IMI-Analyse 2009/001

Weltherrschaft durch die Kontrolle von Strömen

Die Rolle der NATO bei der Militarisierung der Migration

von: Christoph Marischka | Veröffentlicht am: 14. Januar 2009

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Dieser Text erscheint demnächst in der von der Informationsstelle Militarisierung und der DFG-VK herausgegebenen Broschüre „Kein Frieden mit der NATO“. Vorbestellung der Broschüre mit 72 Seiten für 2 Euro zzgl. Versand an: imi@imi-online.de

Wie alle IMI-Publikationen steht auch die NATO-Broschüre kostenlos für den Download zur Verfügung:
http://imi-online.de/download/webversion-imi-nato.pdf

Als Einzeltext findet sich der Beitrag hier: http://imi-online.de/download/CM-NATO-Migration.pdf

In diesem Text werden verschiedene Aspekte der NATO-Strategie beleuchtet, welche die Bewegungsfreiheit von Menschen einschränken und zu einer Militarisierung der Grenzregime rund um den Globus beitragen. Der Autor möchte sich von einigen der hierbei verwendeten menschenverachtenden Begriffen wie „Migrationsströme“, „Youth Bulge“ und „Surplus Population“ distanzieren. Diese sind nicht geeignet, individuelle Entscheidungen und Notlagen oder deren Folgen angemessen zu beschreiben – es sei denn, man strebt die Weltherrschaft an und analysiert hierfür demografische Trends im kontinentalen Maßstab, wie es die NATO tut.

Active Endeavour

Unmittelbar nach den Anschlägen vom 11.9.2001 erklärte die NATO erstmals in der Geschichte den NATO-Bündnisfall und begann damit tatsächlich einen Krieg gegen einen unsichtbaren und abstrakten Feind, den Internationalen Terrorismus. Als Teil des globalen Kriegs gegen den Terror wurde die NATO-Mittelmeerflotte aktiviert, die seitdem im Rahmen der Operation Active Endeavour das Mittelmeer patrouilliert, um die Handelsschifffahrt zu überwachen. Bis November 2007 wurden im Rahmen dieses Einsatzes 88.590 Schiffe kontaktiert, 488 begleitet und 125 kontrolliert. Wie solche Kontrollen ablaufen, offenbart ein NATO-Propagandavideo mit dem Titel „Defence against terrorism“: Mehrere Kriegsschiffe steuern das Zielobjekt – in diesem Falle ein Tanker – an, Hubschrauber mit bemanntem Maschinengewehr überfliegen es. Über Funk wird das Schiff kontaktiert, zu Herkunft, Ladung und Ziel befragt. Diese Angaben werden mit den Aufklärungsdaten aus dem „intelligence network“ der NATO abgeglichen. Bei Unstimmigkeiten und auch nach dem Zufallsprinzip werden Kontrollen durchgeführt. Die Besatzung muss sich an Deck versammeln, NATO-Soldaten setzen mit Schlauchboten über und betreten das Schiff mit schusssicheren Westen und ihren Gewehren im Anschlag. Sie werfen einen Blick in die Logbücher und auf die Ladung und durchstreifen die Gänge und Räume des Tankers.

Solche Kontrollen auf See sind nur im Kriegszustand zulässig, der tatsächlich mit dem NATO-Bündnisfall für das Mittelmeer ausgerufen wurde und bis heute in Kraft ist. Offiziell soll Active Endeavour dafür sorgen, dass keine Terroristen, vor allem aber auch keine Waffen und Kampfstoffe über das Mittelmeer nach Europa gelangen. Bei den Kontrollen wird aber darüber hinaus auch nach „nicht Spezifischem“ gesucht. Die Soldaten versuchen, sich ein Bild des Schiffes zu machen und achten auf alles, was verdächtig ist. „Bislang verliefen alle Inspektionen negativ“, heißt es in dem Film, „das heißt, wir haben niemals Waffen oder verdächtiges Material gefunden“. Nicht zu unterschätzen sei aber die präventive Wirkung der Operation. Durch den militärischen Aufmarsch im Mittelmeer sollen die Bootsbesatzungen eingeschüchtert und zum vorauseilenden Gehorsam gezwungen werden. Das bedeutet auch, die Ladung genau zu kontrollieren, rigoros gegen blinde Passagiere vorzugehen und in Seenot geratene Bootsflüchtlinge im Zweifelsfall nicht zu retten. Denn eine Rettung von Schiffbrüchigen im Mittelmeer hat bereits mehrfach zu Anzeigen gegen die Bootsbesatzungen geführt.

Dass die Militarisierung des Mittelmeers, – eine der wichtigsten Außengrenzen der EU und einen Raum, der eines der größten Wohlstandsgefälle weltweit überbrückt – als Teil einer Abschottungsstrategie der EU gegenüber unerwünschten MigrantInnen Wirkung zeigt, versucht zumindest die US-amerikanische Botschafterin in Malta glaubhaft zu machen. Die Operation Active Endeavour hätte einen „nützlichen Nebeneffekt“: „Im westlichen Teil des Mittelmeeres, wo die Mission begann, wurde die irreguläre Migration um 50% reduziert.“[1] Darin jedoch den Hauptzweck der Operation zu sehen, ist zweifelhaft. Dieser ist vielmehr in dem langfristigen Ziel zu finden, eine globalisierte Welt, die aus Sicht der NATO-Strategen in erster Linie aus Strömen von Waren, Informationen und Menschen besteht, durch die militärische Kontrolle dieser Ströme zu beherrschen. Als Vorwand hierfür dient im Augenblick v.a. der Terrorismus – nicht nur im Mittelmeer.

Vergrenzung Afrikas

Dass die NATO 2006 ihr erstes offizielles Manöver in Afrika (Steadfeast Jaguar) zunächst in Mauretanien abhalten wollte und dann auf die Kapverdischen Inseln auswich, von wo kurz zuvor die Zahl der Bootsflüchtlinge auf die Kanaren eben wegen der zunehmenden Abschottung des Mittelmeeres sprunghaft anstieg, ist ebenfalls weitgehend Zufall. Das Interesse der NATO an der westafrikanischen Küste begründet sich vorrangig in den dortigen Rohstoffvorkommen und den dort endenden Ölpipelines aus Nigeria und Zentralafrika.[2] Insbesondere die Küste vor Nigeria gilt als „Hot Spot“ der Piraterie und soll deshalb verstärkt von internationalen Flottenverbänden kontrolliert werden, um die günstige und sichere Versorgung der Ersten Welt mit Öl aus der Dritten zu gewährleisten. Doch auch hier läuft man Gefahr, das Interesse der NATO zu spezifisch zu interpretieren, wenn man lediglich an Öl denkt. Ein Jahr später, im Juli 2007, umschiffte ein Teil der NATO-Mittelmeerflotte ganz Afrika, um „die Fähigkeit der NATO zu demonstrieren, Sicherheit und internationales Recht auf hoher See zu gewährleisten“.[3] Hierzu passierte die Flotte die westafrikanische Küste, zeigte Präsenz im Niger-Delta und fuhr dann weiter nach Südafrika, wo eine gemeinsame Übung mit der dortigen Marine abgehalten wurde. Anschließend besuchten die Kriegsschiffe noch die Seychellen und hielten ein Manöver vor Somalia ab – wo ohnehin, ebenfalls seit 2001, ständig NATO-Schiffe im Rahmen der Operation Enduring Freedom präsent sind – bevor sie durch den Suez-Kanal ins Mittelmeer zurückkehrten.

Die US-Marine hat außerdem eine Initiative namens „Africa Partnership Station“ begründet, in deren Rahmen regelmäßig US-amerikanische Kriegsschiffe in westafrikanische Häfen einlaufen, um gemeinsame Übungen oder Kurse für die jeweilige Küstenwache und Marine abzuhalten. Ziel der Initiative ist es, „die Fähigkeit der beteiligten Nationen zu verbessern, die Herrschaft des Rechts auf die See auszudehnen und illegale Fischerei, Menschenschmuggel, Drogenhandel, den Diebstahl von Öl und die Piraterie besser bekämpfen zu können“.[4] Obwohl dies zunächst rein US-amerikanische Einsätze sind, nutzen die US-Streitkräfte für ihre Operationen in Afrika fast immer die NATO-Stützpunkte in Europa, viele der eingesetzten Schiffe sind dort dauerhaft stationiert und zeitweise Teil von NATO-Verbänden. Auch die EU ist in Westafrika militärisch aktiv – bislang nur in Guinea-Bissau, sie will dieses Engagement aber ausdehnen. Ihr dienen als Begründung der Drogenhandel, der von dieser Region ausginge, sowie die wenig zuverlässigen Sicherheitskräfte. Durch Reformen der Polizeien und Militärs der jeweiligen Länder sowie durch die Installation eigener Überwachungstechnologie will sie eine bessere Überwachung der See- und Flughäfen erzielen.[5] Denn Knotenpunkte internationaler Ströme, die nicht der eigenen Kontrolle unterliegen, gelten per se als Bedrohung der europäischen Sicherheit.

Die Drogenbekämpfung ist auch eines der Ziele, dem neben der Migrationsabwehr das spanische Projekt Sea Horse Network dienen soll. Dieses beinhaltet im Kern die Weitergabe europäischer Echtzeit-Satellitenaufnahmen der westafrikanischen Küste an die jeweiligen Sicherheitsbehörden, daneben aber auch Ausbildungsprogramme der jeweiligen Sicherheitskräfte im Grenzmanagement.[6] Ähnliche Programme planen die USA in nahezu allen afrikanischen Staaten im Rahmen des Counter-Terrorism. Grenzsicherung wird in Afrika als wichtigstes Instrument im Krieg gegen den Terror gesehen. Allein schon deshalb, weil sog. gescheiterte Staaten per se als Hort und Rückzugsbasis für Terroristen sowie als Umschlagplatz für (Massenvernichtungs-)Waffen gelten und die Kontrolle der eigenen Grenzen aus westlicher Sicht eines der wesentlichen Merkmale von Staatlichkeit gilt. Aber auch, weil Analysen scheinbar ergeben haben, dass sehr instabile Staaten zwar Möglichkeiten zur Finanzierung und Rekrutierung für Terrorgruppen bieten, deren Netzwerke aber auf ein Mindestmaß an Infrastruktur (und damit auf etwas stabilere Staaten) angewiesen sind, um international operieren zu können. Deshalb wird auch afrikanischen Binnengrenzen eine hohe Bedeutung zugesprochen.[7] So oder so werden die unregistrierten Grenzübertritte, wie sie zwischen vielen afrikanischen Ländern den Normalfall darstellen, als Bedrohung wahrgenommen und sollen mit Programmen wie der Pan-Sahel Initiative (PSI, später: Trans-Sahel Counter-Terrorism Initiative TSCTI) verhindert werden, in deren Rahmen Tschad, Niger, Mali und Mauretanien Ausbildung und Ausrüstung für den Grenzschutz erhielten.[8] Hiermit kommen die USA den Bemühungen der EU entgegen, die in denselben Ländern und insbesondere in Nordafrika versucht, die innerafrikanischen Grenzen für potentielle MigrantInnen in die EU zu schließen. Die US-Initiativen wurden zunächst vom EUCOM in Stuttgart und werden heute vom AfriCom geleitet, das beim EUCOM angesiedelt ist – welches ebenfalls eng mit der NATO verflochten ist.

Vergrenzung Eurasiens

Die oben angerissene Argumentation hat sich die NATO ohnehin im Rahmen ihres Programmes „Partnership for Peace“ (PfP) zu eigen gemacht: „Grenzen sind eine der ersten Verteidigungslinien gegen den Terrorismus“.[9] Dieses Programm war 1994 für potentielle Beitrittskandidaten des Balkans und des Baltikums entworfen worden, dient der NATO aber heute als Einflussinstrument bis tief in den asiatischen Raum hinein. Im Rahmen der PfP drängt die NATO ihre Partnerstaaten – selbst solche, die niemals Mitglied der NATO werden können – ihren Sicherheitssektor und damit auch den Grenzschutz nach den eigenen Vorstellungen umzubauen sowie mit internationalen Organisationen wie der International Organization for Migration (IOM) oder Interpol zusammen zu arbeiten. Das PfP-Modul, das sich mit der Bekämpfung des Terrorismus beschäftigt (PAP-T), sieht den Austausch von geheimdienstlichen Informationen über grenzüberschreitende Kriminalität und Geldtransfers vor, sowie wiederum die Ausbildung und Ausrüstung der nationalen Grenzschutzbehörden. In der NATO-Schule in Oberammergau sowie den PfP-Trainingszentren in Griechenland und der Türkei werden Kurse über „Grenzsicherung“ angeboten, die explizit auch die Verhinderung „illegaler“ Migration beinhalten.[10] Auch das Marshall-Center der NATO in Garmisch veranstaltete beispielsweise im April 2007 eine fünftägige Konferenz zum Austausch über Best Practices beim Grenzschutz, an der Vertreter aus 26 NATO-Mitglieds- und Partnerstaaten teilnahmen.[11] Darüber hinaus organisiert die NATO den Informationsaustausch hinsichtlich der Migrationsrouten der Partnerländer untereinander sowie mit internationalen Organisationen. Sie gestaltet so unmittelbar das Grenzregime von Ländern wie Moldawien, aber auch Tadschikistan, Usbekistan und Aserbeidschan mit. In Zentralasien bildet das Thema „Grenzsicherung“ einen der Schwerpunkte ihrer Tätigkeiten.[12] Peter W. Singer von der Brookings Institution beantwortete die Frage nach den zukünftigen Aufgaben der NATO u.a. mit den Erfahrungen, welche das Bündnis beim Export von Grenzsicherheit auf dem Balkan und in Zentralasien gesammelt hätte. Die NATO müsse sich nicht auf traditionelle militärische Funktionen beschränken, sondern sollte auch solche „neuen Sicherheitsfunktionen“ verstärkt wahrnehmen.[13]

Tatsächlich sind die Erfahrungen der NATO auf dem Balkan in Bezug auf Grenzmanagement beachtlich, wenn auch nicht immer glorreich. Alle Balkan-Staaten (mit Ausnahme des Kosovo) sind oder waren Partner im PfP-Programm und haben ihren Sicherheitssektor einschließlich des Grenzschutzes den Erwartungen der NATO angepasst oder sind gerade dabei. Im Kosovo und in Bosnien und Herzegowina hat die NATO im Rahmen militärischer Besatzungsmissionen den Grenzschutz zwischenzeitlich selbst ausgeübt und war anschließend unmittelbar am Aufbau von Grenzschutzeinheiten aus lokalem Personal beteiligt. Zusätzlich hierzu initiierte sie gemeinsam mit EU und OSZE 2003 den Ohrid-Prozess zur Verbesserung der Grenzsicherung. Dieser sollte die Zusammenarbeit zwischen den Grenzschützern der Staaten des westlichen Balkans verbessern und deren Migrationsregime den Anforderungen der EU anpassen.

Auch in der Schwarzmeerregion, nach Aussagen des Frontex-Chefs Laitinen einer der Hot-Spots illegaler Migration und zukünftiges Aktionsfeld der EU-Grenzschutzagentur,[14] ist die NATO an einer Verschärfung und Militarisierung der Grenzüberwachung beteiligt. Die NATO misst dieser Region ebenfalls enorme geostrategische Bedeutung zu, nicht nur, weil hier ihr eigener Einflussbereich auf denjenigen Russlands trifft und mehrere Ölpipelines im Schwarzen Meer enden, sondern auch weil das Schwarze Meer bei der NATO als unkontrollierter Transitraum für Menschen, Waffen und Drogen – insbesondere aus Afghanistan – gilt. Deshalb wollte sie ihren oben beschriebenen Einsatz Active Endeavour auch auf diese Region ausdehnen, was aber am Widerstand Russlands und der Türkei scheiterte. Stattdessen begannen beide mit Black Sea Harmony einen eigenen Einsatz nach dem Vorbild von Active Endeavour.[15] Beide Länder hatten zuvor zumindest temporär auch an dem Einsatz im Mittelmeer teilgenommen, um die Praktiken der NATO zu studieren.

Gemeinsam mit dem US-Hauptquartier für Eurasien und der EU arbeitet die NATO zudem eine Strategie aus, wie sie in die Sicherheitskooperation im Schwarzmeerraum eingreifen kann. Hier sind vor allem zwei Initiativen zu nennen: Im SECI-Center (Southeast European Cooperation Initiative) in Bukarest arbeiten 24 Zoll- und Polizeibeamte aller Balkanstaaten sowie Ungarns und Moldaviens unter der „Führung und Beratung“ von Interpol und der Weltzollorganisation zusammen. Diese Zusammenarbeit führte etwa im Jahr 2004 zur Verhaftung von 500 „Schleppern“. Im Black Sea Border Coordination and Information Center (BBCIC) in Bulgarien tauschen sich die Küstenwachen von sechs Schwarzmeeranrainern auf nahezu täglicher Basis aus. Die NATO spekuliert nun darauf, diese beiden Zentren, die in NATO-Ländern liegen, auszubauen und weitere Anrainer zur Mitgliedschaft zu bewegen. Als Anreiz sollen hierbei die technisch überlegenen Aufklärungsmittel dienen, welche die NATO zur Verfügung stellen könnte. Die USA erwägen, durch die Stationierung von Drohnen und die Weitergabe von Aufklärungsdaten Einfluss insbesondere auf die russische Ordnungspolitik im Schwarzen Meer zu nehmen.[16]

Migration als verkümmerte Sozialpolitik

Ob in Afghanistan, Bosnien und Herzegowina oder im Kosovo: Wo immer die NATO militärische Besatzungen durchgeführt hat und am Aufbau neuer Staaten beteiligt war, standen für sie Sicherheitsaspekte bzw. strategische Interessen im Vordergrund. Wirtschaftspolitisch folgte der Staatsaufbau einer streng neoliberalen Ideologie. An den Aufbau sozialer Sicherungssysteme wurde deshalb in der Hoffnung auf die Ausländischen Direktinvestitionen, die oft weitgehend ausblieben oder ihre Gewinne zu nahezu 100% ins Ausland abführen konnten, kein Gedanke verschwendet.[17] Gleichzeitig wurden Milliarden in den Aufbau neuer Polizeien, Armeen und Grenzschutzeinheiten investiert. Das Ergebnis sind verarmte und völlig perspektivlose Bevölkerungsgruppen, die entsprechend anfällig für revolutionäre Ideologien aller Art und auf informellen oder kriminellen Broterwerb angewiesen sind, was wiederum eine militärische Befriedung auf Dauer erforderlich macht. Das eindeutigste Beispiel für einen von der NATO aus geopolitischen Interessen herbeigebombten, wirtschaftlich aber nicht überlebensfähigen Staat ist wohl der Kosovo, mit 75% Jugendarbeitslosigkeit und einer Bevölkerung, die zu 40% offiziell in Armut lebt.[18] Die Hoffnung auf eine wirtschaftliche Entwicklung, die dem starken Bevölkerungswachstum gerecht werden könnte, hat die internationale Gemeinschaft längst aufgegeben. Selbst die Braunkohleverstromung – „einzige potenzielle Wirtschaftskraft“ des Kosovo – würde unter besten Bedingungen höchstens 20-30.000 Arbeitsplätze schaffen – bei 36.000 zusätzlichen Jugendlichen, die jährlich dem Arbeitsmarkt ausgesetzt werden. Ein „Migrationsdruck“, der bislang militärisch, etwa durch die oben genannten Maßnahmen, aufrechterhalten wird. Aufgrund der wirtschaftlichen Misere warnte das Institut für Europäische Politik 2007 allerdings, basierend auf Geheimdienstinformationen, vor „revolutionsartigen Erhebungen“ in den kommenden Jahren. In den letzten Jahren sind deshalb Stimmen laut geworden, die aus Sicherheitsgründen eine erleichterte Visa-Vergabe für junge Kosovaren fordern, damit diese im Ausland arbeiten und durch Rücküberweisungen ihre Familien unterstützen können. Das Centrum für Angewandte Politikforschung (CAP) stellte jedoch gleichzeitig klar: „Das setzt die effektive Umsetzung von Rückführungsabkommen auf Seiten der westlichen Balkanstaaten voraus.“[19]

Das demografische Risiko

Die Zusammensetzung der Bevölkerung ist mittlerweile Teil westlicher Risikoanalysen und Sicherheitsstrategien. Als besonders bedrohlich gilt der so genannte „Youth Bulge“,[20] ein besonders hoher Anteil (männlicher) Jugendlicher an der Gesamtbevölkerung, wie er etwa entsteht, wenn sich die Überlebenserwartung aufgrund besserer hygienischer Bedingungen oder medizinischer Versorgung erhöht, sich die Geburtenrate einer Gesellschaft aber nicht entsprechend verringert, wie es in vielen arabischen Ländern der Fall ist. Ist die Politik nicht willens oder in der Lage – etwa durch eine schwache Konjunktur oder neoliberale Anpassungsprogramme – die öffentliche Infrastruktur (Kindergärten, Schulen, Wohnungsbau, soziale Einrichtungen) entsprechend auszubauen, besteht das Risiko einer „Surplus Population“,[21] einer überflüssigen Bevölkerung. „Demographic trends affect urbanisation, crime and terrorism“ – demografische Trends wirken auf Urbanisierung, Kriminalität und Terrorismus.[22] Deshalb wird „Demografie“ – „Bevölkerungswachstum und -veränderungen rund um den Globus“ – auch von hochrangigen NATO-Offizieren in ihrem Vorschlag für eine neue NATO-Strategie als erste von sechs „Principal Challenges“, fundamentalen Herausforderungen der „globalen Gemeinschaft“ identifiziert. Gefahren birgt dabei nicht nur Bevölkerungswachstum in Arabien und Afrika, sondern auch Schrumpfung und Überalterung in Europa, „Russland wird [wegen des Bevölkerungsrückgangs] zunehmend um die Kontrolle seiner riesigen Landflächen kämpfen müssen“.

Weltherrschaft durch Interdiktion

Insgesamt zeichnen die Autoren des NATO-Strategieentwurfs ein düsteres Bild der Globalisierung, welche eine „Komplexität jenseits der Vorhersagbarkeit“ und ebensolche Bedrohungen hervorbrachte. „Vorbereitet zu sein auf das, was nicht vorhersagbar ist, wird eine der herausragenden Herausforderung der nächsten Jahre sein.“ Und kein Land sei in der Lage, sich diesen Herausforderungen alleine zu stellen. Deshalb sei eine erneuerte NATO als eine „Allianz von Demokratien“, die eine „gemeinsame und umfassende Zone gemeinsamer Sicherheit zwischen Finnland und Alaska“ herstellt, als Institution am geeignetsten, den Kern einer zukünftigen globalen „Sicherheitsarchitektur“ zu bilden.[23]

Dieser Anspruch zur Weltherrschaft zeigt sich (traditionell) zunächst im Handeln der NATO-Marine, die anstrebt, alle wichtigen Nadelöhre des internationalen Handels auf See dauerhaft und im multinationalen Verbund zu kontrollieren.[24] Das ist auch die klassische Aufgabe der Marine: die Interdiktion, „also die Kontrolle und das Unterbrechen von Personen- und Güterverkehr“[25] – im großen Maßstab. In einer globalisierten und vor unvorhersehbaren Gefahren (Unwetter, Seuchen, Aufruhr, Flucht oder Streik) nur so strotzenden Welt, die noch dazu dem Terrorismus den Krieg erklärt hat, reicht es aber nicht, nur die Containerschiffe zu kontrollieren. Jeder Werkschutz und jeder Grenzposten wird zum Teil der Sicherheitsarchitektur. Interdiktion stellt deshalb nach Ansicht von Militärstrategen eine der Hauptaufgaben zukunftsfähiger Streitkräfte dar. Doch die NATO-Armeen können und sollen nicht jeden Grenzposten und jeden Küstenabschnitt selbst überwachen (für Umgang mit Fischerbooten, Pendlern und Touristen sind „zivilere“ Kräfte ohnehin geeigneter), aber sie sollen dafür sorgen, dass und beeinflussen, wie er kontrolliert wird. So zeigt die NATO vor Westafrika Präsenz, während die USA und EU dort Gendarmerien ausbilden und deshalb unterstützt sie lokale Kooperationen wie das SECI und das BBCIC. Deshalb berät sie Grenzschutzbeamte aus Zentralasien und Westeuropa. Und sie kontrolliert im Mittelmeer Tanker, während Frontex die Koordination unter deren Mitgliedsstaaten und zwischen deren Verteidigungsministerien, Geheimdiensten und Küstenwachen organisiert: damit kein Fischkutter mehr die Überfahrt wagt und kein Schlauchboot unentdeckt in Europa landet.

Anmerkungen

[1] „A Potential for growth“, Vanessa Macdonald im Interview mit der US-Botschafterin auf Malta, Molly Bordonaro, http://malta.usembassy.gov/

[2] Martin Pabst: External Interests in West Africa, in: Brigadier Walter Feichtinger, Gerald Hainzl: Sorting Out the Mass – Wars, Conflicts, and Conflict Management, Studien und Berichte zur Sicherheitspolitik der österreichischen Landesverteidigungsakademie, 1999

[3] „NATO naval force sets sail for Africa“, NATO-News vom 30.7.2007

[4] http://en.wikipedia.org/wiki/Africa_Partnership_Station (13.1.2009)

[5] Christoph Marischka: Was kostet Guinea-Bissau?, Telepolis vom 13.6.2008, sowie: „EU plant weiteres Engagement in Westafrika“, kritische Online-AG Neue Kriege vom 14.11.2008

[6] “ Indra will deploy a communications channel for information exchange regarding illegal inmigration and drug trafficking“, Pressemitteilung des Unternehmens Indra Sistemas S.A. vom 9.5.2008

[7] Jessica R. Piombo: Terrorism and U.S. Counter-Terrorism Programs in Africa – An Overview, in: Strategic Insights, Volume VI, Issue 1 (January 2007)

[8] Ebd. Zu den Programmen und Kooperationen, welche die USA im Rahmen der Drogenbekämpfung in fast jedem Land der Erde durchführen, liefert folgendes Dokument einen wertvollen Überblick: US Department of State: International Narcotics Control Strategy Report 2008, http://www.state.gov/documents/organization/102583.pdf

[9] „The Partnership Action Plan against Terrorism – How does cooperation work in practice?“ Nato-Topics vom 30.1.2008

[10] Ebd.

[11] „Marshall Center border security conference focuses on best practices“, Pressemitteilung des George C. Marshall European Center for Security Studies vom April 2008

[12] Alexander Catranis: NATO’s Role in Central Asia, in: Central Asia and the Caucasus 5/2005

[13] „New Thinking on Transatlantic Security: Terrorism, NATO, and Beyond“, Rede von Peter W. Singer auf dem „Workshop on Transatlantic Challenges“ der BMW Herbert Quandt Stiftung am 26.11.2002

[14] So Laitinen auf einer Veranstaltung der Europäischen Kommission im Europäischen Haus in Berlin am 19.5.2008

[15] Eugene Rumer / Jeffrey Simon: A Euro-Atlantic Strategy for the Black Sea Region, National Defense University / Institute for National Strategic Studies Staff Analysis, Januar 2006

[16] Ebd.

[17] Insbesondere zum Beispiel Afghanistan siehe: Jürgen Wagner: Neoliberaler Kolonialismus – Protektorate, Aufstandsbekämpfung und die westliche Kriegspolitik, in: Widerspruch 53 – Weltordnung, Kriege und Sicherheit

[18] Institut für Europäische Politik (IEP): Operationalisierung von Security Sector Reform (SSR) auf dem westlichen Balkan, Studie im Auftrag des ZTransfBw, Januar 2007

[19] Dominik Tolksdorf: Der er westliche Balkan nach dem Ahtisaari-Vorschlag – Handlungsfelder auf dem Weg in die EU, Bertelsmann-Stiftung / CAP: Reform-Spotlight 1/2001

[20] US Departement of the Army: Army Modernization Strategy 2008, http://downloads.army.mil/docs/08modplan/Army_Mod_Strat_2008.pdf

[21] Dieser Begriff entstammt dem Bericht des UN-HABITAT-Programms „The Challenge of Slums“ von 2003. Er wurde kritisch aufgegriffen von Mike Davis in „Planet of Slums“ (Verso, 2006), ähnlich: Zygmunt Bauman: Wasted Lives – Modernity and Its Outcasts, Polity Press, 2004

[22] General a.D. Klaus Naumann u.a.: Towards a Grand Strategy for an Uncertain World: Renewing Transatlantic Partnership, http://www.csis.org/media/csis/events/080110_grand_strategy.pdf

[23] Ebd.

[24] Lothar Rühl: Nicht nur eine Definitionsfrage – deutsche Sicherheitsinteressen in Afghanistan, in: Strategie & Technik 50 (2007)

[25] Stephan Böckenförde: Sicherheitspolitischer Paradigmenwechsel von Verteidigung zu Schutz, in: Europäische Sicherheit, August 2007