IMI-Analyse 2008/012

Haiti, Ägypten und der Krieg gegen die Armut


von: Christoph Marischka | Veröffentlicht am: 10. April 2008

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Eine aktualisierte Fassung dieses Artikels erschien im AUSDRUCK (Juni 2008):
https://www.imi-online.de/download/CM-HaitiHunger-juni-08.pdf

Eine angekündigte Krise

In ihrem ersten Bericht zur weltweiten Versorgung mit Nahrungsmitteln 2008 („Crop Prospects and Food Situation“, Februar 2008) warnte die UN-Welternährungsorganisation FAO angesichts steigender Preise für Getreide und andere Grundnahrungsmittel, dass 36 Länder aufgrund akuter Nahrungsmittelknappheit auf Hilfe angewiesen seien. Die Produktion von Getreide ging, rechnet man China und Indien, die vorwiegend für die eigenen Märkte produzieren, heraus, im Jahr 2007 trotz zunehmender Weltbevölkerung um 2,2% zurück. Schlechte Ernten führten zu einer bedeutenden Reduzierung der Vorräte. Eine zunehmende industrielle Nutzung für „Bio“-Treibstoffe und als Tierfutter sowie steigende Öl- und damit Transportkosten taten ihr Übriges zu einer spürbaren Verknappung und Verteuerung der Grundnahrungsmittel. Für jedes der 36 Länder werden zudem spezifische Gründe angegeben, weshalb sich das Defizit zu einer Krise entwickeln könnte: Konflikte, die durch sie ausgelösten Wanderungsbewegungen, Dürren und Naturkatastrophen. Auch Haiti befindet sich unter diesen Ländern. Die Gründe für die dortige angekündigte Krise werden eindeutig genannt: „Ende Oktober und Mitte Dezember verursachten die Tropenstürme Noel und Olga heftige Regenfälle und folgenschwere Fluten in der Dominikanischen Republik, Haiti und Cuba, die große Verluste bei der Ernte von Nahrungsmitteln und Exportgütern wie Reis, Bohnen, Kochbananen, Maniok und Zuckerrohr verursachten.“ Zudem gab es in Haiti Verzögerungen beim Import von Nahrungsmitteln.[1]

Kanonen statt Korn

Haiti ist das ärmste Land der westlichen Hemisphäre und das Armenhaus Zentralamerikas. Es gehört zu den drei Ländern mit dem größten Pro-Kopf-Defizit an Kalorien – das die Ernährungssituation überhaupt in Kalorien gemessen wird, spricht bereits für sich – 460 Kilokalorien fehlen den etwa 8.3 Mio. Einwohnern im Durchschnitt täglich. 80% der Bevölkerung sind arbeitslos. Für die wenigen, die Arbeit haben und mit ihrem Lohn meist mehr als nur einen Haushalt versorgen müssen, liegt der offizielle Mindestlohn bei 1,9 US$ pro Tag, die Gewerkschaften hatten zuletzt 5,5 US$ gefordert, die Regierung schlug einen Kompromiss von 2,75 US$ vor. Die kleine, überwiegend hellhäutige und frankophone Oberschicht – die oberen zehntausend Familien im wörtlichen Sinne – sind hiervon freilich nicht betroffen. „Die faktische Herrschaft liegt in den Händen einiger hundert – sicher nicht mehr als zweitausend – Menschen“, schrieb George Eaton Simpson bereits in den 40er Jahren, geändert hat sich daran bis heute nicht viel.[2] Die aktuelle Regierung, die 2004 quasi durch einen Putsch und die anschließende militärische Intervention der USA, Frankreichs und Chiles an die Macht kam, bedient wöchentlich 1 Mio. US$ Auslandsschulden. Das World Food Program hat sich noch im Februar 2008 mit einem außerordentlichen Aufruf an die Geberländer gerichtet, um die drohende Nahrungsknappheit abzuwenden. 96 Mio. US$ seien notwendig, um die ärmsten 1.7 Mio. Einwohner mit dem nötigsten zu versorgen, doch nur 12.4 Mio. kamen bislang zusammen. Dabei kann man nicht behaupten, dass sich die Internationale Gemeinschaft nicht engagiere: Die UN lösten bereits nach wenigen Wochen die Truppen der USA, Frankreichs und Chiles ab und ist seit dem mit knapp 7.000 Soldaten und bis zu 2.000 Polizisten präsent. Der Einsatz der „United Nations Stabilization Mission in Haiti“ (MINUSTAH) hat alleine im letzten Jahr über 535 Mio. US$ gekostet.

Krieg gegen Armut

Die UN-Mission in Haiti ist insofern einzigartig, als sie von Anfang an nicht darin bestand, bewaffnete und militärisch organisierte Einheiten zu trennen. Stattdessen besteht die Situation nach dem Putsch gegen den Präsidenten Aristide 2004 darin, dass haitianische Ex-Militärs, die zwischendurch in der Dominicanischen Republik im Exil lebten, gemeinsam mit der Haitian National Police (HNP) und den internationalen Truppen die Herrschaft ausübten. Soldaten, die sich ihnen entgegengestellt hätten, existierten nicht: Aristide hatte die Haitianische Armee Anfang 1995 aufgelöst. Aristides Machtbasis bestand in den Armenvierteln Haitis deren Bewohner ihn unterstützen und zahlreich in der Lavalas-Bewegung organisiert waren. Die Konfliktsituation, in welche die UN intervenierten war also geprägt durch bewaffnete Polizeieinheiten und Ex-Militärs aus dem Exil einerseits und einer überwiegend unbewaffneten und völlig verarmten Bevölkerung andererseits. Die Arbeit der UN-Soldaten bestand im Wesentlichen darin, die Polizisten der HNP bei ihren Patrouillen zu begleiten, die (Wieder-)Eröffnung neuer Polizeistationen in den Armenvierteln militärisch abzusichern und gelegentlich robustere Razzien mit Panzer- und Hubschrauberunterstützung in den Slums durchzuführen: Am 6. Juli 2005 mündete eine solche Razzia im Stadtteil Cité Soleil in ein siebenstündiges Feuergefecht, bei dem die 400 UN-Soldaten mit Hubschrauberunterstützung 22.000 Schuss Munition verbraucht haben sollen.[3] Ein Sprecher der MINUSTAH kommentierte anschließend, angesprochen auf die vermeintlich zahlreichen zivilen Opfer: „die Natur solcher Missionen in dicht bevölkerten urbanen Gelände ist so, dass immer ein Risiko ziviler Verluste besteht“.[4] Häufiger gehen die Razzien allerdings mit solchen Meldungen zu Ende: „insgesamt wurden 41 Verdächtige festgenommen und sechs Waffen beschlagnahmt“ oder „96 Verdächtige, darunter vier bekannte Mitglieder einer Gang, wurden verhaftet und in den Gewahrsam der HNP übergeben“.[5] Mit denjenigen, die von der MINUSTAH verhaftet wurden, geht die HNP äußerst willkürlich um. Stehen sie im Verdacht, der Lavalas-Bewegung oder Aristide nahe zu stehen, kommen sie für unbestimmte Zeit und ohne offizielle Anklage in eines der 17 gnadenlos überfüllten Gefängnisse. Nur 10% der etwa 5.500 Inhaftierten wurden offiziell verurteilt, gegen viele nicht einmal Anklage erhoben. Unterernährung, Ausbrüche, Revolten und Seuchen sind an der Tagesordnung. Nach einem Bericht der International Crisis Group arbeiten im größten Gefängnis in Port-au-Prince, in dem 2.500 Menschen gefangen gehalten werden, gerade 25 Wärter. Doch nicht nur „einfache Slumbewohner“ werden in Zusammenarbeit mit der oder zumindest unter den Augen der MINUSTAH willkürlich inhaftiert und ohne Anklage gefangen gehalten, dasselbe geschieht mit den höchsten Vertretern der Lavalas-Bewegung: So nahm die HNP im Vorfeld der Wahlen von 2006 den einzigen Kandidaten, der tatsächlich von Lavalas unterstützt wurde, Gérard Jean-Juste, fest und lancierte Anzeigen gegen ihn, sodass er von der Wahl ausgeschlossen wurde. Der ehemalige Innenminister, Jocelerme Privert, befand sich von Mai 2004 bis Juni 2006 ebenfalls in Haft – Monate lang ohne offizielle Anklage und bis zuletzt ohne Prozess, ebenso der ehemalige Premierminister Yvon Neptune, der sich mit einem Hungerstreik zwischenzeitlich nahezu zu Tode gehungert hat. Die Folk-Sängerin und Aktivistin Annette Auguste (Künstlername: Sò Ann), die im Mai 2004 von US-Marines festgenommen und der HNP übergeben wurde, befand sich 23 Monate ohne Anklage in Haft obwohl die Staatsanwaltschaft keinen einzigen Beweis für ihre Schuld erkennen konnte. Sie wurde erst nach 826 Tagen aus dem Gefängnis entlassen.[6] Yvon Antoine, ebenfalls Musiker und Anhänger Aristides wurde am 22.3.2004 von der HNP festgenommen und befand sich bis 13.4.2006 ohne Anklage in Haft.[7] Am 21.2. diesen Jahres wurde er erneut verhaftet, diesmal von UN-Soldaten, nachdem er ein Bild des ehemaligen Präsidenten hochgehoben haben soll, als eine MINUSTAH-Patrouille vorbeifuhr. In dieser Zeit führte die MINUSTAH wieder verstärkt Razzien in den Armenvierteln Haitis durch, mutmaßlich um diejenigen einzuschüchtern und festzunehmen, die am 29.2., dem vierten Jahrestag der Flucht oder Verschleppung Aristides, demonstrieren wollten.

Die International Crisis Group, ein von hochrangigen Politikern und Wissenschaftlern geführter und einflussreicher Thinktank, der sich selbst als „privates Außenministerium“[8] sehen will, hat im Mai 2007 einen Bericht über die Misere im haitianischen Gefängniswesen veröffentlicht. Seine Schlussfolgerungen aus dieser vernichtenden Bilanz verdeutlichen die Einseitigkeit internationaler Lösungsansätze: Eine Geberkonferenz solle einen „Prison Construction Fond“ einrichten, mit dem die Kapazitäten der bestehenden Gefängnisse ausgebaut, mehr Personal angestellt und besser ausgerüstet werden und neue Gefängnisse, darunter mindestens ein Hochsicherheitsgefängnis, gebaut werden können.[9]

Auch die hiesige Presse, so sie überhaupt über Haiti berichtet, preist den repressiven Umgang mit der Armut als einzig richtigen Weg. So lobt nach einer erneuten Repressionswelle Klaus Ehringfeld am 23.10.2007 für das Handelsblatt die „Null-Toleranz-Politik“ des MINUSTAH-Chefs Edmond Mulet, der seinen Blauhelmsoldaten und Polizisten endlich „mehr Effizienz“ verordnet hätte. Unter dem Titel „Haiti findet aus der Krise“ beschreibt er:

„Im Slum Cité Soleil konnten Jugendbanden, einst von Ex-Präsident Aristide als Schlägertrupps benutzt, nach Lust und Laune morden, rauben und vergewaltigen. Nun wurden die schwerbewaffneten Verbände im Häuserkampf bezwungen – und das arme Land sieht die Chance zum Neuaufbau. Wer Cité Soleil besucht, fährt durch ein befriedetes Kriegsgebiet. Der Weg führt vorbei an Fassaden, übersät mit Einschusslöchern großen Kalibers, an ausgebrannten Autos und ausgeweideten Häusern. Brasilianische Blauhelmsoldaten sichern in weißen Uno-Panzerwagen wichtige Straßenkreuzungen im berüchtigtsten Slum von Haitis Hauptstadt Port-au-Prince. Es sind die Nachwirkungen eines Feldzugs, den die Bewohner von Cité Soleil respektvoll ‚Guerre‘ nennen – Krieg. … Mit nächtlichen Luftangriffen aus Hubschraubern und einem Häuserkampf eroberten die Soldaten das brütend heiße Labyrinth aus Wellblech und Elend.“[10]

Hunger lässt sich nicht unterdrücken

Dass damit der Weg aus der Krise gefunden wäre, während sich gleichzeitig eine Nahrungsmittelknappheit ankündigt und die internationalen Gelder statt in Armutsbekämpfung in die Bekämpfung der Armen fließen, ist freilich naiv. Am Donnerstag, den 3.4.2008 gingen Menschen in mehreren Städten Haitis gegen die hohen Lebensmittelpreise auf die Strasse. In Les Cayes, der drittgrößten Stadt des Landes, errichteten sie Barrikaden und zündeten Autoreifen an. Vor allem nachdem die MINUSTAH ihre Kräfte in der Stadt verstärkte, schien sich der Protest eher gegen diese zu richten. Ein Gebäude der UN wurde gestürmt und verwüstet, mehrere Fahrzeuge der Truppe angezündet. Am nächsten Tag eröffneten UN-Soldaten aus Uruguay das Feuer auf die Demonstranten und töteten mindestens vier Menschen. Angeblich hätten sich Drogenhändler aus der Hauptstadt unter die Demonstrierenden gemischt, welche mit den Sprechchören „Wir haben Hunger“ und „Runter mit den Preisen“ vor das Gebäude der UN zogen.[11] Bis Dienstag, den 8.4.2008 ergriffen die Proteste endgültig auch die Hauptstadt und wurden von n-tv.de als „Angriff auf Reiche“ beschrieben. Die FAZ beschreibt die Lage am folgenden Tag ähnlich: „Am Dienstag waren Tausende Demonstranten in die Wohngebiete der Wohlhabenden in Port-au-Prince gezogen und hatten Straßenbarrikaden errichtet, drangen in Bankfilialen und Geschäfte ein, zerschlugen Fensterscheiben, plünderten und verwüsteten Supermärkte und zündeten Hunderte Autos an. Einheiten der Polizei und der MINUSTAH verhinderten mit Warnschüssen, Tränengas und Gummigeschossen, dass die wütende Menschenmenge den Präsidentenpalast im Zentrum der Hauptstadt stürmte.“[12] Neben dem Präsidentenpalast, der von den UN-Soldaten mit Panzern umstellt wurde, kam es auch um den internationalen Flughafen zu Zusammenstößen zwischen UN-Truppen und Demonstranten. Die Regierung hatte sich, während sich die Proteste ausweiteten, nicht an die Bevölkerung gewandt, stattdessen aber gegenüber ihren internationalen Verbündeten „Rauschgiftbanden“ für die Eskalation verantwortlich und so versucht, den angesichts von Preissteigerungen von bis zu 50% für Grundnahrungsmittel durchaus notwendigen Proteste zu delegitimieren. Der Sicherheitsrat und Generalsekretär der UN beeilten sich entsprechend am 8. und 9.4.2008, die Gewalt der Demonstranten zu verurteilen, nicht aber die ihrer eigenen Soldaten, die mindestens vier Menschen erschossen und Dutzende verletzt haben.

Hungerproteste weltweit

Am gleichen Wochenende, an dem sich die Proteste in Haiti zuspitzten, war in Ägypten ein Generalstreik angekündigt. Auch hier ging es um zu niedrige Löhne angesichts der massiv gestiegenen Lebensmittelpreise. Speerspitze der Proteste sind dabei die Arbeiter in der Textilbranche. Deren größte Betriebe wurden am Sonntag von Sicherheitskräften übernommen, bereits am Werkstor wurden die Gewerkschaftsführer festgenommen, ein Arbeiter berichtete gegenüber der NZZ, jeder, der bei der Arbeit versucht habe zu sprechen, sei abgeführt worden. In den Städten fuhren Armee und Polizei auf und verhinderten Menschenansammlung auf größeren Plätzen. Nur an wenigen Orten kam es zu handfesten Auseinandersetzungen, Schulen und Geschäfte blieben geschlossen. Beobachter machten hierfür allerdings weniger den Generalstreik verantwortlich, als die Angst vor Auseinandersetzungen mit den Sicherheitskräften.

Auch in Burkina Faso, Kamerun, Indonesien, der Elfenbeinküste, Mauretanien, Mozambique und Senegal ist es in den vergangenen Monaten zu Protesten gegen die erhöhten Lebensmittelpreise gekommen. Die Polizei, die gegen diese vorging, wurde in vielen dieser Länder im Rahmen eines G8-Projektes von italienischen Carabinieri ausgebildet: Am so genannten „Center of Excellence for Stability Police Units“ (COESPU) im italienischen Vincenza trainieren die italienischen Gendarmerieeinheiten, die sowohl dem Innen- wie dem Verteidigungsministerium unterstehen, hohe Polizeikräfte aus dem globalen Süden in erster Linie für Auslandseinsätze aus und leisten so einen Anteil an der Militarisierung der Polizeien ärmerer Staaten. Neben Kamerun und Senegal nahmen auch Pakistan und Kenia bislang an diesem Programm teil, beides Länder, in denen in den letzten Monaten Proteste der Opposition blutig niedergeschlagen wurden. Neben dem COESPU bestehen zahlreiche weitere Programme zur Ausbildung und Ausrüstung der Sicherheitskräfte von Drittstaaten, viele im Rahmen so genannter Sicherheitssektorreformen in Konfliktgebieten. Im Rahmen von ESVP-Missionen wurden und werden in der DR Congo, Irak, Afghanistan, Bosnien-Herzegowina, Kosovo, Mazedonien, den Palästinensergebieten sowie – hier begrenzt auf den Grenzschutz – in Moldawien und der Ukraine von der EU Polizeikräfte aufgebaut und ausgebildet. Daneben existieren entsprechende Projekte der UN (eines beispielsweise in Tschad und der Zentralafrikanischen Republik, welches durch den aktuellen EU-Militäreinsatz in diesen Ländern flankiert wird) und einzelner Staaten.

Staatlichkeit heißt Polizei und Militär

Insofern ist die Aufregung um die von der Regierung zumindest tolerierte Ausbildung von libyschen Sicherheitskräften durch deutsche Polizisten und einen Soldaten schwer nachvollziehbar. Tatsächlich entspricht solche schon längst den offiziellen Strategien im Umgang mit so genannten scheiternden Staaten, wird häufig gar als Entwicklungshilfe bezeichnet und auch entsprechend aus den Budgets für Entwicklungszusammenarbeit finanziert.[13] Dort, wo Polizei und Militär die gewünschte Ordnung nicht mehr aufrecht erhalten können, wird von begrenzter Staatlichkeit gesprochen und aufgerüstet. Dies gilt nicht nur für den globalen Süden. Auf der jüngsten Tagung des BND mit dem Titel „Zerfall der Ordnung“ wurde neben „gescheiterten Staaten“ auch von „gescheiterten Städten“ gesprochen. Harald Neuber hat in Telepolis daraufhin klargestellt, worin der Zerfall der Ordnung auch in Europa konkret besteht: „In den neuen Bundesländern fand nach 1989 die größte Deindustrialisierung in der Nachkriegsgeschichte statt. Der Staat hat in weiten Gebieten des Ostens sozial, wirtschaftlich, politisch und kulturell nichts mehr zu bieten… Auch aus den maßgeblich von Einwanderfamilien geprägten ‚Banlieus‘ [in Frankreich] hat sich der Staat schon lange aus seiner Verantwortung zurückgezogen. Interessant ist nun die Reaktion auf die Aufstände der perspektivlosen Immigrantenjugend: Als 2005 tausende Heranwachsende Autos anzündeten und sich Straßenschlachten mit der Polizei lieferten, gingen die Sicherheitskräfte mit Spezialeinheiten gegen die Randalierer vor: Auf die Krise wurde quasi militärisch reagiert.“[14] Genau hier liegt das Problem: Der Staat und die Staatengemeinschaft entziehen sich ihrer sozialen Verantwortung und reagieren auf die darauf folgenden Verwerfungen und Bewegungen rein repressiv. Sie treten ein in den Krieg gegen die eigene Bevölkerung. Drei zentrale Konzepte dieses Krieges sind die Aufstandsbekämpfung (Crowd and Riot Control), Weniger Letale Waffen (WLW) und der Schutz kritischer Infrastrukturen.[15] Man mag dies als falsche Reaktion der Politik auf eine ungewollte Verelendung interpretieren. In den Thinktanks der Industrie jedoch sieht man die Rolle der Politik eher aktiv als passiv: „Zur Zeit ist eines der größten Risiken, dass die gegenwärtig Ausgeschlossenen irgendwann Gehör finden und ihren Einfluss dann auf nationaler Ebene wieder geltend machen.“[16] Genau dies zu verhindern ist demnach Ziel der internationalen Politik, der global governance. Genau dies scheint auch Ziel der UN-Mission in Haiti zu sein.

Anmerkungen

[1] FAO: Crop Prospects and Food Situation, No. 1, February 2008

[2] George Eaton Simpson: Haiti’s Social Structure, American Sociological Review, Vol. 6, No. 5

[3] Diese Zahl stammt von einem Artikel des Interventionskritischen ‚Haiti Action Committee‘ in San Francisco, Sie wurde allerdings auch durch den US-Botschafter in Haiti zitiert (http://www.haitiaction.net/News/HIP/1_23_7/1_23_7.html) .

[4] UN News Center: In robust fight against Haiti’s gangs, UN peacekeepers seek to avoid civilian casualties, http://www0.un.org/apps/news/story.asp?NewsID=15135&Cr=Haiti&Cr1=

[5] UN-Sicherheitsrat: Report of the Secretary-General on the United Nations Stabilization Mission in Haiti (S/2005/124)

[6] UN-Sicherheitsrat: Report of the Secretary-General on the United Nations Stabilization Mission in Haiti (S/2004/908), sowie: Human Rights Watch: World Report 2007 – Haiti, sowie: Amnesty International Canada: Haiti: Political prisoner Annette Auguste finally released following 26 months of detention.

[7] Amnesty International Deutschland (Koordinationsgruppe Haiti): Länderkurzinfo Haiti (1.8.2006)

[8] Berit Bliesemann de Guevara: Gebrauchshinweise beachten! Die Berichte der International Crisis Group, GIGA-Fokus, Nr.4/2007

[9] ICG: Haiti – Prison Reform and the Rule of Law, Latin America/Caribbean Briefing No. 15

[10] Klaus Ehringfeld: Haiti findet aus der Krise, Handelsblatt vom 23.10.2007

[11] Kampf ums bezahlbare Essen, taz vom 9.4.2008

[12] Matthias Rüb: UN: Haiti braucht dringend Hilfe, FAZ.net, 9.4.2008

[13] Jürgen Wagner: Mit Sicherheit keine Entwicklung! Die Militarisierung der Entwicklungszusammenarbeit, Studie im Auftrag der Bundestagsfraktion DIE LINKE. August 2007 Elektronische Vorab-Fassung, http://dokumente.linksfraktion.net/pdfmdb/7796242967.pdf

[14] Harald Neuber: Staat im Rückzug, telepolis vom 6.4.2008

[15] Christoph Marischka: Rüsten für den globalen Bürgerkrieg, IMI-Studie 2007/08

[16] David Bowers: Nationale Bedrohungen für globale Bestrebungen, in: griephan global security, Herbst 2007