot: IGH-Gutachten zum Kosovo. Das Rad der Geschichte kann nicht zurückgedreht werden, Pressemitteilung 22.07.2010.

[7] Borghezio: dopo il Kosovo, Padania libera: http://libero-news.it/news/458601/Borghezio__dopo_il_Kosovo__Padania_libera.html

[8] „Es fehlt das Gesamtkonzept“. Grünen-Europapolitikerin Franziska Brantner im Gespräch mit Ute Welty, Deutschlandradio Kultur,. 23.07.2010.