IMI-Analyse 2009/021

Risiken und Nebenwirkungen: Neoliberaler Kolonialismus und NATO/EU-Aufstandsbekämpfung im Kosovo


von: Jürgen Wagner | Veröffentlicht am: 30. März 2009

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Erfolg ist bekanntlich eine Sache, die primär im Auge des Betrachters liegt. So verhält es auch beim Angriffskrieg gegen Jugoslawien und der daran anschließenden Besatzungspolitik des Westens. Für diejenigen, die diese Aggression zu verantworten haben, schlägt auf der Positivseite zu Buche, dass das Ziel, den „jugoslawischen Riegel“ aufzubrechen und das dortige sozialistische durch ein marktwirtschaftliches System zu ersetzen, verwirklicht werden konnte. Mehr noch: Im Kosovo wurde im Rahmen der militärischen Besatzung sogar eines der neoliberalsten Wirtschaftssysteme der Welt etabliert. Dass dieses Ziel von Anfang an integraler Bestandteil der Agenda war, bestätigt Strobe Talbott, seinerzeit stellvertretender US-Außenminister: „Während die Länder überall in der Region ihre Volkswirtschaften zu reformieren, ethnische Spannungen abzubauen und die Zivilgesellschaft zu stärken versuchten, schien Belgrad Freude daran zu haben, beständig in die entgegengesetzte Richtung zu gehen. Kein Wunder, dass die NATO und Jugoslawien schließlich auf Kollisionskurs gingen. Der Widerstand Jugoslawiens gegen den umfassenden Trend zu politischen und wirtschaftlichen Reformen – und nicht die Bitte der Kosovo-Albaner – bietet die beste Erklärung für den Krieg der NATO.“[1]

Zudem erfuhr der 1991 begonnene Umbau der NATO zu einem global agierenden Interventionsbündnis mit dem Angriffskrieg seinen „krönenden“ Abschluss. Lediglich einen Monat nach dessen Beginn im März 1999 wurde dieser „informelle Vertragswandel“ (Varwick/Woyke) weg von der Landesverteidigung mit der Verabschiedung des Neuen Strategischen Konzepts schriftlich fixiert. Mit der Aggression setzten die NATO-Staaten zudem ein unmissverständliches Zeichen, sich bei Kriegseinsätzen künftig nicht mehr an eine Zustimmung des UN-Sicherheitsrates – und damit von Russland und China – gebunden zu fühlen. Erinnert sei in diesem Zusammenhang an die diesbezüglich deutliche Aussage des damaligen Chefs des NATO-Militärausschusses Klaus Naumann: „Wir haben ihnen gezeigt, daß sie keine Chance haben, Interventionen der NATO durch ein Veto Rußlands zu behindern. Und ich hoffe, Moskau hat das verstanden.“[2]

Mit der Formel „illegal aber legitim“[3] wurde versucht, das Problem zu umschiffen, dass der ohne UN-Mandat durchgeführte Krieg einen eklatanten Verstoß gegen die UN-Charta darstellte. Da hierdurch mit dem Nicht-Einmischungsgebot eines der wichtigsten Prinzipien der UN-Charta faktisch für ungültig erklärt wurde, haben die NATO-Staaten damit dem Völkerrecht womöglich irreparablen Schaden zugefügt wurde. Schließlich wollte und will man sich nicht durch irgendwelche rechtlichen Einschränkungen von Militärinterventionen abhalten lassen.

Durch die spätere Besatzung und schließlich die Anerkennung des Kosovo durch die Mehrheit der westlichen Staaten wurde darüber hinaus auch noch das Prinzip der souveräner Gleichheit und territorialer Unversehrtheit außer Kraft gesetzt, indem Serbien gegen dessen erklärten Willen zerschlagen wurde. Auch dies dürfte im Sinne der Aggressoren gewesen sein, ging es doch nicht zuletzt darum, auf dem Balkan einen Präzedenzfall zu schaffen, um künftig kleinere Staaten nicht angreifen, sondern deren Grenzen auch im eigenen Sinne zurechtrücken zu können. Damit wurde aber die Büchse der Pandora geöffnet, Russland wusste diese Steilvorlage zu nutzen, indem es sich die westliche Argumentation zu Eigen machte und seinerseits auf nahezu dieselbe Weise versucht, Südossetien und Abchasien aus Georgien herauszubrechen – dies war eine sicherlich nicht beabsichtigt „Nebenwirkung“ des ganzen Unterfangens.

Was schließlich ganz sicher nicht beabsichtigt war, ist die Tatsache, dass es der Westen geschafft hat, nicht nur die serbische, sondern auch die kosovo-albanische Bevölkerung gegen sich aufzubringen. Ein deutlicheres Zeichen dafür, wie katastrophal die westliche Politik vor die Wand gefahren ist, kann es nur schwerlich geben. Die unglaubliche Dreistigkeit, mit der die Provinz unter dem Deckmantel einer „Unabhängigkeit unter internationaler Überwachung“ in ein neoliberales EU-Protektorat verwandelt wurde, sorgt für wachsenden Widerstand. NATO und EU reagieren hierauf, indem sie sich Hand in Hand verstärkt auf die Niederschlagung von Unruhen vorbereiten. Hierfür fanden zwischen Januar und März 2009 erstmals drei NATO-EU-Übungen statt, bei denen erstmals beide Organisationen die gemeinsame Aufstandsbekämpfung im Kosovo probten.

Kosovo: Anatomie einer westlichen Kolonie

Einen eigenständigen Staat Kosovo gab es nie und wird es in absehbarer Zeit auch nicht geben. Im Anschluss an den Angriffskrieg wurde die Provinz von der NATO-Truppe KFOR mit 50.000 Soldaten besetzt. Auch heute, mehr als zehn Jahre später, stellen immer noch knapp 15.000 Militärs (Tabelle: Die KFOR im Kosovo) sicher, dass die Geschickte der Provinz (aber auch der gesamten Region) den gewünschten Verlauf nehmen.

Letzten Endes sichert die NATO damit die Arbeit der Besatzungsbehörde ab, die von den Vereinten Nationen mit der UNMIK unmittelbar nach den Kampfhandlungen etabliert wurde. Der Wirtschaftshistoriker Hannes Hofbauer weist in diesem Zusammenhang auf die Tragweite dieses Vorgangs hin: „Die UN-Mission ist in dieser Form einzigartig: noch nie in der neueren Geschichte hat es eine solche international getragene externe Verwaltung über ein Territorium gegeben.“[4] Die UNMIK wurde so zur ultimativen Autorität im Kosovo, indem sie Exekutive, Legislative und Judikative in sich vereinte.

Über bindende Verordnungen (regulations), denen faktisch Gesetzescharakter zukommt, wurde der gesamte Umfang der Kompetenzen der Besatzungsbehörde näher präzisiert. U.a. gönnte man sich damit das „Recht“, im Kosovo jedes Gesetz zu annullieren und jeden gewählten Beamten zu feuern. Weiter sah man sich befugt (bzw. ermächtigte sich selbst dazu), im Namen des Kosovo internationale Verträge abzuschließen und Niederlassungen mit Botschaftscharakter zu eröffnen. Schließlich wurde u.a. noch festgelegt, dass die westlichen Akteure nicht der kosovarischen (geschweige denn der serbischen) Rechtssprechung unterliegen. Sukzessive übernahm also die UNO somit alle relevanten exekutiven Funktionen und übte damit praktisch die vollständige Souveränität im Kosovo aus – und sie wusste diese Befugnisse zu nutzen, indem sie die Provinz nach neoliberalen Vorgaben komplett umkrempelte.

Neoliberales Protektorat

Gleich zu Beginn der Besatzung zeigte sich, wohin die Reise gehen sollte, indem Serbien faktisch enteignet wurde: „Mit einer ersten Verordnung nach dem Einzug von KFOR und UNMIK vom 25. Juli 1999 beschlagnahmte der Hohe Repräsentant der UN-Mission, Bernard Kouchner, sämtliche beweglichen und unbeweglichen Eigentumstitel der Bundesrepublik Jugoslawien, die sich im Kosovo befanden. Darunter waren Telekommunikationseinrichtungen, Infrastruktur, Energiewesen, Banken, Produktionsstätten, Immobilien, Fuhrparks und vieles mehr zu finden.“[5]

Nachdem zuvor am 2. September 1999 noch die Deutsche Mark als Währung eingeführt wurde, schrieb die „Provisorische Verfassung“ Anfang 2001 unmissverständlich die Einführung der freien Marktwirtschaft vor und übertrug dem „Hohen Repräsentanten“ die Verantwortung für die Geld- und Wirtschaftspolitik. Dass diese Verfassung in Form einer UNMIK-Verordnung (2001/9) der Bevölkerung ohne jegliche Absprache schlichtweg übergestülpt wurde, sagt eigentlich alles über die Machtverhältnisse in der Provinz aus.

Innerhalb der UNMIK war die Europäische Union für den Bereich „Wiederaufbau und ökonomische Entwicklung“ zuständig. Unter ihrer Ägide wurde aus dem Kosovo eine Art neoliberales Vorzeigeprojekt gemacht.[6] Hierfür wurde die „Kosovo Trust Agency“ (bzw. nun vorrangig die „Kosovo Privatisation Agency“) per Dekret (Verordnung 2001/3) beauftragt, die vormals staatseigenen Betriebe und Genossenschaften zu privatisieren. In bislang 33 „Privatisierungswellen“, die letzt schwappte im Dezember 2008 über den Kosovo hinweg, wurde mittlerweile der Löwenanteil zu günstigen Preisen veräußert.[7] Auch die Zölle wurden nach bekanntem Muster nahezu ebenso vollständig abgeschafft wie Mengenbegrenzungen für die Einfuhren westlicher Produkte. „Kosovo hat eines der liberalsten Handelsregime der Welt“, bilanziert die Weltbank, „mit zwei Zolltarifsätzen, einem 0%igen und einem 10%igen Tarif sowie ohne jede Mengenbeschränkungen.“ Die Folge dessen war ebenso absehbar wie beabsichtigt: „Massenhaft billige Einfuhren überschwemmen den kosovarischen Markt.“ (S. 169) Da die einheimischen Betriebe (so es sie denn überhaupt noch gibt) der ausländischen Konkurrenz nicht gewachsen sind, kann sich eine kosovarische Industrie unter diesen Bedingungen nicht entwickeln: „Produziert wird beinahe nichts, der Industrieanteil am Bruttoinlandsprodukt ist laut dem kosovarischen Wirtschaftsinstitut ‚Riinvest‘ zwischen 1989 und 2006 von 47 auf 17% gesunken.“[8] Hieraus resultiert ein eklatantes Handelsbilanzdefizit, im Jahr 2006 beliefen sich die Importe auf 1.25 Mrd. Euro, exportiert wurden lediglich Waren im Wert von 77 Mio. Euro. Nebenbei ging auch bspws. noch das Bankenwesen zu ¾ in ausländischen (deutschen, österreichischen und belgischen) Besitz über.

Auch hier liegt der Erfolg im Auge des Betrachters. Während die dem Kosovo aufgezwungenen Wirtschaftsstrukturen westlichen Konzernen zum Vorteil gereichen, sieht dies für die Bevölkerung natürlich genau andersherum aus. So haben die zahlreichen Privatisierungsrunden zu Massenentlassungen geführt, weshalb die Arbeitslosenquote nach offiziellen Angaben 42-50% beträgt (inoffizielle Schätzungen liegen mit 60-70% weit höher). Arbeiterrechte oder Gewerkschaften sind faktisch nicht existent und versucht sich eine Belegschaft mit Betriebsbesetzungen zu wehren, haben die westlichen Besatzer immer noch das Militär in der Hinterhand, um die Proteste wortwörtlich zu bekämpfen. So geschehen beispielsweise, als die Belegschaft versuchte, sich gegen den Verkauf der Trepca-Mine zu wehren, deren Wert allein auf ca. 5 Mrd. Euro geschätzt wird. Auf Anordnung des damaligen Hohen Repräsentanten und heutigen französischen Außenministers Bernard Kouchner wurde darauf hin die Mine im August 2000 von 3.000 KFOR-Soldaten gestürmt.

Es ist diese Wirtschaftspolitik, die maßgeblich für die verheerende soziale Lage im Kosovo verantwortlich ist. Laut Weltbank leben 45% der Bevölkerung unterhalb der Armutsgrenze (45€/Monat): „Rund 15% der Bevölkerung ist extrem arm, hat also Schwierigkeiten die Grundernährung zu sichern.“[9] Die Gleichzeitigkeit von neoliberalen „Reformen“ und schreiender Armut ist deshalb beileibe kein Zufall: „Kosova gilt zugleich als wirtschaftsliberalster Platz in Europa und als Armenhaus des Kontinents.“[10]

Sezession als Steilvorlage

Wiederholt wurde darauf hingewiesen (siehe AUSDRUCK Dezember 2007 und April 2008), dass die Abspaltung des Kosovo von Serbien gegen dessen erklärten Willen völkerrechtswidrig ist. Bis heute gilt die Resolution 1244 vom 10. Juni 1999, die Serbiens Unteilbarkeit unzweifelhaft festschreibt, eine andere Rechtsgrundlage liegt nicht vor. Dennoch erklärte sich der Kosovo am 17. Februar 2008 für unabhängig und wurde bereits kurz darauf zuerst von den USA und wenig später von Deutschland sowie zahlreichen anderen Staaten offiziell anerkannt.

Die Zerschlagung Serbiens gegen dessen erklärten Willen erfolgte somit ohne völkerrechtliche Grundlage, womit das staatliche Souveränitätsrecht und damit das Recht auf territoriale Unversehrtheit de facto außer Kraft gesetzt wurde. Hiermit hat die „internationale Gemeinschaft“ (sprich: der Westen) aller Wahrscheinlichkeit nach bewusst einen überaus gefährlichen Präzedenzfall geschaffen. Dies zeigte sich rasch anhand der Ereignisse in Georgien, als Süd-Ossetien und Abchasien sich nach der georgischen Aggression im Sommer 2008 lossagten und argumentierten, sie würden für sich lediglich dieselben Rechte reklamieren, die zuvor dem Kosovo zugebilligt wurden. Auch Russland nutzte die westliche Politik als Steilvorlage, indem es die beiden Provinzen umgehend unter Verweis auf den Präzedenzfall Kosovo anerkannte: „Der Kosovo hat damit im Kaukasus sein geopolitisches Gegenstück gefunden.“[11] Dem Bestreben der Großmächte, die Grenzen kleinerer Staaten im Konfliktfall nahezu beliebig im eigenen Sinne zurechtzurücken, wurde hierdurch Tür und Tor geöffnet. Die scharfen Drohungen gegen Russland, das lediglich die westliche Politik imitiert hatte, zeigen allerdings, dass der „Westen“ dieses Recht exklusiv für sich beansprucht.

Ahtisaaris „unabhängige“ Kolonie

Trotz der Unabhängigkeitserklärung des Kosovo – und seiner Anerkennung durch zahlreiche Staaten – wird sich am kolonialen Charakter der westlichen Präsenz auf absehbare Zeit nichts verändern. Grundlage für die fortgesetzte Fremdherrschaft, „Unabhängigkeit unter internationaler Überwachung“ genannt, bildet der so genannte Ahtisaari-Plan der EU: „Der von Moskau abgelehnte und im Sicherheitsrat nicht einmal zur Abstimmung gelangte Ahtisaari-Plan wurde – mit kleinen Abweichungen – am 9. April in 14 Kapiteln und 162 Artikeln als kosovarische Verfassung in Prishtine ratifiziert und trat am 15. Juni in Kraft. Kosovas Protektoratsstatus wird darin konstitutiv.“[12] Der Plan legt fest, dass die Kontrolle über die Provinz der Europäischen Union übertragen wird. Um die reibungslose Verwaltung ihrer frisch erworbenen Kolonie zu gewährleisten, entsendete die Europäische Union die EULEX-Mission, die gegenwärtig (Stand: 23. März 2009) aus knapp 1700 Beamte (Juristen, Zöllner und Polizisten) besteht, die von etwa 800 Kosovaren unterstützt wird.

Dem EU-Prokunsul wird im Ahtisaari-Plan weiterhin das Recht zugesprochen, jedes Gesetz zu annullieren und jeden kosovarischen Beamten (auch Minister) bei unbotmäßigem Benehmen zu feuern – ohne jede rechtliche Einspruchsmöglichkeit. Weiter kann der Hohe Repräsentant auch direkt zahlreiche Posten besetzen: „Der oberste Kolonialverwalter besitzt auch die vollständige Personalhoheit. So setzt er den Rechnungshofpräsidenten, den Direktor des nationalen Pensionsfonds, die internationalen Richter und Staatsanwälte, den Zolldirektor, den Leiter der Steuerbehörde, den Chef der Zentralbank […] und viele andere ein.“[13] Weiter wird festgelegt, dass der Kosovo erst dann die vollständige Unabhängigkeit erlangen wird, wenn er sich für eine Aufnahme in die Europäische Union „qualifiziert“ hat, worüber selbstredend wiederum die westlichen Besatzer entscheiden. Auch die Nationalhymne des „Landes“ ist so unverschämt wie symptomatisch: „Der Titel ‚Europa‘ für eine Hymne in einem Land, das von der Europäischen Union verwaltet wird, ist passend, wiewohl etwas zynisch ausgewählt.“[14]

Nicht weniger als acht Mal wird in der kosovarischen Verfassung Bezug auf den Ahtisaari-Plan genommen und in Kapitel XIII schließlich explizit festgelegt: „Die Maßnahmen des umfassenden Vorschlags für das Übereinkommen zum Status des Kosovo vom 26. März 2007 haben Priorität über alle anderen Gesetzesmaßnahmen im Kosovo.“ Hierzu merkt Hofbauer an: „In verständlichen Worten: Der Ahtisaari-Plan […] steht über der kosovarischen Verfassung.“ Vor allem im Wirtschaftsbereich hat man weiterhin nichts zu melden: Die Einführung der „freien Marktwirtschaft“ wird nochmalig als alternativlos vorgeschrieben (Kapitel I/Artikel 7), der Privatisierungsprozess fortgesetzt und auch auf das eigene Budget hat man keinerlei Einfluss: „Die frühere serbische Provinz […] hat sich also die Überwachung der Budgetpolitik durch den EU-Kommissar und den IWF in ihre nationale Verfassung hineinschreiben lassen. Mehr Fremdherrschaft ist nicht möglich.“[15] Kein Wunder also, dass die wirtschaftsliberale Politik auch nach der „Unabhängigkeit“ ungebremst ihre Fortsetzung fand: „Knapp sechs Monate nach der angeblichen Unabhängigkeit bekommt Kosova eine Flat-Tax. Die Regierung in Prishtina hat in ihrer gestrigen Sitzung beschlossen, den Steuersatz für Unternehmen von zwanzig auf zehn Prozent zu senken. Laut Lutfi Zharku, Minister für Handel und Industrie, wird auch die Einkommenssteuer herabgesetzt. Diese liegt nun zwischen 0 und 10 Prozent. Die Mehrwertsteuer wird hingegen von 15 auf 16 Prozent angehoben.“[16]

Widerstand und Aufstandsbekämpfung

Dass die serbische Bevölkerung des Kosovo die westlichen Besatzer als Feinde betrachtet und auf die Barrikaden geht, ist angesichts der dortigen Vorgänge nicht weiter verwunderlich. Gegen die selbstherrliche Politik der westlichen Akteure regt sich mittlerweile jedoch auch innerhalb der kosovo-albanischen Bevölkerung Widerstand. Schon im Juli 2004 machten 75% der Kosovo-Albaner die Besatzungsbehörden direkt für die miserable wirtschaftliche Situation verantwortlich. Vor allem die Gruppe Vetevendosje kritisiert die westliche Kolonialverwaltung und ihre wirtschaftsliberale Ausrichtung.[17] Bei den zunehmenden Massenprotesten kam es bereits zu vielen Verletzten und teils sogar schon zu Todesopfern.

Auch in dieser Hinsicht ist der Kosovo leider typisch. Denn nicht nur dort spitzen sich die Konflikte in jüngster Zeit massiv zu, weshalb die USA und die EU-Staaten regelrecht gezwungen sind, enger bei der Niederschlagung von Aufständen zusammenzuarbeiten. Schon im Herbst 2008 unterzeichneten die USA und die EU hierfür ein Abkommen, mit dem sich die USA an der EU-Mission EULEX im Kosovo beteiligt. In einer EU-Presseerklärung wird dabei explizit auf den bahnbrechenden Charakter der Vereinbarung hingewiesen: „Hierbei handelt es sich um einen besonderen Fall, bei dem die Vereinigten Staaten an einer zivilen Mission der Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik teilnehmen.“[18] Dies war bislang absolut unüblich und ist hier erstmals der Fall.

So verwundert es auch nicht, dass NATO (KFOR) und EU (EULEX) sich gegenwärtig akribisch darauf vorbereiten, künftige Proteste effektiv bekämpfen zu können. Hierfür fanden im Januar, Februar und März 2009 Übungen statt, in denen KFOR und EULEX erstmals Hand in Hand gemeinsam die Niederschlagung eines Aufstands („crowd and riot control“) probten. Dass man mittlerweile wirklich auf keiner Seite mehr Freunde hat, zeigen auch die den Übungen zugrunde liegenden Szenarien – in einem rüstet man sich gegen kosovo-albanische Proteste, im anderen gegen solche der serbischen Bevölkerung.

Die Übung im Januar, an der mehrere hundert Soldaten und Polizisten teilnahmen, war an die Unruhen im März 2008 im mehrheitlich von Serben bewohnten Nordteil Mitovicas angelehnt, als 500 Einsatzkräfte ein besetztes UN-Gerichtsgebäude stürmten und dabei Tränengas und Blendgranaten einsetzten. In einem Soldatenblog findet sich folgende Beschreibung des NATO-EU-Manövers: „Das Szenario war eine Großdemonstration mit gewalttätigen Ausschreitungen und Übergriffen auf die Polizei, wie sie im Kosovo bislang vorkamen. Nachdem seit Dezember die EULEX die Verantwortlichkeit in einer Assistenzfunktion übernommen hat und das EULEX-Mandat gilt, das den kosovarischen Behörden die Verantwortlichkeiten in erster Linie überlässt, war auch der Übungsablauf der Mandatslage angepasst. Erst als die Kosovo Police von Umfang und Intensität der Lage ‚überfordert‘ war, kamen (second line) EULEX-Kräfte der Special Police als Unterstützung zum Einsatz, als auch für die Kosovo Police Units und die EULEX-Police die Situation nicht zu bewältigen war, wurden (third line) KFOR Einheiten angefordert, die per Lufttransport heran geführt wurden und ins Geschehen eingriffen, so dass die Situation im Griff zu bekommen war.“[19]

Die zweite Übung fand Ende Februar statt und zielte augenscheinlich auf den kosovo-albanischen Bevölkerungsteil. Auf der Homepage des österreichischen Heeres wird das Szenario dieses beschönigend als „Ordnungseinsatz“ bezeichneten Manövers folgendermaßen wiedergegeben: „Eine unangekündigte aggressive Demonstration vor einem Kloster war Ausgangspunkt des Szenarios. In Zusammenarbeit mit der Kosovo-Polizei wurde versucht, die Demonstranten zu beruhigen. Diese wurden jedoch immer gewalttätiger und weigerten sich, sich zurück zu ziehen. Die vor Ort eingesetzten KFOR-Kräfte der Multinationalen Task Force Süd forderten daher Verstärkung an. Zusätzliche Soldaten wurden in mehreren Luftlandungen mit Hubschraubern herangeflogen. Zwei Militärhundeführer und ihre speziell ausgebildeten Diensthunde wurden ebenfalls eingeflogen, um bei einer weiteren Eskalation bereitzustehen. Durch die Verstärkung aus der Luft wurden die aggressiven Demonstranten unter Kontrolle gebracht.“[20] Über eine dritte für den 13. März vorgesehene Übung war bislang noch nichts Näheres in Erfahrung zu bringen. Aus einer EULEX-Vorankündigung geht jedoch hervor, dass sie im Wesentlichen den beiden vorherigen geähnelt haben dürfte.[21]

In gewisser Weise ist diese Vorbereitung auf die Aufstandsbekämpfung auf traurige Weise folgerichtig und konsequent. Da man offensichtlich nicht gewillt ist, den Menschen eine soziale Perspektive zu geben, bleibt den Besatzern letztlich nur der Rückgriff auf Gewalt – im Kosovo und anderswo.

Anmerkungen:

[1] Klein Naomi: Die Schickstrategie. Der Aufstieg des Katastrophen-Kapitalismus, Frankfurt 2009, S. 457f. Hervorhebung JW.

[2] Naumann, Klaus: Der Gewalt nicht nachgeben. Erfahrungen aus dem Kosovo-Einsatz, in: Truppenpraxis, Wehrausbildung, 11/99, S. 732-742, S. 736.

[3] Independent International Commission on Kosovo, Kosovo Report 2000.

[4] Hofbauer, Hannes: Experiment Kosovo. Die Rückkehr des Kolonialismus, Wien 2008, S. 116.

[5] Ebd., S. 160.

[6] Vorbildcharakter hatten die Wirtschafts“reformen“ im Übrigen auch dahingehend, dass sie nahezu in identischer Form später dem Irak und Afghanistan verordnet wurden.
[7] Privatisation Agency of Kosovo, URL: http://www.pak-ks.org/?id=59

[8] Hofbauer 2008, S. 168.

[9] World Bank: Kosovo Poverty Assessment Report, URL: http://tinyurl.com/c2pngc

[10] Hofbauer 2008, S. 167.

[11] Ebd., S. 221.

[12] Ebd., S. 231.

[13] Ebd., S. 240.

[14] Ebd., S. 218.

[15] Ebd., S. 183.

[16] Sadiku, Agron: Kosova – Die Flat-Tax begünstigt nur die Reichen, Kosova aktuell, 29.07.2008.

[17] Allein deshalb in Vetevendosje eine linke, progressive Kraft zu sehen, wie es teilweise geschieht, ist zumindest umstritten. So gibt es durchaus kritische Stimmen, die dies in Frage stellen. Vgl. etwa Oschlies, Wolf: Albin Kurti: Mit wohlbekannten Methoden auf dem Weg nach Groß-Albanien, in: Eurasisches Magazin, 30.07.2006.

[18] Joint Press Statement by the United States of America and the European Union on US participation in the EULEX mission in Kosovo, Council of the European Union, Brussels, 22 October 2008, 14619/08 (Presse 295).

[19] Erste KFOR-EULEX Übung – ein reales Szenario, http://tinyurl.com/c5j8kq; Ein Video der Übung findet sich hier: http://www.eulex-kosovo.eu/?id=29&v=14; Vgl. für die Beschreibung der KFOR: „Great Coordination“ in the First-ever Joint Kosovo Force (KFOR) – European Union Rule of Law Mission in Kosovo (EULEX) Exercise, NATO, 27.01.2009: http://www.nato.int/kfor/docu/inside/2009/01/i090127a.htm

[20] KFOR übt Ordnungseinsatz – Crowd and Riot Control, Österreichisches Bundesheer, 25.02.2009, http://www.bundesheer.at/ausle/kfor/artikel.php?id=2740

[21] „Die dritte und letzte dieser Serie an Übungen wird am 13. März stattfinden, wo das Szenario sein wird, dass die Kosovo-Polizei, unterstützt von EULEX-Polizeispezialeinheiten [sprich Paramilitärs] eine Situation öffentlicher Unruhe kontrolliert und sich die KFOR darauf vorbereitet, die Situation zu übernehmen, sollte die Lage außer Kontrolle geraten.“ Vgl. EULEX and KFOR train at Camp Vrello, EULEX, 27.02.2009, http://tinyurl.com/dmcwfs