IMI-Analyse 2003/031 - in: Forum Wissenschaft

Deutschland als militärischer Global Player

Die neuen "Verteidigungspolitischen Richtlinien"

von: Tobias Pflüger | Veröffentlicht am: 1. August 2003

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Am 21. Mai 2003 präsentierte Peter Struck die neuen „Verteidigungspolitischen Richtlinien“ (VPR) der Öffentlichkeit. Mit diesem Papier nimmt Deutschland endgültig Abschied von seinem Konzept der Verteidigungsarmee. Die VPR bilden die verbindliche Grundlage für einen grenzenlosen Einsatz der Bundeswehr ohne Einschränkungen bezüglich der Ziele, der Dauer und der möglichen Intensität von Einsätzen. Es findet sich lediglich die Festlegung, dass außer „Rettungsoperationen“ alle anderen Einsätze nur zusammen mit Verbündeten durchgeführt werden sollen.

Globaler Akteur mit globaler Einsatzradius

Deutschland ist durch konventionelle Streitkräfte nicht mehr gefährdet und auch „ein existenzbedrohender Angriff auf das Bündnis als ganzes (…) ist unwahrscheinlich.“ (81) . Wenn es in Deutschland nichts zu verteidigen gibt, dann gilt zukünftig das Motto: „Verteidigung geographisch nicht mehr eingrenzen“! (5) Somit wird zum Programm erhoben, was Struck bereits früher erklärte: die Verteidigung Deutschlands müsse auch am Hindukusch erfolgen. »Out of Area« ist selbstverständlich geworden, immer wieder wird betont, dass der Einsatzradius „über das Bündnisgebiet hinaus“ (9; 72 u.ö.) geht. Der Rahmen für die Bundeswehreinsätze sollen „VN, NATO und EU“ (42) sein, „Grundgesetz und Völkerrecht bilden die Grundlage“ (37). Die Interpretation von Angriffskriegen als Verteidigung, um sie mit dem Grundgesetz kompatibel zu machen, ist schon heute mehr als gewagt, und das Führen von Angriffskriegen im Rahmen von NATO- oder bald auch EU-Strukturen ohne Zustimmung der VN ist sicher nicht völkerrechtskonform. Aber zu viele Skrupel, ob wenigstens die selbst festgelegten „Rahmen“ und „Grundlagen“ zueinander passen, stören nur die „Handlungsfähigkeit“.

Deutschland versteht sich politisch und militärisch als globaler Akteur und tritt als solcher selbstbewusst auf. Deutschland „fällt eine herausragende Rolle und Verantwortung für den künftigen Kurs der NATO zu“ (48). Auch „bei den Beschlüssen der EU zur Ausgestaltung der ESVP [Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik]“ hat Deutschland „eine Schlüsselrolle gespielt“ (50). Interessant ist, dass im Gegensatz zu den letzten VPR von 1992 die deutschen Wirtschaftsinteressen nur an einer Stelle explizit benannt werden. „Aufgrund ihres hohen Außenhandelsvolumens und der damit verbundenen besonderen Abhängigkeit von empfindlichen Transportwegen“ ist die deutsche Wirtschaft sehr „verwundbar“ (27). Andere konkrete Begehrlichkeiten, die militärisch gesichert werden sollen, wie der freie Zugang zu Ressourcen, finden sich in den neuen Richtlinien nur implizit. In den vorhergehenden VPR aus dem Jahr 1992 hatte der damalige Verteidigungsminister Rühe keine Probleme, die Dinge beim Namen zu nennen und „den ungehinderten Zugang zu Rohstoffen und Märkten in aller Welt“ als Aufgabe der Bundeswehr zu beschreiben. Heute verbergen sich solche Ziele hinter dem Einsatz für die „Errungenschaften moderner Zivilisation wie Freiheit und Menschenrechte, Offenheit, Toleranz und Vielfalt.“ Dennoch, die Richtung ist klar: „Um seine Interessen und seinen internationalen Einfluss zu wahren (…) stellt Deutschland im angemessenen Umfang Streitkräfte bereit“. (72)

Ausdrücklich begrüßt wird in den Richtlinien die „Anpassung der NATO an das veränderte sicherheitspolitische Umfeld“ (32), was im Klartext die Umwandlung der NATO in ein Interventionsbündnis meint. Nur so bliebe dem Bündnis seine politisch wichtige Rolle erhalten. „Handlungsfähigkeit“ (33; vgl. 50) ist auch das Schlagwort, unter dem die Herausbildung der Militärmacht EU betrieben wird – das zentrale Anliegen der den neuen Verteidigungspolitischen Richtlinien. Die Bereitschaft zum Einsatz militärischer Mittel ist für Struck „Voraussetzung für die Glaubwürdigkeit“ (37) von Politik.

Bei bewaffneten Einsätzen der Bundeswehr hält sich die Bundesregierung offensichtlich verschiedene Einsatzoptionen- und Konstellationen offen. Mit Ausnahme von „Evakuierungs- und Rettungsoperationen“ (11) sollen militärische Einsätze zwar „nur gemeinsam mit Verbündeten und Partnern im Rahmen von VN, NATO und EU stattfinden“ – das bedeutet aber keineswegs, dass es etwa ein Kampfeinsatz der gesamten NATO und der gesamten EU sein muss. Die Formulierungen der VPR decken durchaus auch z.B. einen Militäreinsatz mit einer multinationalen »Kern-Europa-Truppe« mit den Verbündeten Frankreich, Belgien und Luxemburg, wie sie sich auf dem Brüsseler „Pralinen-Gipfel“ am 29.04.2003 manifestiert hat. Denkbar sind auch Einsätze mit ad hoc-Koalitionen mit ausgewählten Partnern aus EU oder NATO, z.B. im Rahmen bestehender europäischer Korps (Eurokorps, deutsch-niederländisches Korps, deutsch-dänisch-polnisches Korps). Je nach Einsatzregion und Interessen lassen sich auf diese Weise die unterschiedlichsten »Koalitionen der Willigen« zusammenstellen.

Kein Präventivkriegskonzept?

Bezüglich der neuen Form von Kriegen, bei denen darauf geachtet werde, möglichst wenige (sichtbare) Tote zu verursachen, schrieb Die Welt am 20.05.2003: „Die Friedensbewegung hat gesiegt, denn auch das Militär hört jetzt auf ihr Kommando“. Auch für die Vorstellungen der neuen Verteidigungspolitischen Richtlinien einen Tag später hätte sich diese Argumentationsfigur trefflich benutzen lassen, zumindest was den zentralen Punkt des Präventivkriegskonzeptes betrifft, der aus der Schlussfassung der neuen VPR wieder gestrichen wurde. Die Welt schreibt: „Anders als in einem früheren Entwurf wird in den Verteidigungspolitischen Richtlinien (VPR) (…) die Möglichkeit präventiver Militäraktionen nicht mehr betont. (…) In dem 22-seitigen Papier (…) fehlt ein Satz aus dem Entwurf, in dem es hieß, »vor allem« gegenüber nichtstaatlichen Akteuren und Terroristen »können zur politischen Krisenvorsorge komplementäre militärische Maßnahmen zur Abwehr der Bedrohung frühzeitig notwendig werden«“. Jetzt wird deutlich zurückhaltender formuliert: „Zur Abwehr von Bedrohungen sind zudem vor allem gegenüber nicht-staatlichen Akteuren entsprechende zivile und militärische Mittel und Fähigkeiten zu entwickeln.“

Diese Formulierung in den neuen VPR lässt allen Interpretationen Tür und Tor offen. Eine explizite Festschreibung des Präventivkriegskonzeptes ist dies allerdings nicht, und dies kann man durchaus als Beruhigungsmaßnahme für die Gesellschaft, aber auch für Friedensbewegung gewertet werden, aus deren Reihen die absehbare Verankerung des Präventivkriegskonzept in den VPR scharf kritisiert worden war.

Leider distanziert sich der Text der VPR auch an keiner Stelle von einem Präventivkrieg und es liegt nahe, dass das Konzept »vorbeugender Kriege« über den Umweg der „Unterstützung von Verbündeten“ jederzeit realisiert werden kann. Als Kernbereiche von Bundeswehreinsätzen werden „Konfliktverhütung und Krisenbewältigung“ sowie „Unterstützung von Bündnispartnern“ definiert (10). Diese beiden Optionen sind alternativ genannt und es liegt durchaus nahe, dass „multinationale Sicherheitsvorsorge“ (11) im Rahmen von NATO und EU nicht in jedem Fall das Ziel haben muss, schon bestehende Krisen zu bekämpfen (wie auch immer dies militärisch funktionieren soll), sondern bereits einzugreifen, bevor ein konkrete Bedrohung entsteht. Außerdem wird das Konzept der »präventiven Kriegsführung« sowohl im Rahmen der NATO als auch der EU intensiv diskutiert.

Alle bisherigen Warnungen waren offensichtlich sehr berechtigt. Zur Zeit ist ein klares Bekenntnis zu präventiver Kriegsführung vielleicht noch nicht durchsetzbar – weder in der Öffentlichkeit noch juristisch. Die Bundesregierung betreibt derzeit jedoch eine Doppelstrategie, sich einerseits als »Friedensmacht« zu darzustellen, andererseits zeitgleich die Militärmacht Europäische Union auszubauen und die Bundeswehr für weltweite Interventionen zu präparieren.
#zu1 Terrorbekämpfung?

Die Strucksche Bedrohungsanalyse stützt sich auf folgendes Konstrukt: „Vornehmlich religiös motivierter Extremismus und Fanatismus, im Verbund mit der weltweiten Reichweite des internationalen Terrorismus, bedrohen die Errungenschaften moderner Zivilisationen wie Freiheit und Menschenrechte, Offenheit, Toleranz und Vielfalt.“ (19) Dieser Satz nach dem Irakkrieg gelesen zeigt die Doppelbödigkeit westlicher Politik sehr gut auf, wenn man als Subjekt des Satzes z.B. die US-Regierung einsetzt und unter Terrorismus auch Staatsterrorismus versteht. „Zum Schutz der Bevölkerung und der lebenswichtigen Infrastruktur des Landes vor terroristischen und asymmetrischen Bedrohungen wird die Bundeswehr Kräfte und Mittel entsprechend dem Risiko bereithalten.“ (80) Es bleibt völlig offen, was mit asymetrischen (nichtterroristischen) Bedrohungen gemeint sein könnte. Völlig verschiedene politische Entwicklungen werden in den VPR zu einem einzigen Bedrohungsszenario vermischt: „Ungelöste politische, ethnische, religiöse, wirtschaftliche und gesellschaftliche Konflikte wirken sich im Verbund mit dem internationalen Terrorismus, mit der international operierenden Organisierten Kriminalität und den zunehmenden Migrationsbewegungen unmittelbar auf die deutsche und europäische Sicherheit aus.“ (25) Eine solche »Analyse« geht offensichtlich davon aus, Terrorismus ließe sich militärisch bekämpfen, obwohl gerade die Anschläge des 11. September 2001 gezeigt haben, dass einfachste Hilfsmittel und wenige Akteure völlig ausreichen. Es charakterisiert doch gerade das Wesen asymmetrischer Bedrohungen, dass es für die schwächere Seite eine rationale Abwägung ihrer Möglichkeiten darstellt sich direkter Konfrontation weitgehend zu entziehen.

Verhinderung von Proliferation ist ebenfalls kaum militärisch zu erreichen. Im Gegenteil führt die Art der Kriegsführung westlicher Staaten (auch wer keine Atomwaffen hat, kann künftig mit »Mini-Nukes« angegriffen werden) und deren Zielauswahl (Irak, Afghanistan, Jugoslawien, die alle über keine Massenvernichtungswaffen verfügten) dazu, dass es für jeden Staat, der nicht »befreit« werden will, als sehr rationale Vorgehensweise erscheint, sich mit atomaren oder wenigstens biologischen oder chemischen Waffen auszurüsten. Die offensive westliche Militärtaktik treibt damit die Aufrüstungsspirale geradezu weiter voran und schafft mehr Probleme, als sie je wird »lösen« können. Eine solche Eskalation wird bereits einkalkuliert, wenn es heißt, dass die „Grenzen zwischen den unterschiedlichen Einsatzarten … fließend (sind)“ (58). Dies gilt offensichtlich auch trotz oder gerade wegen der eigenen militärischen „Intervention“, denn „eine rasche Eskalation von Konflikten, wodurch ein friedenserhaltender Einsatz in eine höhere Intensität übergeht, ist nie auszuschließen.“ (58)

Struck lobt in seinem Papier erwartungsgemäß „die breite internationale Koalition gegen den Terror“ und sieht sie als „Grundlage für eine effektive Bekämpfung dieser Bedrohung“ (28). Spätestens an der Wahl der Verbündeten wird deutlich, dass mit dem zu bekämpfenden »Terror« verschiedene Formen von Widerstand gegen Staatsziele und mit »Freiheit« eben die Durchsetzung dieser Ziele gemeint ist. So heißt es im Bezug auf Russland explizit: „die gemeinsamen Maßnahmen zur Bekämpfung des internationalen Terrorismus bilden die Grundlage (!) für eine noch engere langfristige Kooperation…“. (34). Das Papier erweckt durchgängig den Eindruck, dass Deutschland und seine Verbündeten Opfer von Bedrohungen sind, die völlig ohne eigenes Zutun entstanden seien.

Ohne öffentliche Diskussion?

Die öffentliche Diskussion um die neuen Verteidigungspolitischen Richtlinien beschränkt sich bisher leider auf zwei Randaspekte: die Schließung von Standorten und die Beibehaltung der Wehrpflicht. Ansonsten verändern sich wesentliche Parameter der deutschen Außenpolitik zwar ganz offen, aber trotzdem ohne öffentliche Diskussion. Genauso wenig öffentliche Beachtung findet bisher die Weichenstellung in Richtung Einsatz der Bundeswehr im Inneren. Formulierungen wie „zusätzliche Anforderungen an die Bundeswehr bei der Aufgabenwahrnehmung im Inland“ und ihr „Zusammenwirken mit den Innenbehörden des Bundes und der Länder“ (75; vgl. 80) sollten sehr nachdenklich machen. Auch verschwindet hinter dem Wehklagen über die Auflösung von sieben kleineren Standorten die grundsätzlichere Problematik, dass Sozialabbau und Budgetkürzungen in zivilen Bereichen noch weiter vorangetrieben werden, denn die „Verbesserung militärischer Kernfähigkeiten“ (89), die Bereitstellung von Rüstungsgütern für „strategischen Verlegung“ und „weltweite Aufklärung“ (92) und all die Investitionen für „rasche Verfügbarkeit“ und „Durchhaltefähigkeit“ (90) sind nicht umsonst zu haben.

Die außenpolitische Grundsatzrede von Bundespräsident Johannes Rau, die zeitlich mit der Vorlage der VPR zusammenfiel, beklagt die mangelnde Unterstützung in der Bevölkerung für die militärischen Weichenstellungen. „Die neue Sicherheitspolitik und die völlig veränderte Rolle der Bundeswehr ist in den vergangenen Jahren im Bewusstsein unseres Volkes nicht annähernd so verarbeitet worden, wie das notwendig wäre.“ Das ist wenig verwunderlich, da die politischen Festlegungen von der rot-grünen Regierung in Windeseile getroffen und kritische Debatten gerade vermieden werden. „Nirgendwo ist eine Regierung so sehr auf Unterstützung und Einverständnis der Menschen angewiesen wie dann, wenn die Bundeswehr als Instrument der Außen- und Sicherheitspolitik eingesetzt wird. (…) Wir brauchen einen breiten Konsens“. Dies sollten Antikriegs- und Friedensbewegung und kritische Friedensforschung als Aufforderung begreifen und eine öffentliche Auseinandersetzung auch um die VPR vorantreiben. Die Sorge ist offensichtlich, dass die neue deutsche Militär- und Kriegspolitik von der Bevölkerung nicht mitgetragen wird – bedauerlicherweise aber regt sich bisher auch nicht allzuviel Widerstand: „Manchmal werden bahnbrechende Weichenstellungen übersehen: Mit seinem Satz, die Freiheit könne auch am Hindukusch verteidigt werden, hätte Verteidigungsminister Struck hier zu Lande eigentlich einen pazifistischen Aufschrei erzeugen müssen. Aber auch als Bundeswehr-Generalinspekteur Schneiderhan Präventivschläge mit deutscher Beteiligung ins Spiel brachte, blieb es ruhig“. Es ist tatsächlich höchste Zeit für entschiedenere politische Wortmeldungen gegen diese fortgesetzte Militarisierung der Politik.

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Tobias Pflüger ist Politikwissenschaftler und Vorstandsmitglied der Informationsstelle Militarisierung (IMI) e.V. (https://www.imi-online.de )

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