IMI-Analyse 2005/022 - in: AUSDRUCK (August 2005)

Haitis Realität in den neuen Kriegen


von: Christoph Marischka | Veröffentlicht am: 9. August 2005

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Reisewarnung.

Ende Juni 2005 aktualisierte das Auswärtige Amt seine Reisewarnung für den Karibik-Staat Haiti. Darin heißt es:

„Nach schweren innenpolitischen Unruhen und der Einführung einer Interimsregierung begleiten internationale Truppenkontingente den Prozess der inneren Stabilisierung. Dennoch ist die Sicherheitslage angespannt. Es kommt nach wie vor zu bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen Aristide-Anhängern und der haitianischen Polizei bzw. der internationalen Schutztruppe und zu Schießereien zwischen kriminellen Banden. Auch mit gewaltsamen Angriffen auf öffentlichen Plätzen muss gerechnet werden.

Insbesondere die Sicherheitslage in Port-au-Prince ist schlecht. Bewaffnete Banden kontrollieren dort mehrere Stadtgebiete, vor allem die großen Elendsviertel am Rande der Hauptstadt. Aber auch Teile der Innenstadt sind betroffen.

Die hohe Gewaltkriminalität hat in der letzten Zeit noch zugenommen. So kommt es häufig zu bewaffneten Überfällen, auch in den vormals vergleichsweise sicheren Wohngebieten. Auch die Zahl der Entführungen in Port-au-Prince hat erheblich zugenommen. Verantwortlich hierfür sind bewaffnete Banden, die es auf Lösegelder abgesehen haben. Auch Ausländer sind hiervon betroffen.“

Obwohl das Auswärtige Amt also von einer „Stabilisierung“ spricht, räumt es ein, dass die Gewalt gegenwärtig zunimmt. Diese Einschätzung entspricht den Berichten der „Ärzte ohne Grenzen“ (Médecins Sans Frontières, MSF), nach denen die Menschen in der Hauptstadt Port-au-Prince noch nie in ihrem Leben einer solchen Gewalt und Unsicherheit ausgesetzt waren. Täglich gäbe es Schießereien und in den ersten vier Monaten diesen Jahres wurden über 300 Menschen mit Schussverletzungen allein von Mitgliedern der MSF versorgt – die Hälfte von ihnen waren Frauen und Kinder.[1] Verletzte Kombattanten meiden hingegen gewöhnlich das Krankenhaus. Am 5. Juli 2005 appellierte die Organisation erneut an alle bewaffneten Gruppen, „die Sicherheit von Zivilpersonen zu gewährleisten und sicherzustellen, dass Verwundete sofort Zugang zu medizinischer Versorgung erhalten.“ Die Gewalt habe in den letzten Wochen dramatisch zugenommen und ginge auch von der nationalen Polizei und den UN-Truppen aus: „Einige Verletzte berichten, sie seien während Einsätzen der Polizei von Haiti (HNP) oder der UN-Mission für Haiti (United Nations Stabilization Mission in Haiti MINUSTAH) verwundet worden“.[2] Wenige Tage zuvor, am 29. Juni, hatten UN-Soldaten und Polizisten im Stadtteil Bel-Air eine Operation durchgeführt, die zur Freilassung einer Mitarbeiterin des Internationalen Roten Kreuzes führte. Nach UN-Angaben wurden dabei sechs „Kriminelle“ getötet und vier verletzt.[3]

Ein „Massaker“ in Cité Soleil?

Eine ähnliche Operation fand am Tag nach dem Appell der MSF statt. Ziel war es diesmal, den Bandenchef Emmanuel Willmer im größten Slum der Stadt, Cité Soleil, festzunehmen. Dieser Stadtteil gilt als Hochburg der Aristide-Anhänger, in dem verschiedene bewaffnete Gruppen aktiv sind. Einige davon haben sich in erster Linie gegen die Übergriffe der nationalen Polizei organisiert, andere verfolgen eindeutig kriminelle Ziele. Knapp 400 UN-Soldaten unter libanesischer Führung umstellten um 3 Uhr morgens mit Unterstützung der nationalen Polizei und gepanzerten Fahrzeugen das Viertel und drangen in den Slum ein. Auf sie sei das Feuer eröffnet worden, welches sie erwiderten. Dabei wurden einige Angreifer („Kriminelle“) verletzt und getötet. Es sei nicht beabsichtigt gewesen, jedoch möglich, dass dabei Zivilisten umkamen. Auf Seiten der UN-Kräfte gab es nach offiziellen Angaben keine Verluste.

Eine Delegation des San Francisco Labour Council, einer Gewerkschaftsorganisation, war gerade in der Stadt, um sich über die humanitäre Lage und die Rechte der Arbeitnehmer zu informieren, als ihnen von Augenzeugen ein „Massaker“ geschildert wurde. Sie interviewten die Augenzeugen, sahen sich den Ort des Gefechts an und befragten sowohl Betroffene vor Ort, als auch Offizielle von MSF, dem Internationalen Roten Kreuz und Sprecher der UN-Mission zu dem Vorfall. In ihrem abschließenden Bericht schlussfolgern sie: „Die Beweise für ein Massaker durch UN-Militär in Cite Soleil sind umfangreich und zwingend“.[4]

In dem Bericht werden Augenzeugen zitiert, nach denen die UN-Soldaten in Häuser, eine Schule und eine Kirche gefeuert hätten. Nachdem Tränengasgranaten in Gebäude geworfen wurden, sei von den gepanzerten Fahrzeugen aus das Feuer auf die heraus rennenden Menschen eröffnet worden. Ein Helikopter hätte außerdem auf das Haus von Willmer und in die Nachbarschaft geschossen. Die Delegation besuchte am Tag nach der UN- Operation die Nachbarschaft und bestätigte sowohl die Einschusslöcher in den oben genannten Gebäuden, als auch Leichen, die offensichtlich Unbeteiligten zuzuordnen waren. Eine Frau wurde von hinten erschossen, als sie ihr Kind auf dem Arm hatte und auch der Pfarrer der Kirche war tot. Alle anwesenden Anwohner bestätigten die Aussagen, dass sie von UN-Soldaten erschossen worden seien. Auch auf der Beerdigung einiger Opfer, welche die Delegation besuchte, gab es keine Hinweise, die dem widersprochen hätten.

Unabhängig von der Delegation berichtet der Leiter der Ärzte ohne Grenzen in Port-au-Prince, Ali Besnac, dass am 6. Juli gegen Mittag 27 Personen mit Schussverletzungen das Krankenhaus erreichten. Drei Viertel von ihnen seien Frauen und Kinder gewesen, die berichteten, sie wären in Cité Soleil von UN-Soldaten angeschossen worden.

Die Sprecher der UN-Mission dementierten mehrfach, dass aus den gepanzerten Fahrzeugen heraus geschossen wurde. Auch sei nur ein Helikopter in großer Höhe an der Operation beteiligt gewesen, der keine Munition abgefeuert habe. In einer Pressemitteilung vom 25. Juli versichern sie, dass alle erforderlichen Maßnahmen ergriffen würden, um das Risiko ziviler Opfer bei ihren Operationen zu mindern“ und: „MINUSTAH wird alle ernstzunehmenden Beschuldigungen wegen unangemessener Gewaltanwendungen untersuchen“. Dies ist offensichtlich nicht ehrlich. In der selben Pressemitteilung[5] wird vermutet, dass Willmer mit vier seiner Anhängern bei dem Gefecht erschossen worden sei. Identifiziert wurde er jedoch nicht, dann das sei nicht Aufgabe von Soldaten. Deshalb war in den früheren UN-Pressemitteilungen auch nur von einigen getöteten „Kriminellen“ die Rede. Eine Identifikation der Opfer ist jedoch unabdingbar, wenn man sich vergewissern will, ob keine Zivilisten umkamen.

Gewaltpolitik

Die Gewalt in Haiti begann im Herbst 2000 zu eskalieren, nachdem die Partei des Präsidenten Aristide die Wahlen fälschte. Aristide wäre ohnehin gewählt worden, denn er war sehr populär. Insofern sind die Wahlfälschungen schwer verständlich, denn sie führten verschiedene oppositionelle Gruppen zusammen, die ein Ende des Regimes Aristides und seiner Partei Lavalas forderten, die vor vielen Jahren aus einer Grasswurzel-Bewegung hervorging, mittlerweile aber weitgehend korrumpiert war. Die Geberländer froren ihre Entwicklungsgelder ein, was Aristide, der sich bei denselben Staaten durch eine nur zögerliche Umsetzung neoliberaler Anpassungsprogramme unbeliebt gemacht hatte, weiter unter Druck setzte. Die Opposition verharrte bei ihrer „option zero“ – dem Abtritt der gesamten Regierung und die Einsetzung einer Übergangsregierung – wodurch eine interne Lösung erschwert wurde und forderte im Frühjahr 2001 die ins Exil geflohenen Mitglieder der Militärjunta auf, nach Haiti zurückzukehren und sich ihnen anzuschliessen.[6] Demonstrationen schlugen in der folgenden Zeit immer häufiger in Gewalt um und Aristide unterstützte bewaffnete Jugendgangs in den Slums, so genannte „Chimères“, die sich Auseinandersetzungen mit der bewaffneten Opposition lieferten.

Die offiziellen Feiern zum 200. Jahrestag der Unabhängigkeit in Gonaíves am 1.1. 2004 und die dementsprechende Medienöffentlichkeit wurde von der Opposition genutzt, um, nun auch vereint mit den Studenten, einen Aufstand zu beginnen. Eine offizielle Armee gab es nicht, nur fünftausend bewaffnete Polizisten versuchten sporadisch der zunehmend bewaffneten Rebellenbewegung Widerstand zu leisten. Im Februar war die Stadt erobert und von dort aus wurden weitere Ortschaften besetzt und durch Abschneiden der Versorgungsrouten eine Hungersnot im Norden provoziert, während im Süden die Eroberung der Hauptstadt vorbereitet wurde. Landesweit nahmen Plünderungen und Brandschatzungen zu, bis sich die USA, Kanada und Frankreich dazu entschlossen, Druck auf Aristide auszuüben und ihn zum Verlassen des Landes aufzufordern, was er am 29. Februar 2004 tat. Nach eigenen Angaben ist er von US-Soldaten verschleppt worden.

Am selben Tag entsandten die USA, Frankreich und Chile Soldaten nach Haiti, kanadische folgten. Ihr Einsatz wurde vom UN-Sicherheitsrat nachträglich mandatiert und auf drei Monate veranschlagt. Unter dem Druck der Militärmächte wurde im März eine Übergangsregierung zusammengestellt und im Juni löste die UN-Mission MINUSTAH unter brasilianischer Führung die Soldaten aus den USA, Frankreich und Kanada ab.

UN-Mission als Bürgerkriegspartei

Die Rebellen, die zunehmend von Louis-Jodel Chamblain und Guy Philippe, Exil-Militärs aus der dominikanischen Republik, geführt wurden, haben ihr Ziel nicht erreicht. Zwar erreichten sie durch ein Eskalieren der Gewalt, dass die internationale Gemeinschaft eingriff und die bisherige Regierung absetzte, sie reagierte aber nicht nach dem erwarteten Muster, den Führern der größten bewaffneten Gruppen hohe Posten in der Übergangsregierung zuzusprechen. Lediglich innerhalb der nationalen Polizei wurden leitende Stellen an Angehörige der früheren Militärdiktatur vergeben. Diese kämpfen nun vor Allem gegen die Anhänger Aristides und andere bewaffnete Banden. Es sind allerdings auch schon mehrere Fälle bekannt geworden, in denen Polizisten an rein kriminellen Entführungen und Banküberfällen beteiligt waren.

Die UN Mission, deren Mandat erst zwei Wochen vor dem „Massaker“ Anfang Juli durch den UN-Sicherheitsrat personell aufgestockt und verlängert wurde, ist mittlerweile schlicht Bürgerkriegspartei geworden. Die Menschen in Haiti sehen die UN-Soldaten zunehmend als Besatzungsarmee. Die Ablehnung gegen sie wächst mit jeder weiteren Schiesserei. So ist es kaum verwunderlich, dass sie bei der Stürmung des Slums angegriffen wurden. Offensichtlich hatte die MINUSTAH- Führung damit auch rechnen müssen. Dafür spricht nicht nur, dass sie von Anfang an mit über 400 Soldaten und Polizisten sowie gepanzerten Fahrzeugen anrückte, sondern, dass auch sonst kaum einer ihrer Einsätze ohne Schusswechsel und Tote endet.

Neue Kriege und die Verantwortung zum Schutz

„MINUSTAH-Kräfte zielten nicht auf Zivilisten bei der Operation am 6. Juli, aber die Natur solcher Missionen in dicht bevölkerten urbanen Gelände ist so, dass immer ein Risiko ziviler Verluste besteht“[7] erklärten die Sprecher von MINUSTAH. Das Szenario erinnert an Somalia 1993, als US-Truppen sich mit UN-Mandat in den Bürgerkrieg einmischten und zunehmend versuchten, durch gezielte Verhaftungen und Erschießungen eine neue politische Ordnung zu installieren. Bei der geplanten Verhaftung Aidids in einem von ihm kontrollierten Stadtteil wurden die US-Soldaten von hunderten zivilen und bewaffneten Somalis angegriffen und es entwickelte sich ein stundenlanger Häuserkampf, der hunderten Somalis, einem malaiischen und 18 US-Soldaten das Leben kostete.[8]

In Ridley Scotts Film „Black Hawk Down“ wurde das Gemetzel mit Unterstützung des Pentagons verfilmt, um zu visualisieren, wie das künftige globale Vietnam aussehen wird. Diese „Neuen Kriege“ zeichneten sich dadurch aus, dass sie nicht zwischen Staaten ausgetragen werden, sondern von (anderen) Akteuren, die wirtschaftlich vom Krieg profitieren, dass Rechtlosigkeit herrscht, zwischen Soldaten und Zivilisten kein Unterschied gemacht wird, die meisten Toten Zivilisten sind und die Androhung eines Massakers zum politischen Mittel wird. Mary Kaldor, eine der BegründerInnen dieser Theorie, beschreibt in ihrem Buch „neue und alte Kriege“ durchaus einleuchtend, wie von bewaffneten Gruppen gezielt die Zivilbevölkerung terrorisiert wird, um ethnische Identitäten zu konstruieren und gegeneinander auszuspielen oder internationale Akteure zum Eingreifen zu bewegen.

Daraus zieht sie jedoch völlig falsche Schlüsse, die in die „Menschliche Sicherheitsdoktrin für Europa“, den so genannten Barcelona-Report, eingingen. Hier wird die EU aufgefordert, eine neue zivil-militärische[9] Eingreiftruppe aufzustellen, um die Sicherheit von Individuen in aller Welt notfalls militärisch zu schützen und Recht durchzusetzen. Solche Einsätze würden eher an den Ansatz der Polizei erinnern, heißt es in dem Dokument, es ginge dann darum, mit möglichst wenigen Verlusten einzelne Menschen zu verhaften. Damit verfolgt sie dieselbe Agenda wie die UN-Reform, die das staatliche Souveränitätsprinzip und das damit eigentlich einhergehende Verbot militärischer Interventionen zugunsten einer „Verantwortung zum Schutz“ aufgeben wird. Dies würde das ausufernde militärische und koloniale Engagement der Großmächte völkerrechtlich legitimieren und zu weiteren „Neuen Kriegen“ führen. Die zugrunde liegende Argumentation, Staaten würden ihre Souveränität verlieren, wenn sie für ihre Bevölkerung keinen Schutz mehr bieten können, bedeutet umgekehrt, dass wer die Regierung stürzen will, nur die eigene Bevölkerung massakrieren muss, um internationales Engagement zu provozieren (oder zu unterbinden). So erhält der Terror doch noch seinen Sinn.

Sind dann die ausländischen Einheiten im Land, werden sie zunehmend selbst zur Bürgerkriegspartei und, vor Allem wenn sie nicht einfach die Interessen ihres Staates verfolgen, zum Spielball der skrupellosesten Gewaltverbrecher. So argwöhnt die MINUSTAH-Führung, dass das Massaker an Zivilisten erst am Folgetag von der angegriffenen Gruppe selbst durchgeführt wurde, um es der UN zuzuschreiben und sie langfristig zum Abzug zu bewegen. Dies ist zwar (auf Grund der vielen Zeugenaussagen) unwahrscheinlich aber denkbar.

Die Realität der neuen Kriege widerlegt alle Erwartung, dass Soldaten als Weltpolizei agieren könnten und dies die Sicherheit der Individuen in der Welt erhöhen könnte. Wer sich auf die Strategie der Warlords einlässt und Ziviles und Militärisches vermischt, der macht die Menschen zu Zielscheiben. Wer zwischen souveränen und nicht-souveränen Staaten und legitimen und nicht-legitimen Armeen unterscheidet, heizt diese „Neuen Kriege“ an.

Anmerkungen:

[1] Stellungnahme zur humanitären Situation in Haiti von Dr. Christophe Fournier (MSF) an den UN-Sicherheitsrat vom April 2005, http://www.doctorswithoutborders-usa.org/news/haiti.cfm
[2] Haiti: MSF fordert den Schutz der Zivilbevölkerung, http://www.msf.ch/News.29.0.html?&L=1&tx_ttnews%5Btt_news%5D=1337&tx_ttnews%5BbackPid%5D=5&cHash=4a393accbb
[3] MINUSTAH Press Release (PIO/PR/146/2005): MINUSTAH`s Security Operation in Bel-Air, http://www.un.org/Depts/dpko/missions/minustah/pr146e.pdf
[4] http://globalresearch.ca/index.php?context=viewArticle&code=20050714&articleId=693
[5] UN News Center: In robust fight against Haiti’s gangs, UN peacekeepers seek to avoid civilian casualties, http://www0.un.org/apps/news/story.asp?NewsID=15135&Cr=Haiti&Cr1=
[6] Astrid Nissen: Haiti nach Aristide: Konturen der Krise, Brennpunkt Lateinamerika Nr 4/2004
[7] UN News Center: In robust fight against Haiti’s gangs, UN peacekeepers seek to avoid civilian casualties, s.o.
[8] de.wikipedia.org
[9] Die zivile Komponente kommt dabei sehr kurz. Unter dem 5000 zivilen Einsatzkräften gegenüber 10000 Soldaten sind v. A. Polizisten, Zoll- und Steuerbeamte sowie Richter und Rechtsexperten zu verstehen.