IMI-Standpunkt 2003/092

Zwang zur Aufrüstung durch EU-Verfassung


von: Uwe Reinecke | Veröffentlicht am: 10. September 2003

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Am 3.Sep. 2003 durfte das EU-Parlament über die EU-Verfassung debattieren. Der deutsche Außenminister warnte das Parlament zuvor davor, an dem Entwurf des Konventspräsidenten Valéry Giscard d’Estaing etwas ändern zu wollen.
„Entweder so oder gar keine EU-Verfassung.“ verlautete es herrisch aus dem Auswärtigen Amt in Berlin.
Die Gründe für diese Regierungsposition liegen klar auf der Hand. Das soll folgender Artikel zeigen.

Vorbemerkung:

Die Verfassung hat etwa 260 Seiten und ist in vier Abschnitte unterteilt. Hinzu kommt noch ein Anhang von Zusatzvereinbarungen, die ebenfalls Verfassungsrang erhalten.

Der Abschnitt IV ist hier zu vernachlässigen. Dort geht es um Übergangs- und Schlussbestimmungen.

Die Anhänge haben es eher verdient, dass man sich näher mit ihnen befasst.
So gibt es ein „Protokoll zur Änderung des EURATOM-Vertrags“. Darin werden ein paar Änderungen am EURATOM-Vertrag vorgenommen, die rein formal erscheinen, aber bewirken, dass der bestehende Vertrag in die Verfassung integriert wird. Da die „zivile“ Nutzung des Atoms direkt etwas mit militärischer Nutzung zu tun hat, ist klar, dass Deutschland als uneingeschränktes Mitglied der EU und der NATO indirekt zur Atomstreitmacht gemacht wird (beachte auch deutsches TORNADO-Geschwader unter NATO-Befehl mit Atombewaffnung) und der „zivile Atom-Ausstieg“ nur Farce ist.

In Abschnitt II werden die Grundrechte festgeschrieben. Über diesen Abschnitt kann man sagen, dass zum Beispiel Kinderrechte festgeschrieben werden. Diese EU-Kinderrechte bleiben aber hinter der UN-Erklärung zu den Rechten der Kinder zurück, da Kinder nicht als frei handelnde Subjekte, sondern nur als zu schützende Objekte genannt werden.

Ferner sollte Beachtung finden, dass beispielsweise im Abschnitt III die EU auf dem „Grundsatz einer offenen Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb“ baue. Gemeint ist hiermit unzweideutig die Festlegung auf ein kapitalistisches Wirtschaftssystem unter den neoliberalen Globalisierungsbedingungen. Diese Wirtschaftsform kann sich erfahrungsgemäß mittel- und langfristig nur mir Repression nach innen (z.B. Telefonüberwachung, Asyl) und Krieg nach außen über (dem privatisierten) Wasser halten. Eine andere Wirtschaftsform wäre somit verfassungswidrig. Erinnert sei daran, dass das Grundgesetz sehr wohl ein anderes als das kapitalistische Wirtschaftssystem zulässt.

Zum Wesentlichen:

Militärisch – und damit für Rot-Grün – interessant sind allerdings besonders der erste und der dritte Abschnitt.

In Artikel 40 Absatz 1 (Abschnitt I) wird unverhohlen festgelegt, dass die „Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik integraler Bestandteil der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik ist. Sie sichert der Union die auf zivile und militärische Mittel gestützte Fähigkeit zu Operationen.“
Militärische Operationen sind in der universitären MedizinerInnen-Ausbildung übrigens unbekannt.

“Auf diese (Fähigkeit zu Operationen; U.R.) kann die Union bei Missionen (Gott mit uns? U.R.) außerhalb der Union zur Friedenssicherung, Konfliktverhütung und Stärkung der internationalen Sicherheit … zurückgreifen.“

Im Artikel 40 Absatz 3 heißt es u.a.: „… Die Mitgliedstaaten verpflichten sich, ihre militärischen Fähigkeiten schrittweise zu verbessern.“
Damit hat die Verpflichtung zum Aufrüsten Verfassungsrang. Das ist wohl einmalig in der weltweiten Geschichte des Verfassungsrechts. Abrüstung wäre verfassungswidrig (Gemeinsame Abrüstung ist nach einstimmigen Beschlüssen möglich. Dazu später mehr.)

Aufrüstung ist jedenfalls ein quasi einklagbares Grundrecht der Rüstungsindustrie.

Die Erfahrungen der letzten Jahrzehnte lassen erwarten, dass deutsche Regierungen beim „schrittweisen Verbessern ihrer militärischen Fähigkeiten“ „Siebenmeilenstiefel“ überziehen werden.

Im Absatz 3 des Artikel 40 heißt es dann weiter:
„Es wird ein Europäisches Amt für Rüstung, Forschung und militärische Fähigkeiten eingerichtet, dessen Aufgabe es ist, den operativen Bedarf zu ermitteln und Maßnahmen zur Bedarfsdeckung zu fördern, …“
Das Amt soll ausdrücklich nicht zur Rüstungskontrolle, zum Rüstungsstopp oder gar zur Abrüstung eingesetzt werden. Aufgabe ist die Aufrüstung. Artikel 212 regelt Näheres dazu.

Ferner legt der Absatz 2 des Artikels 40 fest, dass zwar einerseits eine „gemeinsame Außen- und Verteidigungspolitik“ angestrebt wird, aber andererseits, dass Einzelstaaten ihre Verpflichtungen innerhalb der NATO unabhängig von den Mehrheitsverhältnissen in der EU wahrnehmen.

Das heißt, dass die EU-Staaten, die nicht in der NATO organisiert sind, die NATO-Politik mittragen müssen. Das führt letztlich zu einer „Quasi-Mitgliedschaft“ aller EU-Staaten in der NATO. Die EU als ziviler Staatenzusammenschluss existiert nicht mehr und ist zu einem Militärbündnis neben der NATO verkommen, wobei die NATO-Politik Verfassungsrang hat und von einer Minderheit der Nicht-NATO-Staaten innerhalb der EU nicht verhindert werden kann.
“Über militärische Einsätze der EU entscheidet der Ministerrat“, regelt Artikel 40 Absatz 4. Das EU-Parlament bleibt also außen vor. Das BVerfG in Karlsruhe hatte zwingend vorgeschrieben, dass der Bundestag über jeden einzelnen Auslandseinsatz der Bundeswehr zu entscheiden habe. Dieses Recht des Parlaments wird EU-weit gestrichen. Absatz 8 regelt lediglich, dass das EU-Parlament zu den „wichtigsten Aspekten“ regelmäßig zu hören sei und über die Entwicklung der „grundlegenden Weichenstellungen der gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik auf dem Laufenden gehalten“ wird. Artikel 205 Absatz 1 präzisiert dieses „Parlamentsrecht“ in der geschilderten Weise. Absatz 2 geht dann richtig weit in den Rechten des Parlaments: „Das Europäische Parlament kann Anfragen an den Ministerrat und den Außenminister der Union stellen.“ Ob diese Anfragen ausführlich-inhaltlich, zügig und vor allem wahrheitsgemäß beantwortet werden müssen, ist nicht geregelt.

In Artikel 40 Absatz 6 sichern sich die EU-Staaten, die „anspruchsvolle Kriterien in Bezug auf die militärischen Fähigkeiten erfüllen und die im Hinblick auf Missionen mit höchsten Anforderungen untereinander festere Verpflichtungen eingegangen sind“, eben dieses Recht zu und verhindern damit, dass andere Mitgliedstaaten ein solches (sprich kriegerisches) Vorgehen be- oder gar verhindern können.

Artikel 41 Absatz 1 formuliert: „Die Union bildet einen Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts.“ Diese Gewissensberuhigung erscheint notwendig, da in der Verfassung mehrfach auf militärische Einsätze außerhalb der EU eingegangen wird. Dabei wird deutlich, dass es bei solchen militärischen Maßnahmen nicht um Menschenrechte und Demokratie, sondern um Einfluss und Wirtschaftsinteressen entgegen dem Recht geht.

Die Artikel 42 und 195 legen fest, dass die „EU gemeinsam im Geiste der Solidarität handelt.“ Wie die EU angesichts der fortschreitenden Entsolidarisierung der Sozialsysteme diesem Anspruch gerecht werden will, bleibt unerwähnt. Vielmehr meint der Entwurf, dass die Regierungen sich politisch und militärisch untereinander „solidarisch“ verhalten.

Das erkennt man, wenn man die folgenden Artikel liest. So zum Beispiel Artikel 198 Absatz 1: „Verlangt eine internationale Situation (Wer hat sie wie verursacht? U.R.) ein operatives Vorgehen der Union, so erlässt der Ministerrat die erforderlichen Europäischen Beschlüsse.

Absatz 2: Diese Europäischen Beschlüsse sind für die Mitgliedstaaten bei ihren Stellungnahmen und ihrem Vorgehen bindend.“ Das ist die versprochene Solidarität.
Artikel 210 nun erwähnt die angesprochene Möglichkeit der verfassungskonformen Abrüstung: „Die in Artikel 40 Absatz 1 vorgesehenen Missionen, bei deren Durchführung die Union auf zivile und militärische Mittel zurückgreifen kann, umfassen gemeinsame Abrüstungsmaßnahmen, …“

Absatz 2 stellt klar: „Der Ministerrat erlässt die Europäischen Beschlüsse über Missionen des Absatzes 1 einstimmig; In den Beschlüssen sind Ziel und Umfang der Missionen sowie die für sie geltenden allgemeinen Durchführungsbestimmungen festgelegt.“ Das bedeutet unzweideutig, dass (einseitige) Abrüstungsmaßnahmen oder Abrüstungsverträge eines EU-Staates mit einem Nicht-EU-Staat verfassungswidrig sind, wenn diese Maßnahmen nicht vom EU-Ministerrat einstimmig bestätigt wurden.

Ferner ist folgender Aspekt aus Artikel 210 Absatz 1 interessant: „Die in Artikel 40 Absatz 1 vorgesehenen Missionen, bei deren Durchführung die Union auf zivile und militärische Mittel zurückgreifen kann, umfassen …, Aufgaben der militärischen Beratung und Unterstützung.“ Auf einschlägige Erfahrungen aus der Geschichte bezüglich der militärischen Beratung und Unterstützung wird hier zurückgegriffen (Chile).

Der eben zitierte Absatz legt danach fest, dass die zitierten Missionen „Aufgaben der Konfliktverhütung und der Erhaltung des Friedens sowie Kampfeinsätze im Rahmen der Krisenbewältigung einschließlich Frieden schaffender Maßnahmen und Operationen zur Stabilisierung der Lage nach Konflikten“ ebenfalls umfassen.
Wenn in diesem Zusammenhang das Wort Frieden auftaucht, ist erfahrungsgemäß an Krieg zu denken.

Schlussbemerkung:

Die Einzelstaaten geben mit dieser Verfassung verstärkt Kompetenzen an die EU ab. Das führt zur Entmachtung der Parlamente, da die Aufgaben in der EU nicht vornehmlich von den Landesparlamenten ins EU-Parlament vergeben werden. Alle tatsächlichen Entscheidungen sollen im Ministerrat oder in der EU-Kommission fallen. Dass Parlament ist lediglich zu informieren und zu hören.

Die EU-Verfassung liest sich als Reader des Oberkommandos einer EU-Armee.
Alles ist abgestimmt auf die militärischen Fähigkeiten der EU. Ein paar BürgerInnenrechte stören die Armeen nicht, sondern verbessern die Stimmung in der EU und sind damit auch den Militärs nützlich. Daher werden sie in der Verfassung festgeschrieben. Proteste gegen Militarisierung der zivilen Gesellschaft werden mit Repressiv-Maßnahmen nach innen (verstärkte Zusammenarbeit der Polizeien) klein gehalten.

Die Bundesregierung hat in den letzten Jahren massiv in diese Richtung gearbeitet. Daher wird der Druck auf die EU-ParlamentarierInnen verständlich. Sieht sich die deutsche Regierung doch am Ziel, deutsche Außenpolitik ungeniert (weil international eingebunden) als Militärpolitik zu betreiben.

Während des Jugoslawienkrieges wurde der Bundesregierung Verfassungsbruch vorgeworfen. Diesem Vorwurf und den damit verbundenen Bauchschmerzen kann man mit Hilfe dieser Verfassung bei den nächsten Kriegen entgehen.