IMI-Analyse 2008/010 - in: AUSDRUCK (April 2008)

EULEX: Brüssel übernimmt und sichert Kosovo-Kolonie


von: Jürgen Wagner | Veröffentlicht am: 10. April 2008

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Obwohl Serbien – mit einiger Berechtigung (siehe AUSDRUCK Dezember 2007) – die Abspaltung des Kosovo als völkerrechtswidrig erachtet, erklärte sich die Provinz am 17. Februar 2008 für unabhängig und wurde bereits kurz darauf zuerst von den USA und wenig später Deutschland sowie verschiedenen anderen Staaten offiziell anerkannt. Belgrad beruft sich (unterstützt von Moskau) zurecht auf die weiterhin gültige Resolution 1244 (1999) des UN-Sicherheitsrates, die Serbiens territoriale Integrität – eigentlich – unmissverständlich zusichert. Eine neue Resolution liegt nicht vor – sie scheiterte am Widerstand Russlands -, weshalb die Abspaltung des Kosovo ein klarer Bruch des internationalen Rechts darstellt.

Da sich die westlichen Staaten darüber im Klaren waren, dass nicht nur die serbische Regierung, sondern auch die überwältigende Mehrheit der Bevölkerung nicht bereit ist, eine derart eklatante Verletzung der territorialen Integrität stillschweigend hinzunehmen, wurden bereits im Vorfeld der Unabhängigkeitserklärung die im Rahmen der NATO stationierten KFOR-Truppen massiv erhöht. Und in der Tat kam es schnell zu ersten Unruhen. Ihr vorläufiger Höhepunkt waren die schweren Auseinandersetzungen im mehrheitlich von Serben bewohnten Nordteil des Kosovo, bei denen zahlreiche Menschen verletzt wurden.

Um die weitere Zerschlagung Jugoslawiens irreversibel zu gestalten und sich aber gleichzeitig die vollständige Kontrolle über den Kosovo zu sichern, beschloss der Europäische Rat bereits im Dezember 2007 eine Mission im Rahmen der Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (ESVP). Dieser EULEX Kosovo genannte Einsatz wurde schließlich mit einer Gemeinsamen Aktion des Rates (2008/124) am 4. Februar 2008 endgültig auf den Weg gebracht. Sie soll einerseits Unruhen von serbischer Seite bekämpfen, andererseits aber auch den dauerhaften Status des Kosovo als de facto Kolonie der EU zementieren.

EULEX = Aufstandsbekämpfung

Der offizielle Auftrag von EULEX lautet, im Kosovo für Stabilität zu sorgen und eine funktionierende Verwaltung aufzubauen. Hierfür sollen insgesamt 1829 Personen entsendet werden (die Zahl kann bei Bedarf auf bis zu 2000 aufgestockt werden). Diese setzen sich aus einer Polizeikomponente (1400), einer Justizkomponente (225) und einer Zollkomponente (26) zusammen. Hinzu kommen noch 112 Stabsmitarbeiter des Missionsleiters und 66 Verwaltungsexperten. Die Mission wird darüber hinaus von über 1000 Beamten aus dem Kosovo unterstützt.

Besonders brisant sind die Befugnisse der Polizeikomponente, an der sich Deutschland mit bis zu 180 Polizisten beteiligt. In ihrem Rahmen sollen auch „Aufstandsbekämpfungseinheiten“ („crowd and riot control“) entsandt werden, deren Aufgabengebiet laut Wissenschaftlichem Dienst des Bundestags wie folgt lautet: „Exekutivbefugnisse in einigen Bereichen der Polizeiarbeit, einschließlich der Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung bei Menschenansammlungen und Unruhen.“ Ihr genauer Umfang ist zum jetzigen Zeitpunkt noch unbekannt, er dürfte aber bei etwa 700 Polizeisoldaten liegen. Dass am 7. Februar 2008 ausgerechnet ein General und ehemaliger Kommandant der KFOR, der Franzose Yves de Kermabon, zum EULEX-Missionsleiter ernannt wurde, zeigt ebenfalls, wie weit es um den „zivilen“ Charakter des ESVP-Einsatzes bestellt ist.

Da Umfragen zufolge 90% der Serben die EU-Mission ablehnen, scheinen weitere Auseinandersetzungen vorprogrammiert. Vor allem, weil eine Abspaltung des mehrheitlich von Serben bewohnten Nordteils aus dem Kosovo von deutscher und amerikanischer Seite aus zwei Gründen kategorisch abgelehnt wird. Einmal möchte man schon selbst darüber entscheiden, wer sich wann und unter welchen Umständen von wem abspalten darf, und wer nicht (man denke beispielsweise an die pro-russischen Sezessionsbewegungen im Kaukasus). Außerdem liegen zwei der vier Hauptminen des Trepca-Komplexes, des ökonomischen Filetstücks des Kosovo, in dieser Region. Um das neu geschaffene Gebilde zu „stabilisieren“, haben die Vereinigten Staaten inzwischen damit begonnen, die kosovarische Armee mit der Lieferung von Schusswaffen und gepanzerten Militärfahrzeugen aufzurüsten. Als nächster Schritt ist bereits die Ausbildung von Fliegerkräften und Panzertruppen vorgesehen. Dies zeigt, dass Washington von weiteren Auseinandersetzungen in der Region ausgeht. „Die Hast, mit der das Pentagon jetzt versucht, das Kosovo unter seine Fittiche zu nehmen, kann nur davon zeugen, dass der Westen keineswegs von einer baldigen Friedenseinkehr auf dem Balkan nach der Abtrennung der Provinz von Serbien überzeugt ist. Dabei hatte gerade diese Rhetorik dominiert, als der Westen versuchte, seine Unterstützung für die Kosovo-Separatisten zu begründen. Von welchem Frieden kann man aber nun sprechen, wenn die eine Seite gegen die andere aufgerüstet wird. Damit wird nur noch mehr Öl ins Feuer gegossen, das ohnehin stark genug brennt.“ (Tamara Samjatina, RIA Novosti, 29.03.2008) Gleichzeitig haben die USA auch damit begonnen neben Camp Bondsteel, der größten Militärbasis in Europa, einen zweiten Stützpunkt im Kosovo zu errichten, um damit ihre Fähigkeiten zur Machtprojektion in die geostrategisch wichtige kaspische Region weiter zu verbessern.

EULEX = Kolonialverwaltung

Gegenwärtig wird der Kosovo von den Vereinten Nationen bzw. der UN-Besatzungsbehörde UNMIK verwaltet, die damit die vollständige Kontrolle in der Provinz ausübt. Der als so genannte Rechtsstaatsmission getarnte EULEX-Einsatz soll nun bis Juli 2008 die wesentlichsten Aufsichtsfunktionen von der UNMIK übernehmen – paradoxerweise aber ohne hierzu von den Vereinten Nationen beauftragt worden zu sein, da Russland hierfür die Zustimmung verweigerte.

Geht es nach den Vorstellungen Brüssels und Washingtons, so soll also die quasi-koloniale Beaufsichtigung des Kosovo von den Vereinten Nationen auf die Europäische Union übergehen. Damit folgt man derzeit nahezu exakt den Vorschlägen des finnischen UN-Sondergesandten Martti Ahtisaari, die Anfang 2007 präsentiert, allerdings nie offiziell verabschiedet wurden. Er schlug vor, den Kosovo aus Serbien herauszulösen, ohne der Provinz jedoch die volle Souveränität zu „gewähren“, sondern sie stattdessen faktisch der Kontrolle der Europäischen Union zu unterstellen („Unabhängigkeit unter internationaler Überwachung“). Auch die EULEX-Mission war bereits fester Bestandteil des Ahtisari-Plans. Die EU-Politik weicht eigentlich nur in einem – allerdings entscheidenden – Punkt von den Vorschlägen des UN-Sondergesandten ab. Denn während im Ahtisaari-Plan ursprünglich neben den größten westlichen Staaten auch Russland als Mitglied einer Kosovo-Lenkungsgruppe (steering group) vorgesehen war, wurde Moskau nun schlichtweg aus dieser Gruppe hinausgeworfen (bzw. gar nicht erst eingeladen), nachdem es sich als unwillig erwiesen hatte, dem westlichen Kosovo-Fahrplan bedingungslos zuzustimmen.

Dies ist insofern höchst relevant, da diese durch niemanden legitimierte Lenkungsgruppe sich für befugt hält, einen EU-Sonderbotschafter zu ernennen, der de facto im Kosovo über die Machtbefugnisse eines Prokonsuls verfügt. Denn der Ende Februar 2008 mit diesem Posten betraute Niederländer Pieter Feith ist laut Ahtisaari-Plan die „letzte Autorität“ im Kosovo, er darf jeden Beamten und Parlamentarier feuern und jedes Gesetz annullieren. Darüber hinaus kontrolliert er auch die Geld- und Wirtschaftspolitik des Landes, für die die Europäische Union allerdings bereits bei der UNMIK zuständig war. Insofern dürfte gesichert sein, dass die radikale Umstrukturierung des Kosovo entlang neoliberaler Leitlinien und die Verschleuderung von Staatseigentum an westliche Konzerne ungebremst fortgesetzt werden. Groteskerweise sieht der Ahtisaari-Plan letztlich auch noch vor, dass nur der EU-Sonderbeauftragte darüber befinden kann, wann sich der Kosovo für eine volle Souveränität „qualifiziert“ hat und damit der Kolonialstatus der Provinz für beendet erklärt wird.

Hauptaufgabe der nun beschlossenen EULEX-Mission ist es, dem EU-Sondergesandten bei der Implementierung des Ahtisaari-Plans und damit der Kontrolle des Kosovo behilflich zu sein. Die Gemeinsame Aktion 2008/124 räumt zudem mit EULEX Kosovo erstmals einer „zivilen“ ESVP-Mission „Exekutivbefugnisse in einigen Bereichen“ ein. Im Bedarfsfall können die EU-Beamten sogar die Rechtssprechung unabhängig von kosovo-albanischen Beamten ausüben. Weiter legt die Gemeinsame Aktion fest, dass EULEX dazu befugt ist, „die Aufrechterhaltung und Förderung der Rechtsstaatlichkeit sowie der öffentlichen Ordnung und Sicherheit — erforderlichenfalls auch durch Rücknahme oder Aufhebung operativer Entscheidungen der zuständigen Behörden des Kosovo in Absprache mit den einschlägigen internationalen Zivilbehörden im Kosovo — zu gewährleisten.“ Damit wurde ein weit gehendes Eingriffsrecht in die Belange der Provinz verankert, mit der die administrative Kontrolle de facto auf die Europäische Union übertragen wird.

Vor diesem Hintergrund mutet die „Unabhängigkeitserklärung“ des kosovarischen Parlaments vom 17. Februar 2008 seltsam an. Denn dort wird zwar einerseits betont, der Kosovo sei jetzt ein „unabhängiger und souveräner Staat“, der „den Willen unseres Volkes widerspiegelt.“ Auf der anderen Seite wird aber versichert, man bewege sich damit „in voller Übereinstimmung mit den Empfehlungen des UN-Sonderbeauftragten Martti Ahtisaari und seinen umfassenden Vorschlägen zur Regelung des Status des Kosovo.“ Die Deklaration akzeptiert „umfassend die Verpflichtungen Kosovos nach dem Athisaari-Plan“ und versichert, die nun auszuarbeitende Verfassung werde „alle relevanten Prinzipien des Ahtisaari-Plans berücksichtigen.“ Hierzu gehören vor allem umfangreiche Vorgaben im wirtschaftlichen Bereich, u.a. fordert der Ahtisaari-Plan, „den Privatisierungsprozess fortzuführen“ und „eine offene Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb“ einzuführen. Darüber hinaus wird in der Deklaration auch die Kolonialpräsenz in Form der EULEX-Mission hofiert: „Wir laden ein und begrüßen eine internationale zivile Präsenz für die Überwachung der Umsetzung des Ahtisaari-Plans und eine von der Europäischen Union geführte Justiz-Mission.“ Schließlich, um auch keine Missverständnisse aufkommen zu lassen, heißt es im abschließenden Paragrafen: „Wir bekräftigen hiermit unzweideutig, ausdrücklich und unwiderruflich, dass das Kosovo juristisch gebunden ist, sich an die Bestimmungen in dieser Deklaration zu halten, insbesondere an seine Verpflichtungen nach dem Ahtisaari-Plan.“ (alle Zitate aus der Deklaration vom 17. Februar aus Paul Mitchell: Das „unabhängige“ Kosovo: Anatomie eines westlichen Protektorats, World Socialist Web Site, 05.03.2008)

Gegen diesen vom Parlament sanktionierten Kolonialstatus regt sich jedoch zunehmender Widerstand innerhalb der kosovo-albanischen Bevölkerung. Es kam bereits zu massiven Protesten gegen die westlichen Besatzer, bei denen zahlreiche Verletzte und sogar zwei Todesopfer zu beklagen waren. Auch hier sollen die Aufstandsbekämpfungseinheiten von EULEX Kosovo die reibungslose Administration der Kolonie gewährleisten, womit sie sich zynischerweise gegen beide verfeindete Parteien richtet und damit einen Weg einschlägt, der mit Sicherheit nur für Brüssel weder aber für die serbische noch die kosovo-albanische Seite in die richtige Richtung weist.

Führungsanspruch

Mit der EULEX-Mission untermauert Brüssel damit einmal mehr den Anspruch, seine Interessen gegen geltendes Recht und gegen den Widerstand der betroffenen Menschen durchzusetzen: „Das ist das klarste Signal, das die EU geben kann, um zu zeigen, dass sie im Kosovo und in der Region die Führung übernehmen will“, betonte der portugiesische EU-Ratspräsident Jose Socrates. Eine Vorreiterrolle spielt dabei einmal mehr Deutschland. Zwar waren einige wenige Staaten schneller, als es darum ging, den Kosovo offiziell anzuerkennen, dafür hat aber Berlin als Allererstes eine Botschaft im Kosovo eröffnet.

Die Tragweite der gegenwärtigen Vorgänge zeigt sich daran, dass Deutschland (und zahlreichen anderen westlichen Staaten) mit der Zerschlagung Serbiens und der Kolonialisierung des Kosovo beabsichtigt, das Völkerrecht endgültig durch eine Art Beliebigkeitsprinzip zu ersetzen: „Die Anerkennung der kosovarischen Eigenstaatlichkeit, von der deutschen ‚Botschaft‘ in Pristina als ein kleiner, kaum spürbarer Schritt beschrieben, ist tatsächlich eines der einschneidendsten Ereignisse der vergangenen Jahre. Mit ihr gewinnt die Willkür als gestaltendes Prinzip der globalen Politik eine noch größere Bedeutung als zuvor. Daß im Zweifelsfall Macht vor Recht ergeht, das ist nicht neu. Daß man Staaten auch ohne Legitimierung durch die Vereinten Nationen überfallen kann, das hat der Kosovokrieg gezeigt, und der Irakkrieg hat es bestätigt. Aber erst die Sezession des Kosovo und deren Anerkennung im Westen haben bewiesen: Man kann im 21. Jahrhundert auch Staaten gegen ihren Willen zerschlagen, und zwar auch dann, wenn es sich bei den Sezessionsgebilden nicht (wie im Jugoslawien der neunziger Jahre) um die Teile eines Bundesstaats handelt, sondern um einfache Verwaltungsbezirke. Man braucht auch keinen Konsens dafür, es genügt, ausreichend Truppen im Sezessionsgebiet stationiert zu haben. Dann kann man fast alles machen, was man will – sogar Grenzen verändern.“ (Jörg Kronauer, Konkret, April 2008)