Pressebericht - in: Schwäbisches Tagblatt, 05.04.2004

Hoffen auf eine Volksbewegung

Viele Tübinger unter den 140000 Kundgebungsteilnehmern in Stuttgart

von: Stephan Gokeler / Schwäbisches Tagblatt / Pressebericht / Dokumentation | Veröffentlicht am: 5. April 2004

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Mit den Tübinger Demonstranten zog auch der Verdi-Vorsitzende Frank Bsirske von der Stuttgarter Liederhalle auf den Schlossplatz. Bild: Gokeler

Eine gewaltige Menschenmenge, bei der von Jugendlichen bis Rentnern alle Altersgruppen nahezu gleichmäßig vertreten waren, setzte sich um 11 Uhr von den Sammelpunkten aus zu einem Sternmarsch in Bewegung. Für die Tübinger Teilnehmer diente die Liederhalle als Ausgangspunkt, und bereits auf den Zufahrtswegen dorthin stauten sich viele Busse. Nicht alle schafften es, pünktlich in die Stadt zu kommen. 1200 Busse aus ganz Baden-Württemberg und den benachbarten Bundesländern waren vom Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB), von Attac, Sozialverbänden und anderen Kritikern der gegenwärtigen Politik von Bundesregierung und CDU/FDP-Opposition gechartert worden, viele blieben zunächst im Stau vor den Toren der Landeshauptstadt stecken. Zahlreiche Demonstranten, darunter viele Senior(inn)en kamen aus Reutlingen und dem Zollernalbkreis. Insgesamt, schätzt Rolf Zabka vom DGB, stammen 2100 Teilnehmer(innen) aus der Region Tübingen und Neckaralb.

In Stuttgart wurde das Warten auf die Nachzügler von der Band „Fool’s Garden“ überbrückt, bis es gegen 13 Uhr dann mit der zentralen Kundgebung losging. Als Hauptredner wetterte der Verdi-Bundesvorsitzende Frank Bsirske gegen die Agenda 2010 der Bundesregierung, die „keine Lösungen bietet, sondern Teil des Problems ist“. Noch schlimmer fand Bsirske das Wechselspiel zwischen den Vorschlägen der Opposition und den Wirtschaftsfunktionären, das unter dem Motto „Wir haben noch lange nicht genug umverteilt, jetzt geht es erst richtig los“ stehe. Vier Forderungen richtete Bsirske an die Politik: Arbeit dürfe nicht arm machen, die gesetzliche Rente müsse auskömmlich sein, das Bildungssystem müsse ohne Klassenschranken offen sein für lebenslanges Lernen und die starken Schultern in der Gesellschaft müssten mehr Lasten tragen als die schwächeren.

„Das kann der Beginn einer wirklichen Volksbewegung für soziale Gerechtigkeit werden“, hofft der Verdi-Chef. Eine Hoffnung, der auch die Tübinger Demonstrationsteilnehmer applaudierten. Viele waren auf eigene Faust angereist. „Das kann so einfach nicht weitergehen, dass immer die kleinen Leute zur Kasse gebeten werden und die Bosse immer weniger Steuern zahlen“, fand die Mutter einer fünfköpfigen Familie aus Tübingen, die mit dem Zug und einem eigenen Plakat gegen Sozialabbau nach Stuttgart gekommen war.

Volker Harms, altgedienter GEW-Gewerkschafter aus Tübingen, freute sich über die „klare Position, die die Gewerkschaften eingenommen haben“. Er findet es „moralisch schäbig, wie gerade die besonders hart rangenommen werden, die persönlich eh schon schlecht dran sind“. Aus dem Dilemma, dass die Opposition noch viel radikaler in diese Richtung tendiere, zieht er für sich den Schluss: „Man könnte ja auch mal links wählen.“ Sollte es damit politisch nicht zu einer Regierungsmehrheit reichen, sei außerparlamentarische Opposition oder Oppositionspolitik im Parlament eine Alternative.

Eine Meinung, die auch Tobias Pflüger teilt. Der PDS-Kandidat für die Europawahl hat sich über Bsirskes Rede geärgert. „Wer regiert gerade eigentlich“, habe er sich bei dessen Argumenten gefragt, die sich in erster Linie gegen die Opposition gerichtet hätten. Viel deutlicher hätte nach seinem Geschmack die Regierungspolitik kritisiert werden müssen – eine Position, die er bei den Rednern von kirchlichen Gruppen viel deutlicher wiedergefunden habe.

Quelle: http://www.tagblatt.de/?artikel_id=34