IMI-Standpunkt 2005/064 - in: Junge Welt, 11.10.2005

»In Melilla steht die EU-Asylpolitik auf dem Prüfstand«


von: Interview: Peter Wolter mit Tobias Pflüger | Veröffentlicht am: 12. Oktober 2005

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Marokko gibt offenbar internationalem Druck nach und holt Flüchtlinge aus der Wüste. Beklemmende Bilder am Stacheldraht. Ein Gespräch mit Tobias Pflüger

F: Marokkanisches Militär hat die Afrikaner in die Wüste zurückgetrieben, die in der spanischen Exklave Melilla Asyl suchen wollten. Wissen Sie, wie ihre Lage ist?

Dazu konnten wir hier in Melilla nichts erfahren. Der Druck der internationalen Öffentlichkeit hat Marokko aber offenbar dazu gebracht, die in die Wüste geschickten Menschen wieder einzusammeln. Auch UN-Generalsekretär Kofi Annan soll sich für sie eingesetzt haben.

Die Situation an der Grenze ist jedenfalls erschreckend. Ich stehe gerade vor dem fünf Meter hohen Grenzzaun: Da sieht man noch blutbeschmierte Bekleidungsfetzen, die bei dem Versuch der Flüchtlinge, den Stacheldraht zu überwinden, hängenblieben.

F: Was machen die spanischen Behörden mit den Flüchtlingen, die es geschafft haben?

Da gibt es offenbar zwei Verfahren. Die Grenze nach Marokko besteht aus einem Doppelzaun, zwischen denen so etwas wie ein Grenzstreifen ist. Flüchtlinge, die nur den ersten Zaun überwunden haben, werden von den spanischen Behörden sofort wieder nach Marokko zurückgeschickt. Wenn jemand aber auch den zweiten Zaun überwunden hat, kommt er in ein Auffanglager innerhalb Melillas. Diese Leute sind aber ebenso in Gefahr, später zurückgeschickt zu werden.

Wir haben uns das Lager angeschaut, es scheint dort einigermaßen korrekt abzulaufen. Allerdings verlangt die Genfer Flüchtlingskonvention, daß nachgefragt werden muß, ob die Leute Asyl beantragen wollen. Das geschieht offenbar nur selten, die Offiziellen haben sich um eine vernünftige Antwort herumgedrückt.

F: Sie sind als Abgeordneter des Europaparlaments in Melilla – welche Möglichkeiten sehen Sie, wie Europa diesen Menschen helfen könnte?

Das wichtigste ist zunächst, daß die Tragödien öffentlich gemacht werden, die sich hier abspielen. Dies ist ja eine der Grenzen, die die Wohlstandsinsel Europa vom verarmten Afrika trennen. Zweitens müssen wir darauf pochen, daß die Genfer Flüchtingskonvention auch hier eingehalten wird – es gibt schließlich Mindeststandards. Ich will drei von ihnen aufzählen: Es muß gefragt werden, ob der Flüchtling Asyl beantragen will; es darf kein Militär eingesetzt werden; es darf nicht geschossen werden. Das sind Selbstverständlichkeiten, die hier aber nicht eingehalten werden.

Ich habe den Eindruck, daß sich die spanischen Behörden sehr gut mit denen Marokkos verstehen. Man hat sich wohl auf Arbeitsteilung geeinigt, wobei den Marokkanern der Drecksjob überlassen wurde.

F: Durch das Flüchtlingsdrama sind die beiden spanischen Exklaven Melilla und Ceuta wieder ins öffentliche Bewußtsein geraten. Beide Orte sind Überreste des spanischen Kolonialismus – wäre es nicht Zeit, daß die EU auf deren Rückgabe drängt?

Natürlich. Die EU schafft sich diese Probleme selbst, weil sie immer wieder darauf Rücksicht nimmt, daß einige Staaten ihre nachkolonialen Gebiete nicht zurückgeben wollen.

Hier steht die EU-Asylpolitik insgesamt auf dem Prüfstand, hier werden Tote einfach in Kauf genommen. Es wäre Aufgabe der EU, effektiv die Armut zu bekämpfen – statt dessen wird die Militärkooperation mit afrikanischen Ländern vereinbart.

F: Allein die Übergabe dieser Exklaven an Marokko würde wohl nichts daran ändern, daß weiterhin viele Afrikaner in den reicheren Norden wollen …

Das ist das Grundproblem. Die EU müßte dafür sorgen, daß es diesen Ländern besser geht. Dann bräuchte auch niemand mehr vor unerträglichen Lebensbedingungen zu fliehen.

F: Das erfordert aber eine andere Einstellung zur sogenannten Dritten Welt. Es müßte nicht nur die Entwicklungspolitik geändert werden, sondern auch die Außen- und Wirtschaftspolitik …

Die EU-Politik insgesamt muß sich grundlegend ändern. Es müssen Gelder in die Armutsbekämpfung und nicht in die Rüstung fließen.

* Tobias Pflüger ist parteiloser Abgeordneter des Europaparlaments, er wurde auf der Liste der PDS gewählt. Mit einer Gruppe von fünf weiteren Abgeordneten informierte er sich am Montag in der auf marokkanischem Territorium gelegenen spanischen Exklave Melilla über die Lage der Flüchtlinge aus Afrika.