IMI-Standpunkt 2006/080 - in: Streitkräfte und Strategien 23.09.2006

Wenn Maßstäbe verloren gehen – Wie Soldaten durch den Krieg verrohen


von: Dirk Eckert | Veröffentlicht am: 27. Oktober 2006

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Vor zwei Jahren sorgte der Folterskandal im irakischen Gefängnis Abu Ghraib weltweit für Empörung. Bilder von misshandelten Gefangenen schockierten nicht nur die arabische und amerikanische Öffentlichkeit. Sie heizten zugleich die anti-amerikanische Stimmung an und diskreditierten die US-Truppen. Doch Abu Ghraib – so viel ist inzwischen klar – ist kein Einzelfall. Immer häufiger ist von Übergriffen und anderen Vorkommnissen die Rede. Das US-Militär hat zahlreiche Verfahren eingeleitet. Und nicht alle, so ist zu vermuten, sind Gegenstand der Berichterstattung.

Mittlerweile erregen solche Fälle nur dann größeres Aufsehen, wenn Soldaten irakische Zivilisten regelrecht massakrieren. Wie zum Beispiel im Fall Haditha. In der westirakischen Stadt haben US-Soldaten im vergangenen Jahr 24 Zivilisten getötet. Offenbar aus Rache – zuvor hatten sunnitische Aufständische einen Kameraden getötet und zwei Soldaten schwer verletzt. Das ergaben jedenfalls die Ermittlungen des Militärs. Neben Haditha wurden mittlerweile auch andere Gräueltaten bekannt. Im März zum Beispiel sollen mehrere US-Soldaten im so genannten sunnitischen Dreieck ein 14-jähriges Mädchen vergewaltigt und anschließend samt ihrer Familie ermordet haben. Zum irakischen Alltag gehört auch, dass Zivilisten damit rechnen müssen, dass sie von US-Soldaten für Aufständische gehalten werden. Bei Kontrollen an den Checkpoints oder bei nächtlichen Patrouillen können sie dann schnell Opfer nervöser und schießwütiger Kontrollposten werden. Dieses Vorgehen der amerikanischen Truppen wird inzwischen auch von der US-freundlichen irakischen Regierung offen kritisiert. Premierminister Nuri Kamal al-Maliki nannte es kürzlich „völlig inakzeptabel“, dass Menschen „nur auf Verdacht“ erschossen würden.

Mittlerweile hat das Pentagon reagiert. Am 1. Juni dieses Jahres gab das Verteidigungsministerium bekannt, dass die amerikanischen Soldaten im Irak zusätzlich „nachgeschult“ würden. Ziel sei, die GI’s anzuhalten, „auf dem Schlachtfeld rechtliche, moralische und ethische Standards einzuhalten“. Gleichzeitig spielte das Militär Übergriffe und begangene Verbrechen jedoch als bedauerliche Ausnahmen herunter. 99,9 Prozent der Soldaten würden, so das Pentagon wörtlich, einen „großartigen Job“ machen. Leider gebe es einzelne, die „auf die schiefe Bahn“ geraten würden. Doch mit Nachschulungen dürfte das Problem kaum in den Griff zu bekommen sein. Auch wenn die politische Führung in Washington es nur scheibchenweise zugibt: Die amerikanischen Soldaten befinden sich mitten in einem Bürgerkrieg. Nicht nur Anhänger des alten Regimes oder Al-Qaida-Mitglieder, auch schiitische Milizen versuchen, ihre Ziele mit Waffengewalt durchzusetzen. In diesem Bürgerkrieg versuchen die amerikanischen Truppen klassische Polizeifunktionen zu erfüllen. Also Aufgaben, für die sie eigentlich nicht ausgebildet sind. Bei Patrouillen oder an den Straßensperren können sie nie sicher sein, ob sie es mit Zivilisten, bewaffneten Kämpfern, oder womöglich sogar Selbstmordattentätern zu tun haben.

Die Soldaten sind überfordert, und dementsprechend locker sitzt die Waffe. Und die Vorgesetzten decken ganz offensichtlich diese Praxis – ja, sie fordern sie sogar ein. Wie die amerikanische Zeitung SAN FRANCISO CHRONICLE schon vor drei Jahren berichtete, gab bei einer nächtlichen Patrouille in Tikrit im Herbst 2003 der verantwortliche Offizier seinen Soldaten folgende Einsatzrichtlinie: „Shoot to kill. No questions asked.“ Ein Presseoffizier der US-Armee vor Ort rechtfertigte diese Praxis gegenüber der Zeitung mit den Worten: „Das ist der Krieg. Jemand schießt aus einem Fenster, wir feuern hundertmal zurück. Jemand fährt auf einen Checkpoint zu, wir feuern auf das Fahrzeug.“ Wenn Soldaten beschuldigt werden, Zivilisten getötet zu haben, berufen sie sich nicht selten auf solche Einsatzregeln. So auch Nathan Lynn, der im Februar einen Unbewaffneten erschossen hat. Und tatsächlich wurden die Ermittlungen gegen den National Guardsman aus Pennsylvania eingestellt. Ähnlich hat sich die Militärjustiz auch in vielen anderen Fällen verhalten. Nicht zuletzt unter Hinweis auf die drohenden Selbstmordattentate akzeptiert sie regelmäßig die Argumentation der Soldaten und stellt das Verfahren ein. So hat das Töten Unschuldiger für Täter in Uniform meist keine Konsequenzen, zumal die irakische Justiz ohnehin nicht zuständig ist. Das zeigt auch ein Blick in die Statistik: Von Beginn des Irak-Kriegs im März 2003 bis Anfang 2006 klagte die amerikanische Militärjustiz 39 Soldaten an wegen des Todes von insgesamt zwanzig Irakern. Dabei wurden nach Expertenangaben mittlerweile erheblich mehr Zivilisten von US-Soldaten erschossen. Die Nichtregierungsorganisation „Iraq Body Count“ schätzt, dass insgesamt 40.000 bis 45.000 irakische Zivilisten von US-Soldaten, Terroristen und Aufständischen getötet worden sind. Genaue Zahlen gibt es nicht, jedenfalls veröffentlicht das Pentagon keine Zahlen. Die US-Streitkräfte wollen den Eindruck vermeiden, wie damals in Vietnam einen „Body count“ zu betreiben, – also die Anzahl getöteter Gegner zum Maßstab für den Erfolg einer Operation zu machen. Allerdings hat das US-Militär inzwischen eingeräumt, im vergangenen Jahr im Schnitt einen Zivilisten pro Tag getötet zu haben.

Es ist nicht absehbar, dass sich daran in nächster Zeit viel ändern wird. Denn ein Ende des Konfliktes ist nicht in Sicht. Damit aber sind Überreaktionen von Soldaten, die über den Tod ihrer Kameraden in einen regelrechten Blutrausch verfallen, morden und vergewaltigen auch weiterhin nicht auszuschließen. Ob von oben verordnete Ethik-Schnell-Kurse daran etwas ändern werden, – das darf bezweifelt werden. Hinzu kommt, dass das Pentagon selbst kein gutes Vorbild abgibt. Von der Militärführung gibt es widersprüchliche und zweideutige Signale, was im Kampf gegen Terroristen und Aufständische erlaubt ist. Erinnert sei in diesem Zusammenhang beispielsweise an den Folterskandal von Abu Ghraib und den dort angewandten Methoden, um Gefangene für Verhöre „vorzubereiten“. Außerdem bleibt der Eindruck, dass Massaker im Irak nur zögerlich aufgeklärt werden. Der Tod von unschuldigen Zivilisten führt jedenfalls nicht automatisch zur Einleitung von Ermittlungen, wie der Fall Haditha deutlich gemacht. Es sind eher Recherchen einiger weniger Journalisten, die das Militär zum Handeln zwingen. Und auch bei der Aufarbeitung früherer Kriege ist die US-Regierung nicht an Selbstkritik interessiert. Wie die LOS ANGELES TIMES kürzlich berichtete, hat das Militär während des Vietnamkrieges zwar eigene Untersuchungen über Verbrechen amerikanischer Soldaten durchgeführt. Die armeeinternen Ermittlungen zeigen deutlich, dass es mehr Gräueltaten als das Massaker von My Lai gegeben hat, bei dem US-Soldaten 504 Menschen getötet hatten. Die Ermittler konnten 241 Vorfälle mit 300 Gräueltaten nachweisen, dazu gehörten Massaker, Angriffe auf Zivilisten und Folter. Veröffentlicht wurden diese Zahlen aber nicht. Nur wenige Soldaten wurden wegen der Ermordung von Zivilisten in Vietnam verurteilt. Und bis heute weigert sich das Pentagon, alle Gräueltaten, die US-Soldaten in Vietnam begangen haben, öffentlich zu machen. Nachdem die LOS ANGELES TIMES einen Teil der Ermittlungsunterlagen eingesehen hatte, wurden diese wieder unter Verschluss genommen.