Quelle: Informationsstelle Militarisierung (IMI) e.V. - www.imi-online.de

Dokumentation - Neues Deutschland, 20.10.2003

Aber wenige machen es

Aktivisten der Internationalen Solidaritätsbewegung ISM in den israelisch besetzten Gebieten

Peter Schäfer / Neues Deutschland / Dokumentation (10.10.2003)

2001 fing alles an. Aus mehreren Einzelinitiativen in Palästina bildete sich die Internationale Solidaritätsbewegung (ISM). Inzwischen sind ständig etwa 50 »Internationale« in den besetzten Gebieten im Westjordanland und im Gaza-Streifen.

Stille liegt über Balata. Die israelische Armee hat über das Flüchtlingslager bei Nablus eine Ausgangssperre verhängt. Heute ist sie nicht sehr strikt. Die Soldaten dulden die freiwilligen Helfer der medizinischen Dienste auf der Straße. Anne Wagner, eine Deutsche, hilft ihnen. »Die Sanitäter bewegen sich in einem sehr gefährlichen Umfeld«, erzählt die 33-Jährige. »Sie riskieren ihr Leben, um die Gesundheitsversorgung der Bevölkerung aufrecht zu erhalten. Ich leihe ihnen meine Stimme und mein Aussehen.« Als Schutz dienen ihre blonden Haare, sagt sie. »Die Soldaten halten sich zurück, wenn jemand wie ich dabei ist.« Eine Garantie sei das aber nicht.

Blonde Haare sind kein Garantieschein

Anne Wagner erinnert sich. Sie saß mit Sanitätern am Straßenrand und machte Pause. Jemand hatte Brote vorbeigebracht. Etwa zwanzig Meter von der Gruppe entfernt saß ein Junge und aß ebenfalls. »In dem Moment näherte sich ein einzelner Jeep, auf den ein anderer Junge einen Stein warf«, erzählt sie. »Der Jeep hielt an, ein Soldat schoss auf den Jungen, verfehlte ihn aber. Der Schütze legte nun auf den essenden Jungen an und traf ihn ins Gesicht.« Ein Kamerad gratulierte dem Soldaten. »Es war eine Jagdsituation«, beschreibt es Anne.

Die Aktivistin weiß, dass den Soldaten nicht befohlen wird, sich menschenfeindlich zu verhalten. »Aber einigen Soldaten ist das eben egal«, sagt sie. »Denn sie wissen, dass sie dafür nicht zur Rechenschaft gezogen werden.« Erlebnisse wie dieses führen die eigene Hilflosigkeit vor Augen, machen Angst, frustrieren. Trotzdem sind zurzeit 13 Männer und Frauen aus zahlreichen Ländern in Nablus, um das Schicksal der Bewohner wenigstens ein bisschen zu erleichtern. Sie alle sind Mitglieder der Internationalen Solidaritätsbewegung (ISM). Sie schaufeln Straßensperren beiseite, ketten sich an Olivenbäume, die abgeholzt werden sollen, bringen Kinder zur Schule und Dialysepatienten durch Militärsperren.

Größere Aufmerksamkeit erlangte ISM erst seit der Wiederbesetzung Ramallahs Ende März 2002. Die Armee zerstörte den Amtssitz Yasser Arafats, eine Panzergranate hatte bereits die letzten Rückzugsräume getroffen. Da betrat eine ISM-Gruppe das Trümmerfeld. Mit erhobenen Händen schritten die Aktivisten langsam an den Gewehrläufen vorbei. »Sie haben über unsere Köpfe geschossen«, erinnert sich Neta Golan heute, »aber wir gingen einfach weiter.« Wenige Tage später besetzten israelische Truppen Betlehem. 200 Zivilisten, Militante und Mönche flüchteten sich in die Geburtskirche. ISM-Mitglieder schafften es durch ein Ablenkungsmanöver auch dort, den Belagerungsring zu durchbrechen.

Vorbereitet werden sie auf solche Situationen in Kursen. »Ihr könnt atmen, daran müsst ihr immer denken«, erklärt Neta Golan, eine Israeli, beim ISM-Intensivkurs in Beit Sahur bei Betlehem. »Tränengas gaukelt euch nur vor, dass ihr keine Luft kriegt.« Zwölf interessierte Neulinge im Alter von 23 bis 35 Jahren erwerben in zwei Tagen das Rüstzeug, um die Besatzungstruppen zu behindern. Dazu gehören juristische Informationen zu Festnahme und Abschiebung. Welche gesetzlichen Möglichkeiten hat ein Polizist, was darf die Armee? Welche Waffen kommen zum Einsatz und wie kann man sie erkennen?

Greta Berlin ist 62 Jahre alt und Unternehmensberaterin in Los Angeles. Jetzt erklärt sie die Wirkung von Stahlkugeln und zeigt ihre Blessuren. Viele der Neuen haben Protesterfahrung. Überhaupt wissen die meisten ganz genau, was sie erwartet. »Gewaltfreie Konfliktlösung interessiert mich schon lange. Jetzt will ich das auch einmal testen«, erklärt der Engländer Alex Blake. »Viele reden darüber, aber wenige machen es.« Hat er Angst? »Ich denke lieber nicht darüber nach, was passieren kann«, gibt der 34-Jährige zu. »Aber ich denke, dass sich Schüsse auf Internationale nicht als effektive Strategie für Israel erwiesen haben.«

Im März dieses Jahres wurde die ISM-Aktivistin Rachel Corrie (23) im Gazastreifen von einer israelischen Planierraupe überfahren. Die US-Amerikanerin wollte die Zerstörung eines palästinensischen Hauses verhindern. Als »bedauernswerten Unfall« bezeichnete ein Armeesprecher den Tod Rachel Corries. »Wir haben es hier mit einer Gruppe von Protestlern zu tun, die sich sehr unverantwortlich verhielten und alle in Gefahr brachten.«

Nur drei Wochen später wurde Brian Avery das Gesicht zerrissen. Thomas Hurndall traf ein Schuss ins Gehirn, er liegt heute noch im Koma. In allen diesen Situationen waren die Aktivisten klar zu erkennen. Palästinensische Militante oder »Terroristen« waren nicht in der Nähe.

Der Tod Corries und die Schüsse sind im ISM-Unterricht unausgesprochen stets gegenwärtig. »Haltet immer Sichtkontakt zum Fahrer«, heißt es. »Er muss wissen, dass ihr vor ihm steht.« Das klingt beruhigend und baut auf den Glauben an das Gute im Menschen. Nur als die Sprache auf scharfe Munition kommt, wird es still im Raum. Susanna aus Australien hält sich die Hände vor den Mund und schaut entsetzt. Vielleicht wird ihr erst jetzt der Ernst ihres Vorhabens bewusst.
Abschrecken lassen sich die Aktivisten vom Vorgehen der israelischen Armee offenbar nicht. Ihre Zahl hat seit dem Frühjahr sogar noch zugenommen. Lukas kommt aus der Heimatstadt Rachel Corries. »Wir aus Olympia sind im Moment zu viert«, erklärt er stolz. Wie alle anderen werden sie nach ihrer Rückkehr zu Hause Vorträge halten und von ihren Erfahrungen in einem besetzten Land berichten.

Immer ein paar Schritte weiter

Und wie reagieren die Soldaten auf die Anwesenheit der Ausländer? »Das ist von Mensch zu Mensch verschieden«, erzählt Anne Wagner. »Ich versuche zu deeskalieren, halte immer Sichtkontakt mit ihnen und rede pausenlos auf sie ein.« Auf diese Weise hat die Sozialwissenschaftlerin einem Menschen vielleicht das Leben gerettet. »Wir fanden einen Verletzten in der Altstadt. Auf dem Weg zur Klinik mussten wir allerdings eine Straße kreuzen, die von der Armee kontrolliert wird.« Anne Wagner gelang es, zu dem Soldaten Kontakt aufzunehmen, sie bewegte sich langsam auf ihn zu. »Immer wenn er das Gewehr senkte, ging ich ein paar Schritte weiter. Nach einer Weile war ich nahe genug, und die Helfer konnten mit dem Verletzten hinter mir die Straße überqueren.« An ihre Angst denkt sie in solchen Momenten kaum. »Ich bin vorsichtig«, sagt sie. »Das schützt natürlich nicht davor, mit Absicht verletzt zu werden, aber vor versehentlichen Schüssen schon.«

Sie begreift sich und ihre Gefährten als Ersatz für eine offizielle internationale Truppe, deren Entsendung sie zur Stabilisierung der Lage und zum Schutz der Bevölkerung für notwendig hält. Bis dahin sieht sie keine Alternative zu ISM. »Das Kernproblem der Menschen hier ist, dass die Besatzung alle Bereiche des Lebens dominiert«, erklärt sie. »Ich will dazu beitragen, dass die Palästinenser die Kontrolle über ihr Leben zurückerlangen.«

Original: http://www.nd-online.de/artikel.asp?AID=43154&IDC=2

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