IMI-Standpunkt 2005/048 - in: Graswurzelrevolution, Nr. 301, Sommer 2005

Nein zur EU-Verfassung bringt erst mal nichts: Jetzt die Debatte offensiver von links nutzen!


von: Markus Pflüger | Veröffentlicht am: 28. Juli 2005

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Ich habe mich gefreut, als das NON des französischen Referendums bekannt wurde und danach die Ablehnung der EU-Verfassung aus den Niederlanden. Mit großen Teilen der globalisierungskritischen, Antiatom- und Friedensbewegung war auch ich gegen diesen neoliberalen Verfassungsvertrag und die falschen und unkritischen Argumente der EurophorikerInnen zu Felde gezogen, hatte versucht aufzuklären über die darin festgeschriebenen Aspekte wie Aufrüstungsverpflichtung, Rüstungsagentur, weltweite Kriegseinsätze, Entdemokratisierung, Privatisierung öffentlicher Dienste und die EURATOM-Fortsetzung (vgl. GWR 300).

En bloc wollten die EU-MachthaberInnen den Neoliberalismus in Verfassungsrang erheben, getarnt durch schöne, aber nutzlose Menschenrechtskonventionen und eine leere Grundrechts-Charta. Das kapitalistische Konkurrenzprinzip soll mit der EU-Verfassung weiter privilegiert werden, um ungestört sein grausames Experiment als kollektive Bestimmung fortzusetzen.

Durch inhaltsleere Worte wie „Europa tut Deutschland gut“ oder Lügen wie „Seit über 50 Jahren: Frieden in Europa“ oder „Die Strukturen der Europäischen Union werden demokratischer, transparenter und effizienter“ soll „die Bevölkerung über die Bedeutung und den Inhalt der Verfassung“ informiert werden (so die Bundesregierung zum Info-Truck zur Europäischen Verfassung).

Europa, das heißt Zusammenwachsen der Menschen und offene Grenzen – allerdings nur für bestimmte EuropäerInnen, aber dafür auch für Devisengeschäfte, Waffen und Atommüll.

Flüchtlinge werden weiterhin zu Tausenden an den europäischen Außengrenzen ertrinken, ersticken oder erschossen. Wenn sie „Glück“ haben und in der Festung Europa ankommen, werden sie mit rassistischen Sondergesetzen ausgegrenzt und von Gesellschaft, Medien und Politik diskriminiert. Wenn sie für das System verwertbar sind, als „Billigst- bis Kostenlos-Arbeitskräfte“ ausgebeutet. Das Gros der Flüchtlinge wird in Abschiebelagern und -knästen interniert und bald abgeschoben; sie werden einigen ökonomischen Partnerländern wie dem Iran oder der Türkei für ihre Folterpraxis übergeben, falls sie sich nicht schon vorher selbst umbringen oder „aus Versehen“ im Flugzeug ersticken. In Zukunft wollen PolitikerInnen wie Schily und Blair dem Problem durch billigere und der Öffentlichkeit entzogene Lager z.B. in Afrika zuvorkommen. „In einer der Fühl-Boxen kann man unter anderem ein Haus ertasten. Erraten Sie, für welches europäische Grundrecht das steht? Es symbolisiert die in der europäischen Verfassung verbriefte Achtung des Privatlebens und der Familie.“ (www.bundesregierung.de)

„Europa in schlechter Verfassung“, so das Motto der Kampagne für ein ziviles, solidarisches, soziales und ökologisches Europa von unten. Ob es eine „gute Verfassung“ geben könnte, war dabei kein Thema. Man propagierte ein „Ja zu einem anderen Europa“, das erschreckte weniger – zu groß der Druck des Pro-Europa-Mainstreams. Denn Europa kritisieren, heißt ein Tabu brechen. Europa, das ist doch Fortschritt, das Überwinden von Feindschaften und Grenzen seit 1945. Und jetzt ist es endlich an der Zeit – 60 Jahre nach dem Ende des Nationalsozialismus könnte Deutschland unter dem Deckmantel eines starken geeinten Europas wieder in Führung gehen (Fischers Kerneuropa) – also überall „mitkriegen“.

Obrigkeitshungrige Deutsche scheinen wieder ein starkes und diesmal gutes Oben zu brauchen. Europa als tröstende Ersatzutopie für die Neoliberalen von CDU bis FDP, SPD und Grün sowie PDSlerInnen wie MdEP Sylvia-Yvonne Kaufmann. Die taz stimmt in diesen Chor ein und sieht Europa als einziges Bollwerk gegen eine unsoziale Globalisierung (1). Schwere Zeiten für obrigkeitsferne oder systemüberwindende Alternativen. Kein Wunder, dass Großteile der sozialen Bewegungen nicht offensiv für ein anderes „Europa“ kämpfen – was diesen Namen dann gar nicht mehr oder nur noch als geographische Bezeichnung bräuchte. Das Höchste der Auflehnung war ein Nein zu dieser Verfassung – ein Abwehrkampf, um das noch größer werdende Übel zu bremsen. Ein Nein zur gescheiterten parlamentarischen Pseudodemokratie und eine Überwindung des eurozentristischen Denkens kamen so gut wie nicht vor. Stattdessen Angst, als rechte/r EuropagegnerIn missverstanden zu werden und von der falschen Seite Beifall zu bekommen.

Das linke Nein hatte es überall schwer. Die JournalistInnen boykottierten es, die Medien interpretierten das Nein als rechtes, nationales, unzufriedenes und schlecht informiertes Nein (als sprächen sie über sich). Ein Pro-EU-Verfassungsmobil der Bundesregierung verbreitete dazu Hochglanz und Phrasen, die JournalistInnenmehrheit wetterte gegen GegnerInnen und lobte den europäischen Integrationsprozess. Qualifizierte Auseinandersetzungen mit den Inhalten und der Bedeutung dieser Verfassung gab es dagegen kaum. Die ParlamentarierInnen, die die Verfassung abnickten, kannten sie kaum. Entsprechend dem Parlamentariermotto „mit schlechtem Wissen, aber ohne Gewissen“ stimmten sie dem zu, was selbst nach Theorien der parlamentarischen Demokratie eigentlich Akt des Volkes ist, das seine Regierung konstituiert, nicht umgekehrt.

KritikerInnen durften sich stattdessen wie ungezogene und dumme Kinder beschimpfen lassen, die sich gegen ihre selbstverständliche Entmündigung wehren. Hauptargument der VerfassungsbefürworterInnen: Europa ist gut, und GegnerInnen sind dumm. Die Diskussion um die EU-Verfassung in Deutschland war ein Lehrstück des parlamentarischen „Demokratie“verständnisses. Denn die Mehrheit regte sich ob dieser Entmündigung und Verdummung nicht auf. Worüber auch, sie wurden nicht informiert und gefragt. Die Verantwortung hatten sie an der Wahlurne abgegeben – die gewählten VertreterInnen werden es schon richten. Dass die Möglichkeiten der Mitbestimmung noch symbolischer und wirkungsloser werden, dass direktdemokratische Beteiligungsformen in dieser EU nicht existieren, ist kein Thema.

In Frankreich und den Niederlanden gab es für die weitere Demokratiereduzierung immerhin ein Referendum. Nachdem die BürgerInnen aber nicht abgestimmt hatten wie vorgesehen, legte die beleidigte Arroganz der Mächtigen die restlichen Referenden in anderen EU-Staaten auf Eis (2). „Wer ist schuld an dieser Niederlage?“, fragte der Deutschlandfunk. „Es gibt viele Schulden“, antwortet eine italienische grüne EU-Parlamentarierin und versuchte, das Nein in den „Niederlagen“ zu deuten und zu interpretieren, warum die Menschen „falsch“ abstimmten.

Parlamentarische Demokratie heißt wohl, dass die Antworten der „Volksabstimmung“ oder besser „Volksabnickung“ schon feststehen, eigentlich war nur ein Ja erlaubt.

Jetzt wurde nach dem doppelten „Unfall“ (EU-Kommissar Günter Verheugen, SPD) auf dem Krisengipfel der EU am 17./18.6.05 eine „Denkpause“ verordnet – um Plan B voranzubringen, d.h. bessere Propaganda und ohne Verfassung und Referenden die Verträge so ändern, dass die Entscheidungskompetenz weg von den BürgerInnen hin zu den Regierungen verlagert wird. Das ermöglicht, die neoliberale EU-Politik inklusive einer hochgerüsteten, global agierenden Kriegsmacht EU anders und ungestörter zu forcieren. Ein „politisches Umdenken“, das viele Europaabgeordnete, VerfassungsgegnerInnen wie -befürworter jetzt anmahnen, erscheint dabei unwahrscheinlich bzw. geht in eine noch üblere Richtung.

Dieses Nein in Frankreich und den Niederlanden und die daraus entstandene Krise ist trotzdem eine Chance, denn es bedeutet Sand im Getriebe der neoliberalen Europapolitik, die durch die Verfassung als Gesamtpaket festgeklopft und verstärkt werden sollte.

Gewonnen wurde damit vor allem Zeit und eine inhaltliche Debatte, die die Politikerklasse vermeiden wollte. Statt der PolitikerInnen lesen jetzt die BürgerInnen die Verfassung Europas.

Wie stehen AnarchistInnen zu solchen „Volksabstimmungen“?

Ein französischer Anarchist meinte zu mir vor dem Referendum, da gehe auch er mal wählen. Das anarchistische Lager war ansonsten uneins. Jedenfalls mischten auch sie in der entstandenen Debatte mit. Und diese gilt es auch hier zu nutzen, um deutlich zu machen: 60 Jahre nach Kriegsende ist in und durch Europa ein anderer Krieg, der gegen die Armen und Ausgebeuteten, weiterhin in vollem Gange. Ein sauberes und hochgerüstetes Ghetto für die reichen EuropäerInnen ändert an der weltweiten Ungleichheit nichts. Versöhnung und Überwindung von Grenzen und Feindschaften enden immer noch an der imaginären Grenze von Geld, Passbesitz und Staatsangehörigkeit. Gegen dieses Europa muss Widerstand organisiert werden. Eine weltweite vertikale Vernetzung der Menschen und des Widerständigen darf in Zeiten der Globalisierung und multinationaler Konzerne dabei weder vor Nationalstaaten noch vor Europa halt machen. Wahrscheinlich wäre ein anderes Europa kein Europa mehr. An solch grenzüberwindenden Utopien und konkreten Alternativen gilt es zu arbeiten. Ein Gegengipfel in Luxemburg schien das anzustreben, unter dem Motto „fight old europe, abolish capitalism“ war „Herrschaft bekämpfen und Alternativen schaffen“ vom 16.-18.6. angesagt (GWR 297).

Bleibt die berechtigte Frage, was dies neben radikalen Sprüchen konkret heißt. Es liegt an uns allen, neben Aufklärungsarbeit und Kritik gegen dieses Europa auch Alternativen zu beginnen: durch Unterstützung von Aktionen und Kampagnen gegen Militarisierung, gegen Sozialabbau, gegen Flüchtlingslager und -knäste, oder gegen die Atomlobby mit dem Euroreaktor EPR, konkret durch Beteiligung am europaweiten Widerstand z.B. gegen das Atommülllager Bure in Frankreich (GWR 296ff.). Zum Ende des Gipfels in Brüssel am 18.6.05 gab es dazu jedenfalls einen motivierenden Aufruf vom luxemburgischen EU-Ratspräsident Juncker: „Man darf Europa nicht in diesem Zustand lassen.“ Nun denn.