Quelle: Informationsstelle Militarisierung (IMI) e.V. - www.imi-online.de

IMI-Analyse 2006/025

Das Weißbuch der Bundeswehr: „Highlights“ aus dem Kabinettsentwurf

Jürgen Wagner (24.10.2006)

Nachdem schon länger ein Entwurf für ein neues „Weißbuch“ der Bundeswehr vorliegt, wird das Kabinett am 25. Oktober über eine überarbeitete Fassung beraten und diese vermutlich in Kürze verabschieden.[1] Das Weißbuch ist ein Grundlagendokument zur außen- und militärpolitischen Ausrichtung Deutschlands der kommenden Jahre (das letzte erschien 1994). Es spiegelt in erschreckender Weise den Grad der Militarisierung Deutschlands wieder, indem es zeigt, wie weit die „Enttabuisierung des Militärischen“ (Gerhard Schröder) inzwischen fortgeschritten ist. Hier sollen die wichtigsten Elemente der aktuellen Version vorgestellt werden.

Auf Wiedersehen Verteidigungsarmee – Hallo Kriegstruppe

Was sich ohnehin schon lange abzeichnet wird durch das Weißbuch in aller Deutlichkeit untermauert, nämlich, dass sich die Bundeswehr konsequent von einer (primär) auf Verteidigung ausgerichteten Truppe hin zu einer Interventionsarmee entwickelt hat. So betont man etwa die „strikt einsatzorientierte Ausrichtung der Bundeswehr.“ (S. 70) „Die Bundeswehr beschreitet seit Jahren konsequent den Weg des Wandels zu einer Armee im Einsatz.“ (S. 13; Hervorhebung im Original) Summa summarum: „Die Bundeswehr ist heute weltweit im Einsatz.“ (S. 75)

Konsequente Umstrukturierung zur Angriffsarmee

Da es offensichtlich außer Frage steht, dass für die Bundeswehr Kriegseinsätze im Ausland und nicht mehr die Landesverteidigung das Kerngeschäft darstellen, ist es nur konsequent die Struktur der Truppe zielstrebig hierauf auszurichten (form follows function): „Internationale Konfliktverhütung und Krisenbewältigung einschließlich des Kampfes gegen den internationalen Terrorismus sind auf absehbare Zeit ihre wahrscheinlicheren Aufgaben. Sie sind strukturbestimmend.“ (S. 56; Hervorhebung JW)

Aus diesem Aufgabenprofil ergibt sich die Einteilung der Bundeswehr in 35.000 Eingreifkräfte zur Durchführung von Interventionskriegen, 70.000 Stabilisierungskräften, die als Besatzungstruppen wie beispielsweise in Afghanistan fungieren und 147.500 Unterstützungskräfte zur logistischen Unterstützung der beiden vorher genannten Truppenteile. Auch hier lässt das Fazit nichts an Deutlichkeit vermissen: „Die Struktur der Bundeswehr wird konsequent auf Einsätze ausgerichtet.“ (S. 6)

Zur Frage, ob zukünftig Präventivkriege nach US-amerikanischem Vorbild ebenfalls ein integraler Bestandteil der Bundeswehr-Einsatzplanung sein werden, äußerte sich der frühe Entwurf des Weißbuchs sehr deutlich: „Instrumente der Konfliktprävention und Krisenbewältigung sowie Fähigkeiten zur Friedenskonsolidierung müssen weiterentwickelt werden, das Recht auf Selbstverteidigung präzisiert und präventives Eingreifen auf völkerrechtlich gesicherten Grundlagen geregelt werden.“[2] Diesbezüglich ist die Version, die nun im Kabinett beraten wird, schwammiger formuliert: „Sicherheitsvorsorge kann daher am wirksamsten durch Frühwarnung und präventives Handeln gewährleistet werden und muss dabei das gesamte sicherheitspolitische Instrumentarium einbeziehen.“ (S. 20) Da aber päventives Handeln hier sämtliche Instrumentarien, also auch Kriegseinsätze einschließt, eröffnet diese Formulierung durchaus genügend Interpretationsspielraum, so dass sich sagen lässt, dass wie schon in den Verteidigungspolitischen Richtlinien 2003 und auf EU-Ebene in der Europäischen Sicherheitsstrategie desselben Jahres, hierdurch das Präventivkriegskonzept durch die Hintertür etabliert wird.

Auffällig ist, wie offen das Weißbuch erklärt, die Bundeswehr habe die Aufgabe, die Durchsetzung deutscher Interessen zu gewährleisten.

Militärische Versorgungssicherung

Nachdem Verteidigungsminister Franz-Josef Jung schon seit längerem ohnehin jedem versicherte, der nicht bei drei auf dem Baum war, eine der zentralen Aufgaben der Bundeswehr sei es selbstverständlich militärisch für die Kontrolle der Rohstoffzufuhr zu sorgen,[3] erfährt dieses – ohnehin bereits in den Verteidigungspolitischen Richtlinien 1992 festgeschriebene – Ziel im Weißbuch eine erneute Bestätigung: „Deutschland, dessen wirtschaftlicher Wohlstand vom Zugang zu Rohstoffen, Waren und Ideen abhängt, hat ein elementares Interesse an einem friedlichen Wettbewerb der Gedanken, an einem offenen Welthandelssystem und freien Transportwegen.“ (S. 14) Deutschland sei „in hohem Maße von einer gesicherten Rohstoffzufuhr und sicheren Transportwegen in globalem Maßstab abhängig. […] Von strategischer Bedeutung für die Zukunft Deutschlands und Europas ist eine sichere, nachhaltige und wettbewerbsfähige Energieversorgung. […] Energiefragen werden künftig für die globale Sicherheit eine immer wichtigere Rolle spielen.“ (17) Aus diesem Grund „muss die Sicherheit der Energieinfrastruktur gewährleistet werden.“ (18)

Stabilisierungkräfte? Besatzungstruppen!

Die zunehmenden deutschen Auslandseinsätze zur „Stabilisierung“, sprich: Kontrolle und Besatzung, so genannter fehlgeschlagener Staaten werden mit einer sicherheitspolitischen Kausalkette begründet, die folgendermaßen argumentiert: fehlgeschlagene Staaten – die schließlich, häufig erst aufgrund westlicher Interessenspolitik in Krisen und Konflikte geraten, was man aber geflissentlich vergisst zu erwähnen – seien „Brutstätten des Terrorismus“ und deshalb eine Bedrohung, gegen die auch militärisch vorzugehen sei: „Die Erosion staatlicher Strukturen, der Zerfall ganzer Staaten und damit oft einhergehende Bürgerkriege ebenso wie das Entstehen von Gebieten, die sich außerhalb der internationalen Ordnung stellen, eröffnen Aktionsräume sowie Rückzugsgebiete für bewaffnete Gruppen und terroristische Organisationen.“ (S. 16)
Hieraus leitet sich schließlich ein moralisch-sicherheitspolitischer Imperativ zur Durchführung von „Stabilisierungseinsätzen“ ab: „Staatsversagen sowie eine unkontrollierte Migration können zur Destabilisierung ganzer Regionen beitragen und die internationale Sicherheit nachhaltig beeinträchtigen. Neben der moralischen Verpflichtung zur Hilfe steht dabei die Verantwortung für die Sicherheit unseres Landes.“ (S. 17) Neben tatsächlichen Kriegseinsätzen sollen für derlei Besatzungen in Zukunft „bis zu 14.000 Soldatinnen und Soldaten, aufgeteilt auf bis zu fünf verschiedene Einsatzgebiete“ zur Verfügung stehen. (S. 72)

CIMIC – Vernetzte Sicherheit

Allgegenwärtig ist im Weißbuch der Begriff der „vernetzten Sicherheit.“ (bspws. S. 3) Damit wird der Tatsache Rechnung getragen, dass eine langfristige Besatzung allein mit militärischen Mitteln zum Scheitern verurteilt ist und deshalb auch auf zivile Komponenten setzen muss, unter operativer Führung des Militärs versteht sich (zivil-militärische Zusammenarbeit, CIMIC): „Die Bewältigung dieser neuen Herausforderungen erfordert den Einsatz eines breiten außen-, sicherheits-, verteidigungs- und entwicklungspolitischen Instrumentariums zur frühzeitigen Konflikterkennung, Prävention und Konfliktlösung.“ (S. 2)

Im Weißbuch wird damit der ohnehin sich rasant beschleunigende Trend bestätigt, eine ganze Reihe ziviler Akteure der Logik militärischer Interessensdurchsetzung unterzuordnen: „Staatliches Handeln bei der Sicherheitsvorsorge wird künftig eine noch engere Integration politischer, militärischer, entwicklungspolitischer wirtschaftlicher, humanitärer, polizeilicher und nachrichtendienstlicher Instrumente der Konfliktverhütung und Krisenbewältigung voraussetzen.“ (S. 7) Als richtungweisend wird dabei das Gesamtkonzept der Bundesregierung „Zivile Krisenprävention, Konfliktlösung und Friedenskonsolidierung“ erwähnt, es sei ein zentraler „Baustein dieses gesamtstaatlichen Sicherheitsverständnisses.“ (S. 21) In diesem Dokument wird, in den Worten eines seiner Architekten, des Grünen Verteidigungsexperten Winfried Nachtweih, „Vorstellungen pazifistischer Friedensorganisationen eine Absage erteilt, die hier und heute zivile Konfliktbearbeitung als Alternative zum Militär sehen.“[4]

Die UNO als Legitimationsinstrument deutscher Kriegseinsätze

Das Weißbuch betont die Notwendigkeit einer „Weiterentwicklung des Völkerrechts.“ (S. 36) Damit stellt sich das Dokument voll hinter die derzeitigen Versuche, die UNO dergestalt zu „reformieren“, dass Kriege nicht mehr allein zur Selbstverteidigung und bei einer Bedrohung des Weltfriedens, sondern auch bei Verstößen gegen die „internationale Normen“ völkerrechtlich legitim sein sollen, insbesondere im Falle schwerer Menschenrechtsverletzung (Responsibility to Protect). Da aber in der Praxis die mächtigen Staaten über die Definitionsgewalt verfügen, beliebig festzustellen, was als ein solcher Verstoß zu werten ist, beinhaltet dies die faktische Abschaffung des staatlichen Gewaltverbots zugunsten der Willkür der Mächtigen, die hierdurch noch häufiger „völkerrechtlich legitim“ Krieg führen können. „Als Reaktion auf die Intervention im Kosovo 1999 ist die völkerrechtliche Lehre von der ‚Responsibility to Protec‘ entstanden. Auch wenn die Staaten, die sich diese Lehre zu eigen gemacht haben, wahrscheinlich noch nicht in der Mehrheit sind, prägt die Debatte um diesen Begriff doch zunehmend das Denken westlicher Länder. Dies wird langfristig Auswirkungen auf die Mandatierung internationaler Friedensmissionen durch den Sicherheitsrat der Vereinten Nationen haben. Denn gerade, wenn es zum Einsatz militärischer Gewalt kommt, ist die völkerrechtliche Legitimation entscheidend.“ (S. 46)

Was hier eher verschämt angedeutet wird, nämlich, dass die UNO für die Legitimation westlicher Kriegseinsätze weiterhin von zentraler Bedeutung ist, wurde in der früheren Version des Weißbuchs noch deutlich offener formuliert. „Die einzigartige Bedeutung der Vereinten Nationen besteht darin, einen notwendig werdenden Einsatz militärischer Gewalt mit der völkerrechtlichen Legitimität zu versehen.“[5] Deutlicher kann man es kaum formulieren, dass die Vereinten Nationen zum Steigbügelhalter für die Durchsetzung deutscher Interessen degradiert werden sollen. Um auch sicherzugehen, dass die Dinge dort den richtigen Verlauf nehmen, strebt Deutschland deshalb auch weiterhin an, „mit der Übernahme eines ständigen Sicherheitsratssitzes mehr Verantwortung zu übernehmen.“ (S. 47)

NATO und EU

Bezüglich der Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (ESVP) wird im Weißbuch im Wesentlichen die im Dezember 2003 verabschiedete Europäische Sicherheitsstrategie wiedergegeben. Insbesondere wird auch einer ihrer Kernsätze übernommen: Die erste „Verteidigungslinie wird hierbei oft im Ausland liegen.“ (S. 35)

Mit Blick auf die NATO ist interessant, dass betont wird: „Nur Nationen mit einer leistungsfähigen Rüstungsindustrie haben ein entsprechendes Gewicht bei Bündnisentscheidungen.“ (S. 68) Deshalb wird die Bedeutung einer „nationale Konsolidierung“ (S. 68) hervorgehoben, womit die Konzentrationsprozesse in der deutschen Rüstungsindustrie gemeint sind, denn sie sind die Vorbedingung für den forcierten Aufbau einer deutsch-geführten europäischen Kriegswaffenindustrie, der bereits weit vorangeschritten ist.[6] Offensichtlich sieht man hierin ein wichtiges Mittel zur Schwächung der US-Machtposition innerhalb der NATO: „Eine stärkere europäische Integration im Rüstungsbereich wird Europa als Partner im transatlantischen Verbund stärken.“ (S. 69)

Darüber hinaus plädiert das Weißbuch dafür, den Prozess der NATO-Osterweiterung fortzusetzen: „Auch künftig bleibt die Tür für eine Mitgliedschaft von Staaten offen.“ (S. 25) Auch die nukleare Komponente der NATO, in die Deutschland, in offenem Bruch des Nuklearen Nichtverbreitungsvertrages, über die nukleare Teilhabe integriert ist, wird weiter befürwortet: „Für die überschaubare Zukunft wird eine glaubhafte Abschreckungsfähigkeit des Bündnisses neben konventioneller weiterhin auch nuklearer Mittel bedürfen. […] Deutschland bei der nuklearen Teilhabe einen seiner Rolle im Bündnis und der im Strategischen Konzept von 1999 vereinbarten Grundsätze entsprechenden Beitrag leistet.“ (S. 27) Schließlich soll sich auch die NATO stärker zur Durchführung von „Stabilisierungseinsätzen“ bekennen, wie sie in der Praxis bspws. in Afghanistan ohnehin bereits ablaufen: „Die Anstrengungen der NATO werden sich künftig stärker auf Stabilisierungseinsätze und militärische Unterstützung für die Wiederherstellung staatlicher Strukturen richten.“ (S. 28)

Bundeswehr im Inneren

Der – wohl einzig größere – Zankapfel zwischen SPD und CDU bestand in der Frage, wie weit reichend die Änderungen zum Einsatz der Bundeswehr im Inneren gehen sollen. Das Weißbuch bemängelt, die diesbezüglich angeblich unzureichenden Möglichkeiten für Bundeswehreinsätze und strebt deshalb eine Verfassungsänderung an: „Terroristische Anschläge können danach schwere Unglücksfälle im Sinne von Art. 35 GG darstellen. Die Streitkräfte können zu ihrer Verhinderung bereits dann eingesetzt werden, wenn ein Schadenseintritt durch einen Terroranschlag mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit unmittelbar bevorsteht. Da Art. 35 GG jedoch nur eine Grundlage für die Unterstützung der zuständigen Stellen darstellt, dürfen spezifisch militärische Kampfmittel dabei bislang nicht eingesetzt werden. Die Streitkräfte sind auf die Waffen beschränkt, die das jeweils einschlägige Recht für die Polizeikräfte vorsieht. Deshalb sieht die Bundesregierung die Notwendigkeit einer Erweiterung des verfassungsrechtlichen Rahmens für den Einsatz der Streitkräfte.“ (S. 61)

Fazit

Wenn auch wenig im Weißbuch wirklich neu ist, so dokumentiert es doch den rasanten „Fortschritt“, den die Bundeswehr in den letzten Jahren auf ihrem Weg zur global agierenden Kriegsarmee gemacht hat. Erstaunlich ist vor allem, mit welcher Offenheit inzwischen die offensive Durchsetzung wirtschaftlicher Interessen und die militärische Kontrolle der Rohstoffversorgung zu zentralen Aufgaben der Bundeswehr erklärt werden, ohne dass es hierüber eine breite Debatte in der Öffentlichkeit gibt. Es steht zu hoffen, dass sich im Zuge der anstehenden Kabinettssitzung auch einige kritische Stimmen zu Wort melden werden.

Anmerkungen

[1] Weißbuch zur Sicherheitspolitik Deutschlands und zur Zukunft der Bundeswehr, URL: http://zeus.zeit.de/deutschland/060928_WB06.pdf (22.10.06). Sämtliche Seitengaben im Text beziehen sich auf dieses Dokument.
[2] Weißbuch zur Sicherheitspolitik Deutschlands und zur Zukunft der Bundeswehr – Vorläufige Fassung 28. April 2006, URL: http://www.geopowers.com/Machte/Deutschland/doc_ger/vorl._WB_2006.pdf (10.09.06), S. 12. Hervorhebung JW.
[3] Bürger, Peter: Deutsche Kriege für das „nationale Interesse“?, Telepolis, 17.05.2006
[4] Nachtwei, Winfried: Aktionsplan Krisenprävention: Großer Fortschritt an Friedensfähigkeit, URL: http://www.nachtwei.de/pdf/ak_plan_ziv_wn.pdf (15.10.06), S. 2.
[5] Weißbuch – vorläufige Fassung, S. 35.
[6] Neuber, Arno: „Wie empfehlen Rüstungsaktien“: EU-Rüstungskonzerne auf Expansionskurs, in: Pflüger, Tobias/Wagner, Jürgen: Welt-Macht EUropas: Auf dem Weg in weltweite Kriege, Hamburg 2006, S. 278-291.

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Quelle: Informationsstelle Militarisierung (IMI) e.V. - www.imi-online.de