IMI-Analyse 2006/009 - in: Graswurzelrevolution Nr. 308/April 2006

Neoliberale Geopolitik:

Die Europäische Union und die militärische Absicherung der Globalisierung

von: Jürgen Wagner | Veröffentlicht am: 19. April 2006

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Zwei eng miteinander in Verbindung stehende Phänomene prägen die internationalen Beziehungen seit dem Ende des Kalten Krieges: Zum einen die fortschreitende Globalisierung in Gestalt einer Ausweitung der neoliberalen Weltwirtschaftsordnung und zum anderen ein sich beschleunigender Trend westlicher Militärinterventionen. Dieser Artikel soll aufzeigen dass und inwieweit sich diese beiden Entwicklungen gegenseitig bedingen.

Ursächlich hierfür sind die wachsenden Widersprüche neoliberaler Politik, die sich in Form zunehmender Konflikte in und mit Ländern der Peripherie ausdrücken und das inzwischen global operierende Weltwirtschaftssystem und damit auch die Profitinteressen westlicher Großkonzerne zunehmend bedrohen. Aus Sicht westlicher „Sicherheitspolitiker“ ist deshalb der Übergang zu einer immer militaristischeren und letztlich offen imperialen Politik zwingend erforderlich. Deshalb wird gegenwärtig in der Europäischen Union die Strategie- und Streitkräfteplanung mit erschreckender Zielstrebigkeit konsequent auf ein Ziel fokussiert: Die militärische Absicherung der neoliberalen Weltwirtschaftsordnung und damit die Aufrechterhaltung bestehender Ausbeutungsverhältnisse.[1] Da dieser Zusammenhang kaum einmal offen benannt wird, soll hier auch ein Blick auf die Legitimationsstrategien geworfen werden, mit denen diese imperiale Politik als ein selbstloses Unterfangen gerechtfertigt wird.

Globalisierung? Ausbeutung!

Dass die Globalisierung häufig wertfrei als zwangsläufiger Prozess zunehmender internationaler Verflechtung verstanden wird, verfehlt den tatsächlichen Gehalt dieser Entwicklung. Denn worum es tatsächlich geht, ist die gezielte politische Umsetzung einer Strategie, die auf eine maximale Durchsetzung der Marktkräfte setzt und damit nur als neoliberale Globalisierung zu beschreiben ist.[2] Als wesentliche Mittel hierfür fungieren Privatisierung, Deregulierung, Abbau staatlicher Sozialleistungen, Öffnung der Märkte bzw. Freihandel etc. Während diese Schritte lange fast ausschließlich von den westlich dominierten Organisationen wie IWF, Weltbank und WTO durchgesetzt wurden, vollzieht sich derzeit eine „neue Entwicklung in den Mustern staatsgelenkter Liberalisierung. Die ökonomischen Axiome der Strukturanpassung, der finanzpolitischen Austerität und des Freihandels sind jetzt, so scheint es, um die direkte Anwendung militärischer Gewalt ergänzt worden.“[3]

Obwohl bekannt sein dürfte, dass die Umsetzung neoliberaler Politik zu einer massiven Verarmung weiter Teile der Weltbevölkerung geführt hat,[4] ist der Neoliberalismus weiterhin das ideologische Fundament europäischer Strategiepapiere, eben weil er ein geeignetes Mittel zur Ausbeutung der Dritten Welt darstellt. Sowohl in der Europäischen Sicherheitsstrategie (ESS) als auch im EU-Verfassungsvertrag werden ausgerechnet Weltbank und IWF als „Schlüsselinstitutionen“ zur Bekämpfung der Armut bezeichnet.

Die Globalisierung westlicher Profitinteressen

Da Konflikte sich negativ auf die Fähigkeit und die Bereitschaft zu Kapitalinvestitionen und der daraus resultierenden Profitmöglichkeiten auswirken, ist westlichen Großkonzernen (meist) an deren Vermeidung gelegen: „Die unter der Führung der internationalen Wirtschaftsinstitutionen vorangetriebene ‚Globalisierung‘ hat dem Finanzkapital neue Horizonte eröffnet, doch macht sie auch den Schutz und die Sicherheit der ‚Eigentumsrechte‘ auf natürliche Ressourcen, auf Land, aber auch der Finanztitel (Aktien, Obligationen, Schuldtitel) notwendig.“[5]

Tatsächlich geht mit der zunehmenden Interdependenz im Zuge der Globalisierung eine Erweiterung staatlich-privatwirtschaftlicher Interessen einher, die es gegen Bedrohungen jedweder Art zu „verteidigen“ gilt, um die Stabilität des Gesamtsystems zu garantieren: „Die Globalisierung verändert also die traditionellen Ansätze im Bereich der Sicherheit grundlegend. Als Folge davon bedeutet inzwischen die Sicherheit einer Nation nicht mehr nur die Unverletzlichkeit ihres Territoriums, wie es seit Jahrzehnten der Fall war, sondern ebenfalls die Lebensfähigkeit – das reibungslose Funktionieren – ihrer globalen Systeme.“[6] Dies erfordert den militärischen Schutz westlicher Profitinteressen, aber auch von vitalen Ressourcen, Handelswegen, eben alles was westliche Ausbeutungspolitik zum funktionieren benötigt, wie bspws. ein semi-offizielles EU-Dokument, das European Defence Paper, anschaulich demonstriert (siehe Tabelle [nur im PDF]).

Die Österreichische Militärische Zeitschrift (ÖMZ) redet Klartext: „Die zunehmend globalisierte Welt ist anfällig geworden gegenüber unbeabsichtigten Störungen. Dies hat wieder zur Folge, dass Konflikte und Kriege an Orten, die vergleichsweise weit entfernt liegen, ein Spill-over-Potenzial auch auf Wohlstands- und Friedensregionen der Welt besitzen. Da im Rahmen der Globalisierung Grenzen und Schutzwälle abgebaut wurden, liegt es nunmehr an den einzelnen Akteuren der Weltpolitik […] die erforderlichen Maßnahmen einzuleiten, um ein derartiges Überschwappen von Konflikten auf sonst konfliktfreie Zonen zu verhindern. Zu diesen Maßnahmen gehört auf jeden Fall auch die Option, im Bedarfsfall auf Streitkräfte und damit auf gewaltsame Mittel zurückgreifen zu können.“[7]

Als besonders effektive Legitimationsstrategie hat sich dabei die Theorie der „Neuen Kriege“ erwiesen, die der Durchsetzung westlicher Profitinteressen einen quasi-theoretischen Unterbau verleiht.

Safety First: Militärischer Investitionsschutz als entwicklungspolitisches Projekt

Die Theorie der „Neuen Kriege“, deren führende Vertreter Herfried Münkler und Mary Kaldor sind, besagt im Kern, dass klassische zwischenstaatliche Kriege (weitgehend) der Vergangenheit angehören. An ihre Stelle sei aber eine rasant steigende Zahl innerstaatlicher Gewaltkonflikte getreten, die primär endemische Ursachen hätten. Regionalspezifische Faktoren, ethnische oder religiöse Rivalitäten, Stammesfehden und vor allem die Habgier einzelner Warlords seien ihre hauptsächlichen Triebfedern, die letztlich zur Erosion jeglicher Ordnung und damit zu „gescheiterten Staaten“ (failed states) führen würden.[8]

Mit diesem Konstrukt wird die Frage der Kriegsursachen von der Interessenspolitik der kapitalistischen Mächte abgekoppelt. Im Gegenteil, damit diese Staaten ihre angeblich selbstverschuldeten Konflikte dauerhaft beilegen können, wären sie, so Münkler, „auf den Import von Staatlichkeit angewiesen.“[9] Ohne militärische Schützenhilfe seien viele Staaten der Dritten Welt nicht zu einer „erfolgreichen“ Integration in den Weltmarkt in der Lage, die ihrerseits wiederum zynischerweise als Vorbedingung für eine wirksame Armutsbekämpfung zurechtinterpretiert wird.

Entlarvend und richtungweisend waren diesbezüglich die Ausführungen während der NATO-Sicherheitskonferenz Anfang 2005 in München. Dass auf der Tagung neben dem Ex-IWF-Chef und heutigen Bundespräsidenten Horst Köhler, der damals frisch gewählte Vorsitzende des Bundesverbands der deutschen Industrie (BDI), Jürgen R. Thumann, die wichtigsten Impulse setzte, ist bezeichnend. Ganz im Sinne der zentralen EU-Dokumente werden derzeit die Auswirkungen der neoliberalen Weltwirtschaftsordnung verdreht: „Es liegt im Grundinteresse eines jeden funktionierenden Staates, der Privatwirtschaft breite Entfaltungsmöglichkeiten einzuräumen. Handel ist die beste Hilfe zur Selbsthilfe“, äußerte sich Köhler. „Zwischen Sicherheit und wirtschaftlicher Entwicklung besteht ein Zusammenhang. Das ist fast schon eine Binsenweisheit. Ohne Sicherheit kann es keine nachhaltige Wirtschaftsentwicklung geben.“[10]

Bei der Konferenz ging es primär darum, die Forderung nach einer Absicherung westlicher Profitinteressen und die Herstellung eines investitionsfreundlichen Umfeldes zu einer militärischen Aufgabe zu machen: „Zwischen wirtschaftlicher Entwicklung und Sicherheit gibt es eine klare Wechselwirkung,“ so BDI-Chef Jürgen Thumann. „Investitionen in Entwicklungsländern schaffen Jobs und Einkommen. […] Dort wo unsere Unternehmen aktiv sind, stärken sie die Wirtschafts- und Finanzstrukturen. Aber die Wirtschaft braucht sichere Rahmenbedingungen. Mangelnde Rechtssicherheit und Rechtstaatlichkeit machen Investitionen schwer verantwortbar.“ Thumann kommt dann auch folgerichtig zu dem Ergebnis: „Die Grundhypothese ‚ohne Entwicklung keine Sicherheit‘ stellt sich häufig genau anders herum dar. ‚Ohne Sicherheit keine Entwicklung‘.“[11]

Aus dem Bestreben militärisch für die Realisierung von Profitinteressen zu garantieren, wird somit schamlos ein entwicklungspolitisches Projekt gemacht, indem der Neoliberalismus als die Lösung, nicht als das Problem der Dritten Welt dargestellt wird. Dies führt zu der „logischen“ Schlussfolgerung, dass die militärische Erweiterung und Absicherung, nicht die Abkehr von diesem System, das moralische Gebot der Stunde darstelle, was von der Europäischen Sicherheitsstrategie zusätzlich noch zu einer sicherheitspolitischen und damit endgültig zu einer militärischen Aufgabe erhoben wird. Bundespräsident Horst Köhler fasste dies zusammen, indem er forderte, dass „der Sicherheitsbegriff wesentlich umfassender“ verstanden werden müsse. Es gehe heute um „einen stärkeren Einstieg in die Gestaltung der Globalisierung.“[12]

Die EU und der Imperialismus der globalen Ökonomie

Die im Dezember 2003 verabschiedete Europäische Sicherheitsstrategie fordert, dem Scheitern von Staaten frühzeitig (präventiv) militärisch zu begegnen. Begründet wird dies damit, dass von zusammengebrochenen Staaten eine direkte Bedrohung für die EU ausgehe, da sie Rekrutierungs- und Rückzugsgebiete für Terroristen darstellen und häufig die Verbreitung von Massenvernichtungsmittel betreiben würden (eine extrem weit gefasste Definition eines gescheiterten Staates im übrigen). Auch Herfried Münkler argumentiert, dass die „Ausbildungslager und Rückzugsgebiete [von Terroristen] vorzugsweise dort liegen, wo im Verlauf eines innergesellschaftlichen Krieges die staatlichen Strukturen zusammengebrochen sind. [Weshalb] es in einer globalisierten Welt keine Region mehr gibt, in denen die staatlichen Strukturen zusammenbrechen können, ohne dass dies schwer wiegende Folgen für die weltpolitische wie weltwirtschaftliche Ordnung hätte.“[13]

Entscheidend ist, dass die Ursache für das Scheitern staatlicher Systeme in der Ablehnung gesehen wird, sich den Spielregeln der neoliberalen Weltwirtschaftsordnung zu unterwerfen. Dies wird deutlich, wenn man die Ausführungen Robert Coopers näher betrachtet, der als wichtigster Autor der ESS gilt, die im Wesentlichen einen von ihm verfassten Entwurf übernimmt.[14] Der Büroleiter des EU-Außenbeauftragten Javier Solana fordert schon lange einen „liberalen Imperialismus“ dessen beide Komponenten von ihm als Grundlage der künftigen europäischen Außenpolitik betrachtet werden: Erstens sei dies „der freiwillige Imperialismus der globalen Ökonomie. Er wird normalerweise von einem internationalen Konsortium durch internationale Finanzinstitutionen wie IWF und Weltbank ausgeübt. […] Diese Institutionen bieten Staaten, die ihren Weg zurück in die globale Ökonomie und in den tugendhaften Kreis von Investitionen und Prosperität finden wollen, Hilfe an. Im Gegenzug stellen sie Forderungen auf, von denen sie hoffen, dass sie die politischen und ökonomischen Versäumnisse beheben, die zu der ursprünglichen Notwendigkeit für Unterstützung beitrugen.“[15]

Dieses kaltschnäuzige Bekenntnis zur neoliberalen Globalisierung mitsamt ihren katastrophalen Konsequenzen wird vom zweiten Bestandteil des liberalen Imperialismus ergänzt, der sich mit denen befasst, die den europäischen Forderungen nicht nachkommen: „Die Herausforderung der postmodernen Welt ist es, mit der Idee doppelter Standards klarzukommen. Unter uns gehen wir auf der Basis von Gesetzen und offener kooperativer Sicherheit um. Aber wenn es um traditionellere Staaten außerhalb des postmodernen Kontinents Europa geht, müssen wir auf die raueren Methoden einer vergangenen Ära zurückgreifen – Gewalt, präventive Angriffe, Irreführung, was auch immer nötig ist, um mit denen klarzukommen, die immer noch im 19. Jahrhundert leben, in dem jeder Staat für sich selber stand. Unter uns halten wir uns an das Gesetz, aber wenn wir im Dschungel operieren, müssen wir ebenfalls das Gesetz des Dschungels anwenden.“[16]

Wer hierbei nicht mitspielen will wird zu einem sicherheitspolitischen Problem und damit zu einem Fall für das Militär, denn „eine Abkoppelung von den globalen Systemen wird per se als Bedrohung definiert. Die Antwort neoliberaler Geopolitik hierauf ist wiederum, so scheint es, eine Wiedereingliederung zu erzwingen.“[17]

Schaubild 1: Bedrohungsanalyse der Europäischen Sicherheitsstrategie [nur im PDF]

Coopers Forderung, dass zukünftig Staaten, die sich nicht an die kapitalistischen Spielregeln halten, unter Umständen auch militärisch gemaßregelt werden, findet sich auch in der ESS (S. 10): „Eine Reihe von Staaten hat sich von der internationalen Staatengemeinschaft abgekehrt. Einige haben sich isoliert, andere verstoßen beharrlich gegen die internationalen Normen. Es ist zu wünschen, dass diese Staaten zur internationalen Gemeinschaft zurückfinden, und die EU sollte bereit sein, sie dabei zu unterstützen. Denen, die zu dieser Umkehr nicht bereit sind, sollte klar sein, dass sie dafür einen Preis bezahlen müssen, auch was ihre Beziehungen zur Europäischen Union anbelangt.“

Solche Sätze sind als Drohungen an all jene Länder zu verstehen, die Coopers Begeisterung für den „freiwilligen Imperialismus der globalen Ökonomie“ aus verständlichen Gründen nicht teilen. Wer nicht nach der europäischen Pfeife tanzt, dem wird offen gedroht, was in gewisser Weise nur konsequent ist, denn wer nicht bereit ist, die mit heutigen Konflikten elementar zusammenhängende Weltwirtschaftsordnung grundsätzlich in Frage zu stellen, dem wird wenig anderes übrig bleiben, als diese mittels imperialer Politik abzusichern.

Logische Konsequenz eines verqueren Denkens: Europas Imperium

„Was wäre schlecht an einem neuen Imperium?“, so die inzwischen häufig gestellte Frage, hier vom Chefkolumnisten der Welt am Sonntag, der die moralisch-sicherheitspolitisch legitimierte Ausweitung der europäischen Einflusszone sogar zu einem „Modernisierungsprojekt“ hochstilisiert: „Wenn aber Europa seine imperiale Bestimmung realisiert, so ist eben diese Ausdehnung einerseits schlicht und einfach notwendige Bedingung seiner Sicherheit, andererseits ein zivilisatorischer Auftrag, der Europas müde Eliten neu beleben könnte.“[18]

Inzwischen wird immer offener gefordert, Staaten so lange unter westliche Kontrolle zu stellen, bis sie „funktionieren“. Exemplarisch hierfür schlägt etwa der Politikprofessor Ulrich Menzel folgendes vor: „Im Falle der ‚Failed States‘ kann die Einrichtung von ‚liberalen Protektoraten‘ erforderlich sein, um treuhänderisch das Gewaltmonopol herzustellen.“[19] Fast genauso klingt Mary Kaldor: „Wo noch keine legitimen örtlichen Behörden existieren, können treuhänderisch Mandate oder Protektorate in Erwägung gezogen werden.“[20] Letztlich bringt das Ganze wiederum Herfried Münkler auf den Punkt: „Im Gefolge der ökonomischen Imperialismustheorien haben wir uns daran gewöhnt, Imperien mit Unterdrückung und Ausbeutung zu identifizieren. Genauso lassen sich Imperien aber auch als Friedensgaranten, Aufseher über politische und kulturelle Werte und Absicherer großräumiger Handelsbeziehungen und Wirtschaftsstrukturen begreifen.“[21]

Folgerichtig plädiert Münkler für „die Herstellung von imperialer Ordnung zwecks Absicherung von Wohlstandszonen an den Rändern. […] Der Zwang zu einer zunehmenden Politik der Intervention ist auch die Reaktion auf die Konsequenzen der Globalisierung an der Peripherie. Es bleibt die Frage, ob es gelingt, die zentralen Bereiche in die Wohlstandszonen zu inkludieren, also in der Fläche Ordnung herzustellen, und den Rest zu exkludieren. Es steht aber außer Frage, dass an diesen neuen ‚imperialen Barbarengrenzen‘ der Krieg endemisch wird, nämlich in Form von Pazifizierungskrieg aus dem Zentrum in die Peripherie hinein und in Form von Verwüstungskrieg aus der Peripherie ins Zentrum. […] Dann entstehen an den Grenzen Europas jene Gefällestrukturen, die typisch sind für imperiale Machtformen. Deshalb werden wir lernen müssen, die Kategorie des Imperiums in Zukunft […] vielmehr als eine alternative Ordnungskategorie des Politischen, nämlich als Alternative zur Form des Territorialstaates“ zu denken.[22] Damit spricht Münkler lediglich offen aus, was implizit im europäischen Verfassungsvertrag, der Sicherheitsstrategie und im European Defence Paper angelegt ist.

Krieg als innere Sicherheit: Die Kolonialtruppen des EU-Imperiums

Der Westen muss also bereit sein, so Münkler, „sich auf bewaffnete Pazifizierungen ganzer Regionen einzulassen.“[23] Dies erfordert eine beträchtliche Umstrukturierung des Militärs und zwar in zwei Richtungen. Einmal will man die „Streitkräfte zu flexibleren, mobilen Einsatzkräften umgestalten.“ (ESS: S. 12) Die Aufstellung der in kürzester Zeit einsetzbaren EU-Battlegroups folgt dieser Logik, da sie zum Ziel haben, eine Ausbreitung globalisierungsbedingter Armutskonflikte so rasch wie möglich wortwörtlich zu bekämpfen: „Das Battlegroups-Konzept ist die konzeptionelle und strukturelle Umsetzung des ‚Out of Area‘-Konzepts der EU. Es dient der Verbesserung der Handlungsfähigkeit der EU in Krisen, die – ohne ein militärisches Engagement – drohen, sich auszuweiten oder außer Kontrolle zu geraten.“[24]

Der zweite Aspekt leitet sich direkt aus der Erkenntnis ab, dass künftig der dauerhaften „Stabilisierung“ (Kontrolle) eine ebenso große Bedeutung zukommt, wie dem eigentlichen militärischen Sieg, wie u.a. die US-amerikanischen Probleme in Afghanistan und im Irak zeigen. Hierfür schlägt Mary Kaldor vor, dass sich die „Streitkräfte dahingehend umorientieren müssen, daß sie zu gemischt militärischen und polizeilichen Einsätzen befähigt werden. Solche Einsätze, bei denen es um die Erzwingung von Normen geht, werden sich nicht ohne den Gebrauch von Gewaltmitteln abspielen.“[25] In einer für Javier Solana verfassten Studie präzisierte Kaldor ihre Vorstellungen wie diese westlichen Protektoratstruppen auszusehen haben. Sie plädiert dort für den Aufbau einer zivil-militärischen Truppe aus 10.000 Soldaten und 5.000 Zivilisten (Verwaltern), die künftig unter der operativen Führung des Militärs die anvisierten EU-Protektorate organisieren soll.[26]

Aus Sicht der Neuen Krieger kommt dem Westen – oder noch besser der EU – ähnlich der Polizei im Inland ein legitimes Gewaltmonopol zu. Nur so könne die Ordnung aufrechterhalten und der „Sturz ins Chaos“ verhindert werden, Krieg wird zu einer Frage der inneren Sicherheit umdefiniert: „So wie in einem demokratischen Rechtsstaat hinter jedem Gesetz im Fall der Regelverletzung auch ein Polizist stehen muss, der das staatliche Gewaltmonopol durchzusetzen hat, so bedarf auch eine multilaterale, auf Frieden, Demokratie und Menschenrechte verpflichtete Weltordnung der Macht, die diese Werte zu schützen bzw. durchzusetzen vermag.“[27] Westliche Kriege sind also nicht mehr die Fortsetzung der Interessensdurchsetzung mit anderen Mitteln, sondern es geht anscheinend um „Normen“ und „Werte“, sie sind der selbstlose Ausdruck für „eine neuartige postnationale Politik des militärischen Humanismus, […] des Einsatzes transnationaler Militärmacht mit dem Ziel, der Beachtung der Menschenrechte über nationale Grenzen hinweg Geltung zu verschaffen.“[28] Das European Defence Paper fordert bereits unverhohlen militärische Einsätze zur Einhaltung „universell akzeptierter Normen und Werte“ und den „Stabilitätsexport zur Sicherung und Stärkung fundamentaler Normen und Freiheiten.“ Generell ziele europäische Außenpolitik auf „die Stärkung einer regelbasierten internationalen Ordnung.“ (siehe Tabelle [nur im PDF]).

Da diese Weltordnung aber primär westlichen Profitinteressen verpflichtet ist, sind diese Forderungen nach vermehrten Militäreinsätzen nichts anderes als die moralische Bankrotterklärung der selbsternannten Neuen Krieger.

Zwei Seiten einer Medaille: Globalisierung und Krieg

Indem die Ausweitung und Absicherung der neoliberalen Weltwirtschaftsordnung zur Grundvoraussetzung für die Bekämpfung der Armut in der Dritten Welt wie auch der Abwehr von Bedrohungen erhoben wird, werden Ursache und Wirkung auf perfide Art und Weise verdreht und der Bock zum Gärtner gemacht.

Damit wird gleichzeitig systematisch die Sicht auf die eigentliche Ursache so genannter Globalisierungskonflikte verstellt, die sozioökonomische Desintegration als Folge neoliberaler Politik. In diesem Kontext muss dem unmittelbaren Zusammenhang von Armut (Neoliberalismus) und Krieg (fehlgeschlagene Staaten) das Hauptaugenmerk gelten.[29] Selbst neue Studien der Weltbank kommen zu dem Schluss, dass das Ausmaß von Armut der bei weitem einflussreichste Risikofaktor für die Eskalation von Konflikten in der Dritten Welt darstellt.[30]

Wer also „Sicherheit“ und „Staatlichkeit“ herbeibomben will, um Länder anschließend so lange unter die Schirmherrschaft westlicher Protektorate zu stellen, bis sie neoliberalen Spielregeln gehorchen, perpetuiert damit lediglich den Teufelskreis aus Armut und Gewalt. Genau das ist aber die Praxis, die sich hinter dem beschönigenden Begriff des „Stabilitätsexports“ verbirgt.[31] Exportiert werden hiermit mehr Armut, mehr Leid und weitere Konflikte, die es wiederum militärisch zu „befrieden“ gilt, womit sich alles Gefasel, westlichen Interventionen lägen humanitäre Erwägungen zugrunde, als Heuchelei entlarvt.
Dennoch zeigen weder die USA noch Europa auch nur die leiseste Bereitschaft, die neoliberalen Spielregeln der Globalisierung – die Ausbeutung der Dritten Welt durch die Industriestaaten – zu ändern und verweigern damit bewusst einem Großteil der Weltbevölkerung ein menschenwürdiges Leben. Deshalb verwundert es auch nicht weiter, dass zunehmend militärische Mittel zur Aufrechterhaltung und „Befriedung“ (Kontrolle) benötigt werden, um die Folgen dieser Entscheidung in Form eskalierender Konflikte zu bekämpfen: „Die Mächte der kapitalistischen Ordnung versuchen die Unordnung, die in der Reproduktionsstruktur des globalen Systems vor allem durch die Ökonomie erzeugt und durch den Markt externalisiert wird, unter Einsatz politischer und militärischer Macht zu beseitigen.“[32]

Deshalb ist es dringend notwendig, die augenblicklich dominierende Bedrohungsanalyse vom Kopf auf die Füße zu stellen (siehe Schaubild 2 [nur im PDF]). Dies ist auch aus sicherheitspolitischer Sicht geboten, da die westliche Kriegs- und Ausbeutungspolitik tatsächlich zur Folge hat, dass vermehrt versucht wird sich mit Hilfe des Terrorismus und/oder mittels Massenvernichtungsmitteln zur Wehr zu setzen. Eine effektive Lösung globalisierungsbedingter Konflikte kann somit nur erreicht werden, wenn nicht militärisch Symptome bekämpft, sondern an den Ursachen angesetzt wird. Die Schlussfolgerung hieraus kann deshalb nur lauten, dass einzig die konsequente Abkehr vom neoliberalen Projekt, beispielsweise mit einem bedingungslosen Schuldenerlass als einem ersten sinnvollen Schritt, das sicherheits- wie auch entwicklungspolitische Gebot der Stunde darstellt.

Jürgen Wagner ist geschäftsführender Vorstand der Tübinger Informationsstelle Militarisierung (IMI) e.V. (www.imi-online.de) und Mitherausgeber des in Kürze beim VSA-Verlag erscheinenden Buches „Welt-Macht-EUropa: Die Europäische Union auf dem Weg in weltweite Kriege“.

Anmerkungen

(1) In den USA läuft derselbe Prozess ab. Vgl. Wagner, Jürgen: Partner oder Gegner?, IMI-Studie 2004/01.
(2) Vgl. Brand, Ulrich: Globalisierung als Projekt und Prozess, in: AUSDRUCK – Das IMI-Magazin (Februar 2004), S. 3-7.
(3) Roberts, Susan/Secor, Anna/Sparke, Matthew: Neoliberal Geopolitics, in: Antipode, Vol. 35, No. 5 (2003), S. 886-897, S. 887.
(4) Vgl. z.B. Stiglitz, Joseph: Die Schatten der Globalisierung, Berlin 2002; Goldberg, Jörg: Globalisierung und Armut, in: Blätter 7/2004, S. 884-886; und Chang, Ha-Joon: Kicking Away the Ladder: The „Real“ History of Free Trade, FPIF, Special Report, December 2003.
(5) Serfati, Claude: Militarismus: der bewaffnete Arm der Globalisierung, in: Christian Zeller (Hg.): Die globale Enteignungsökonomie, Münster 2004, 21-59, S. 39.
(6) Serfati 2004, S. 24.
(7) Pöcher, Harald: Globalisierung: Die Herausforderung des 21. Jahrhunderts, in: ÖMZ 2/2006, S. 181-186, S. 184f.
(8) „Die neuen Kriege werden von einer schwer durchschaubaren Gemengenlage aus persönlichem Machtstreben, ideologischen Überzeugungen, ethnisch kulturellen Gegensätzen, sowie Habgier und Korruption am Schwelen gehalten.“ Vgl. Münkler, Herfried: Die neuen Kriege, Reinbeck 2002, S. 16. Siehe auch Kaldor, Mary: Neue und alte Kriege: organisierte Gewalt im Zeitalter der Globalisierung, Frankfurt am Main 2000.
(9) Münkler 2002, S. 135.
(10) Köhler, Horst: Wirtschaftliche Entwicklung und Sicherheit, Rede auf der Münchner Sicherheitskonferenz, 11.02.2005.
(11) Thumann, Jürgen R.: Interrelation of Economic Development and Security, Rede auf der Münchner Sicherheitskonferenz, 12.02.2005. Hervorhebung JW.
(12) Köhler 2005.
(13) Münkler 2002, S. 227.
(14) Cameron, Fraser: Europas neue Sicherheitsstrategie, in: Internationale Politik, 1/2004, S. 39-50, S. 42.
(15) Cooper, Robert: The Post-Modern State, in: Leonard, Mark (ed.): Re-Ordering the World, London 2002, S. 11-20, S. 18.
(16) Cooper 2002, S. 16.
(17) Roberts u.a. 2003, S. 893.
(18) Alan Posener: Empire Europa, in: Internationale Politik (Januar 2006), S. 60-67, S. 60, 67.
(19) Ulrich Menzel: Wenn die Staaten verschwinden, taz, 30.8.03.
(20) Kaldor 2000, S. 211.
(21) Herfried Münkler: Das imperiale Europa, Die Welt, 29.10.04.
(22) Alte Hegemonie und Neue Kriege: Herfried Münkler und Dieter Senghaass im Streitgespräch, in: Blätter 5/04, S. 539-552, S. 549f.
(23) Münkler 2002, S. 221.
(24) Kempin, Ronja: Frankreich und die EU-Battlegroups, SWP-Diskussionspapier, Stand 17.05.04.
(25) Kaldor 2000, S. 198. Ähnlich die ÖMZ: „Der Soldat wird dabei beispielsweise sowohl als Krieger als auch Diplomat und Sozialarbeiter sein müssen. Dies macht Soldaten zu unschätzbaren Helfern im Kampf gegen Armut und Unterdrückung.“ Vgl. Pöcher 2006, S. 185.
(26) Vgl. Christoph Marischka: Menschliche Sicherheit, in: AUSDRUCK – Das IMI-Magazin (April 2005), S. 3-9.
(27) Ulrich Menzel: Comeback der drei Welten, in: Blätter 12/2003, S. 1453-1462. Vgl. auch Münkler, Herfried: Angriff als beste Verteidigung? Sicherheitsdoktrinen in der asymmetrischen Konstellation, in: Internationale Politik und Gesellschaft, 3/2004, S. 22-37, insb. S. 23.
(28) Ulrich Beck zit. in Münkler 2002, S. 223.
(29) Willett, Susan: Development and security in Africa, in: Geoff Harris (ed.)., Achieving Security in Sub-Saharan Africa, Pretoria 2004, S. 101-120. S. 108.
(30) World Bank: Breaking the Conflict Trap: Civil War and Development Policy, Oxford 2003. Vgl. hierzu ausführlich Haydt, Claudia/Pflüger, Tobias/Wagner, Jürgen: Globalisierung und Krieg, Hamburg 2003, S. 7-25.
(31) Vgl. bspws. Haydt, Claudia: Effektiver Kolonialismus, in: AUSDRUCK – Das IMI-Magazin (Februar 2006), S. 15-17.
(32) Mahnkopf, Birgit: Neoliberale Globalisierung und Krieg, in: Blätter 1/2004, S. 47-57, S. 52.

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