Quelle: Informationsstelle Militarisierung (IMI) e.V. - www.imi-online.de

IMI-Analyse 2009/019 - in: AUSDRUCK (April 2009)

Verquaste Weltbilder und EU-Militarisierungskataloge

Tobias Pflüger (27.03.2009)

https://www.imi-online.de/download/TP-Vatanen-2-09.pdf

Am 19. Februar verabschiedete das Europäische Parlament zwei Berichte, die einen großen Schritt in Richtung einer europäischen Militärunion darstellen: Zum einen den Bericht des baden-württembergischen Abgeordneten Karl von Wogau (CDU) zur „Europäischen Sicherheitsstrategie“ und zum anderen den des in Frankreich gewählten finnischen Konservativen Ari Vatanen „über die Rolle der NATO im Rahmen der Sicherheitsarchitektur der EU“. Beide setzen sich ein für weitere Intensivierung des EU-Militarisierungsprozesses. Der Bericht Ari Vatanens offenbart darüber hinaus auch tiefe Einblicke in das Weltbild, das sich – abseits konkreter ökonomischer Interessen – hinter dieser Militarisierung verbirgt.

Wogau: Militärische Interessensdurchsetzung

Der Bericht unter Federführung von Karl von Wogau setzt sich massiv für den Ausbau der EU-Truppen ein. Dort wird gefordert, „dass die Europäische Union ihre Fähigkeiten auf der Grundlage der zivilen und militärischen Planziele weiter ausbauen sollte; stellt fest, dass sie bestrebt sein sollte, eine Streitmacht von 60 000 Soldaten zur ständigen Verfügung zu haben; bekräftigt seinen Vorschlag, dass das Eurokorps den Kern dieser Streitkräfte bilden sollte, nötigenfalls verstärkt durch zusätzliche See- und Luftkapazitäten.“ (Absatz 45)

Der Bericht benennt klar, was es mit dieser Truppe zu tun gilt, nämlich, „dass die Europäische Union ihre strategische Autonomie durch eine starke und wirksame Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik entwickeln muss, um […] ihre Interessen in der Welt zu vertreten.“ (Absatz 1) Anschließend wird präzisiert, dass der Aufgabenkatalog folgende Aspekte umfassen soll, den „Schutz ihrer Bürger und ihrer Interessen innerhalb wie außerhalb der Europäischen Union, die Sicherheit ihrer Nachbarländer, den Schutz ihrer Außengrenzen und kritischer Infrastrukturen sowie die Verbesserung ihrer Computer- und Netzsicherheit, die Sicherheit der Energieversorgung und der Seewege, den Schutz ihrer Weltraumressourcen und den Schutz gegen die Folgen des Klimawandels.“ (Absatz 19)

Brisant ist dabei nicht nur die Absicht, die EU-Energiezufuhr notfalls mit Gewalt zu gewährleisten, sondern auch das Bestreben, den Weltraum zu militarisieren. Der Report „erachtet es als notwendig, die Nutzung von Galileo und GMES für Sicherheitsund Verteidigungszwecke zu ermöglichen.“ (Absatz 50) Dies ist hochproblematisch, denn das EU-Satellitenprojekt Galileo wird aus dem EU-Haushalt unter anderem aus dem Transporthaushalt bezahlt. Nach dem weiterhin gültigen Vertrag von Nizza verbietet sich jedoch eine militärische Nutzung von Geldern des EU-Haushaltes.

Generell untersagt der Nizza-Vertrag die Aufstellung eines eigenständigen EU-Rüstungshaushalts. Aus diesem Grund wird versucht, über diverse Umwege Gelder für die nächsten Militärmissionen und Kriege zu akquirieren. Der Wogau-Bericht verlangt mehr Mittel für die „Sicherheitsforschung“. Er „fordert eine Aufstockung der Gemeinschaftsmittel für die Sicherheitsforschung und die Förderung gemeinsamer Forschungsprogramme der Kommission und der EVA [Europäische Verteidigungsagentur].“ (Absatz 63) Diese Ausgaben sollen dabei sowohl militärischen als auch sonstigen Zwecken dienen (bspws. zur Migrationsabwehr oder für die innere „Sicherheit“) und so zu Synergieeffekten führen: „[Der Bericht] fordert mit Nachdruck, dass die Europäische Union und ihre Mitgliedstaaten ihre Anstrengungen auf die gemeinsamen Kapazitäten konzentrieren, die sowohl für Verteidigungs- als auch für Sicherheitszwecke eingesetzt werden können; hält in diesem Zusammenhang die satellitengestützte Aufklärung sowie Einsatzgeräte für die Überwachung und Frühwarnung, unbemannte Fluggeräte, Hubschrauber und Telekommunikationsausrüstung sowie den Luft- und Seeverkehr für besonders wichtig; fordert eine gemeinsame technische Norm für geschützte Telekommunikation und Mittel zum Schutz kritischer Infrastrukturen.“ (Absatz 48) Konsequenterweise setzt sich der Bericht deshalb für die weitere Vermischung ziviler und militärischer Fähigkeiten ein, er „stellt fest, dass bei dieser Politik sowohl zivile als auch militärische Mittel und Kapazitäten zum Einsatz kommen müssen.“ (Absatz 6) Auch die Herausbildung eines einheitlichen europäischen Rüstungsmarktes wird explizit begrüßt, der Bericht „befürwortet nachdrücklich den Ausbau eines europäischen Verteidigungs- und Sicherheitsmarktes durch Annahme der Legislativvorschläge der Kommission zum öffentlichen Beschaffungswesen und zur innergemeinschaftlichen Verbringung und empfiehlt weitere Initiativen, um dieses Ziel zu erreichen.“ (Absatz 60)

Vatanen: Intensivierung der NATO-EU-Zusammenarbeit

Der Bericht unter der Federführung von Ari Vatanen (EVP, ein aus Finnland stammender in Frankreich gewählter Konservativer) zur Zusammenarbeit zwischen EU und NATO ist noch schlimmer als sein Wogau-Pendant. In seinem Zentrum steht die Forderung nach einer noch engeren Zusammenarbeit beider Organisationen.

Zunächst widmet sich der Bericht jedoch der Intensivierung der EU-Militarisierung, indem er „fordert, dass das vorhandene Instrumentarium der Europäischen Union zur Krisenbewältigung weiterentwickelt […] und militärisch schlagkräftiger werden wird, da die Union nur so über die notwendigen Kräfte verfügen kann, die sie in die Lage versetzen, ihre einzigartigen Möglichkeiten in den Bereichen Konfliktverhütung und Konfliktbewältigung auszuschöpfen.“ (Absatz 4) Zu diesem Zweck unterstützt der Bericht u.a. „die Schaffung eines operationellen EU-Hauptquartiers unter der Leitung des Vizepräsidenten der Kommission/ des Hohen Vertreters, das den Auftrag hat, die militärischen ESVP-Operationen zu planen und durchzuführen.“ (Ziffer 23) Kern des Berichtes ist jedoch die Forderung nach einer Intensivierung der EUNATO- Kooperation. Grundtenor ist, „dass die Beziehungen zwischen der Europäischen Union und den Vereinigten Staaten gestärkt werden sollten.“ (Paragraf O) Hierfür sollte „die Synergie zwischen der EU und der NATO in bestimmten militärischen Bereichen durch gemeinsame Pilotvorhaben gestärkt werden.“ (Paragraf R) Mit dem Ausbau der EU-NATO-Zusammenarbeit soll eine neue Macht- und Arbeitsverteilung einhergehen: Die EU-Staaten sollen die USA künftig stärker militärisch unterstützen, im Gegenzug sollen die Vereinigten Staaten EU-Interessen künftig in deutlich größerem Maße als bislang berücksichtigen. Hierfür fordert der Bericht „einen spürbaren Anstieg des Anteils der gemeinsamen Kosten bei jeder Militäroperation der NATO und der Europäischen Union; stellt fest, dass sowohl was die Größenordnung angeht als auch was die Effizienz der Verteidigungsausgaben betrifft, ein großer Unterschied zwischen den europäischen Mitgliedern der NATO auf der einen Seite und den Vereinigten Staaten auf der anderen Seite besteht; fordert die Europäische Union auf, einen gerechteren Anteil an der Last zu tragen; fordert ferner die USA auf, mehr Bereitschaft an den Tag zu legen, ihre europäischen Verbündeten zu Fragen im Zusammenhang mit Frieden und Sicherheit zu konsultieren.“ (Ziffer 34)
Weiter pocht der Vatanen-Bericht darauf, dass die „Berlin-Plus-Vereinbarungen […] verbessert werden müssen.“ (Absatz 13) Dabei handelt es sich um ein im März 2003 verabschiedetes Abkommen, mit dem geregelt wurde, dass die Europäische Union für Militäreinsätze auf Kapazitäten der NATO zurückgreifen kann, wie dies etwa in Bosnien geschieht.

Besonders delikat ist in diesem Zusammenhang, dass und wie der Bericht versucht, einen erheblichen Stolperstein für die Intensivierung der NATO-EU-Zusammenarbeit aus dem Weg zu räumen. Denn für den Austausch sensibler Informationen bei strategischen Treffen ist die Teilnahme am NATO-Programm „Partnerschaft für den Frieden“ (PfP) die Mindestanforderung. Da Zypern als einziges EU-Land weder NATO-Mitglied ist noch an PfP teilnimmt, wird dem Land der Zutritt zu diesen Treffen verweigert, gleichzeitig muss aber deshalb bislang die gesamte östliche Ägäis aus Berlin-Plus ausgeklammert bleiben. Auch in anderen Bereichen steht die zypriotische Position einer deutlichen Stärkung der NATO-EU-Kooperation im Weg. Deshalb legt der Vatanen-Bericht „Zypern als einem EU-Mitgliedstaat nahe, seine politische Haltung zu seiner Mitgliedschaft in der Partnerschaft für Frieden zu überdenken.“ (Absatz 40) Dies könnte auch den Weg ebnen, um Berlin-Plus auf breiter Front auszubauen, u.a. indem ein umgekehrtes Verfahren etablieren wird, bei dem die NATO für ihre Kriege künftig grundsätzlich Zugriff auf zivile Fähigkeiten der EU erhalten soll („Berlin-Plus-Reverse“). Der zypriotische Präsident Dimitris Christophias stellte in Moskau die Position der zypriotischen Regierung gegen eine Mitgliedschaft Zyperns in PfP-Programm klar: „Die NATO ist ein Bündniss, das der Vergangenheit angehören sollte.“ Für einen EU-Staatschef ungewöhnlich klares Statement gegen die NATO.

Besonders unangenehm fällt die – innerhalb der Eliten weit verbreitete – Sichtweise auf, Frieden könne nur mit militärischer Gewalt gesichert werden. Dies wird sehr deutlich anhand der Passagen über Atomwaffen, die weiterhin als unumstößliches Fundament europäischer Sicherheitspolitik betrachtet werden. Im Bericht wird festgestellt, „dass die gemeinsame Verteidigung Europas auf einer Kombination konventioneller und atomarer Streitkräfte beruht.“ (Paragraf S) Im Berichtsentwurf wurde sogar noch untermauert, „dass die strategischen Atomstreitkräfte der Allianz letztendlich Garant der militärischen Sicherheit für die Verbündeten sind.“ (Berichtsentwurf: Paragraf M) Die sich auch Artikel VI des Nuklearen Nichtverbreitungsvertrages ergebende bindende Verpflichtung der Atomwaffenstaaten, ihr Arsenal schnellstmöglich abzurüsten, wird dabei mit keinem Wort erwähnt. Ein Änderungsantrag der GUE/ NGL, der forderte, dass die EU darauf hinwirken solle, Atomwaffen auf ihrem Territorium zu beseitigen, wurde mit 494 zu 119 Stimmen abgelehnt (bei 26 Enthaltungen). Nahezu geschlossen stimmte auch die PSE (sozialdemokratische Fraktion im EP) einschließlich der deutschen Sozialdemokraten gegen diesen Antrag.

Fast noch bedenklicher war das Abstimmungsverhalten zu den das Völkerrecht und die UN-Charta betreffenden Passagen. So wurde ein Änderungsantrag der GUE/ NGL, der das in der UN-Charta verankerte Recht eines jeden souveränen Staates bekräftigt, selbst zu entscheiden, welcher Organisation er beitritt, mit 434 zu 193 Stimmen zurückgewiesen (15 Enthaltungen). Auch hier sprach sich die PSE inklusive der deutschen Sozialdemokraten gegen den Antrag und damit gegen ein wesentliches Prinzip der UN-Charta aus. Ein weiterer Änderungsantrag, der einforderte, dass das in der UN-Charta festgelegte Prinzip, dass alle UN-Mitglieder davon Abstand nehmen gegen die territoriale Unversehrtheit oder die politische Unabhängigkeit eines Staates vorzugehen, respektiert wird, wurde ebenfalls abgelehnt (mit 472 gegen 141 Stimmen bei 32 Enthaltungen). Wieder stimmten die Sozialdemokraten nahezu geschlossen gegen den Antrag. Schließlich wurde auch ein Antrag, der für eine strikte Trennung von EU und NATO plädierte, deutlich mit 500 zu 95 Stimmen (52 Enthaltungen) abgelehnt.

Fazit

Während Karl von Wogau offen einräumt, die weitere Militarisierung der Europäischen Union sei erforderlich, um direkte ökonomische und strategische Interessen ggf. militärisch durchzusetzen, leitet sein Kollege Vatanen diese Notwendigkeit eher aus einer verquasten, pseudophilosophischen Lebensanschauung ab. Sein Explanatory Statement, mit der er seine Forderungen in einen breiteren Zusammenhang rückt und begründet, offenbart ein krudes Weltbild, in dem ein hobbesscher Kampf aller gegen alle im Zentrum steht und si vis pacem para bellum (Wenn Du Frieden willst, so rüste zum Krieg) zur obersten Maxime erhoben wird: „Einige der Ideen in diesem Bericht werden vielleicht nicht in naher Zukunft umgesetzt, wir sollten jedoch versuchen, über die nächsten Wahlen hinaus zu schauen. Wir würden uns selbst betrügen, wenn wird der Auffassung wären, dass die menschliche Natur sich in den letzten paar 1 000 Jahren zum Besseren gewendet hat. Der Mensch möchte immer noch Macht über seinen Nachbarn ausüben, sowohl auf individueller als auch auf kollektiver Ebene, was oft zu katastrophalen Folgen für das Wohl aller führt.“ In der Le Monde diplomatique (13.3.2009) erschien aufgrund dieser und anderer Passagen des Vatanen- Reports ein bitterböser Kommentar: „Ohne Angst vor peinlichen Phrasen garnierten die Abgeordneten ihren Vorschlag noch mit der Erinnerung an „dunkle Stunden unserer Geschichte“, an Hitler und München, nicht ohne ein paar Zeilen von „Elie Wiesel, dem Holocaust-Überlebenden“ zu zitieren, um die Frage anzuschließen: „Wollen wir nicht alle, dass uns jemand zu Hilfe kommt, wenn wir unter Tränen darum bitten?“

Es ist diese Kombination aus nackter Interessenspolitik und verqueren Weltbildern, die der EU-Militarisierung eine breite Zustimmungsbasis verschaffen. Auch wenn der Vatanen-Bericht nur mit einer knappen Mehrheit (293 zu 283 Stimmen) angenommen wurde, Wogaus Vorschläge fanden große Zustimmung. Parlamentarisch lassen sich derzeit kaum bzw. nur punktuell Mehrheiten gegen diese Militarisierung finden, wenn es keinen verstärkten außerparlamentarischer Druck gibt – den wir immer wieder neu mobilisieren müssen.

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